Kapitel 15
Mit Kohlen zu hantieren war Zeitverschwendung. Und Zeit war das, wovon er am wenigsten hatte. Deswegen ging Ross schnurstracks zur ersten Mauer. Davor brannte ein Feuer, und daneben thronte auf einem Stuhl aus krummen Stöcken Agitrick.
Ross verzog das Gesicht. Gewöhnliche Mobs bettelten vom ersten Tag an bei jeder Gelegenheit nach Essen, doch ihr Anführer mit dem eigenen Namen ließ sich nicht so weit herab. Ross musste aber irgendeinen Weg finden, an ihn heranzukommen, um eine Vereinbarung mit ihm auszuhandeln.
„Hi, Agitrick.“
„Fleisch, hast du mir mein Gold gebracht?“
„Ich bringe dir so viel Gold, wie du verlangst, und sogar mehr. Aber das dauert noch ein Weilchen.“
„Dann bekommst du kein lecker Essen. Wirst Hunger leiden wie das Fleisch, das im Steinkreis sitzt.“
„Ich habe eigenes Fleisch. Kann ich es auf eurem Feuer braten?“
„Ich glaube dir nicht. Zeig!“
Ross zog mehrere Stücke des Kadavers hervor und warf sie Agitrick eins nach dem anderen vor die Füße:
„Bitte sehr.“
„Du bist ein ulkiges Fleisch. Hast einen verrotteten Höhlenigamus gefunden, was?“
„Nein. Ich habe ihn erlegt.“
„Du Fleisch steckst voller Lügen!“
„Riech mal daran. Das ist kein fauler Kadaver.“
„Wie hast du einen Igamus getötet?“
„Schlaue Menschen wie ich haben ihre Geheimnisse.“
„Ihr seid nichts als wertloses Fleisch, ihr alle. Wir
sind die Nachkommen der ältesten Meister, der Magier der Ewigkeit, Herrscher über alle Elemente und Mächte. Sie vereinten ihren Samen mit dem innersten Wesen dieser Welt und dem der Welt, in der das Chaos herrscht. Wir stehen über allen anderen.“
„Ja, sei‘s drum, kein Problem. Von mir aus könnt ihr über dem Himmel stehen, nur lasst mich mein Fleisch auf eurem Feuer braten.“
„Du bist eine erbärmliche Kreatur. Aber immerhin nicht der Erbärmlichste von diesen ganzen Schwächlingen. Wir respektieren Stärke. Setz dich an mein Feuer und brate dir Fleisch. Aber meine Leute leiden Not: Zu viele Münder, zu wenig Nahrung, und keine
guten Sklaven für die Minen. Wir mögen Skrammfleisch, nicht das, was du da hast. Aber essen man kann es auch. Gib die Hälfte von deinem Fleisch meinen Dienern. Das ist fair.“
„Gut. Aber dann nehme ich ein paar Stöcke von dem Brennholzhaufen.“
„Wozu brauchst du Holz?“
„In der Mine ist es dunkel. Ohne Feuer ist es schwierig, das Gold zu sehen. Ich mache daraus Fackeln.“
„Wenig Wahrheit steckt in deinen Worten, aber das Angebot ist fair: Fleisch für die Diener, Holz und Feuer für dich. Mein Volk hat Sinn für Gerechtigkeit. So sei es!“
Ross teilte die Kadaverstücke auf und legte einen davon nah ans Feuer. Auf den anderen zeigte er mit den Worten: „Das ist für deine Diener.“
Agitrick erhob sich, ging zu dem Haufen, durchwühlte ihn, fand das saftigste Stück und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Nachdem er seinen Speer genommen, das Fleisch aufgespießt und über das Feuer gehalten hatte, brüllte er:
„He, ihr faulen, wertlosen Penner! Kommt her! Es gibt Fraß für euch!“
Im nächsten Moment wurde Ross, der seine Stücke am offenen Feuer röstete, fast von einer Welle der grobschlächtigen Wächter niedergetrampelt. Sie mussten alle bis auf den letzten Mann ihre Posten verlassen haben, um ein „Stück vom Braten“ zu ergattern.
Wobei von Braten im wortwörtlichen Sinne keine Rede sein konnte, denn sie schnappten sich das Fleisch, rissen es roh in Stücke und kauten es, wie es war, komplett mit Fell und Knochen, und schnurrten dann zufrieden wie die Katzen.
Und bezeichnenderweise rührte keiner Ross‘ Anteil an.
* * *
„Zweiundsiebzig Stücke – sogar ein paar mehr, als du wolltest. Die Qualität ist schlechter als von dem, das ich vorher gebraten hatte. Der Geschmack auch, aber man kann‘s essen. Tut mir leid, aber um es ordentlich zuzubereiten, hätte ich fast den ganzen Tag am Feuer sitzen müssen. Meine Kochkünste sind ziemlich dürftig.“
Tang steckte alle mitgebrachten Stücke schweigend in seine Tasche. Danach er sprach er:
„Ich danke dir. Möge Gott dich schützen.“
„Wie willst du die anderen füttern?“
„Ich stecke ihnen das Fleisch in die Jackentaschen und stelle eine Nachricht ins Forum. Ich schreibe auch gleich dazu, dass sie sich wegen weiterer Mahlzeiten an mich wenden sollen, und gebe an, wann es wieder welche gibt.“
„Bist du denn sicher, dass wir etwas zum Verteilen haben werden?“
„Wie könnte ich? – Es hängt alles von dir ab. Ich kann nur hoffen und beten.“
„Erzähle niemandem, dass das Fleisch von mir kommt.“
„Natürlich nicht.“
„Und wenn du da oben alles erledigt hast, komm hierher zurück und bewach‘ Babe.“
„Okay. Ich werde dir helfen.“
Nach etwa fünfzehn Minuten war der Norder zurück. Er setzte sich auf seinen Lieblingsstein, holte ein Stück Fleisch hervor und biss hinein:
„Es ist angebrannt.“
„Ich hab es am offenen Feuer geröstet.“
„Das macht nichts. Du hast Recht: Man kann es essen, ohne einen Brechreiz zu kriegen. Das ist die Hauptsache.“
„Bleibst du hier?“
„Und wohin gehst du?“
„In die Mine.“
„Allein? – Ich dachte, ohne Danger Babe hast du es da drin ziemlich schwer?“
„Meine Stufe ist nicht hoch. Es macht mir nichts aus, dass ich XP verliere, wenn sie mich töten.“
„Nun, es ist dein Spiel. Ich bleibe hier sitzen, und wenn irgendwelche Kreaturen sich das Mädchen holen wollen, sterbe ich als Erster.“
* * *
Ross ging nicht tief hinein. Er setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, schloss die Augen und rief sich an alle Einzelheiten des Prozesses ins Gedächtnis.
Es war höchste Zeit, sich ernsthaft der Verzauberung zu widmen.
Was wusste er? – Alles war nackte Theorie: Es gab im Wesentlichen zwei Arten der Verzauberung: Für die erste musste man viel Mana und Vitalität opfern, um den Gegenstand mit einer zufälligen Eigenschaft von einer ellenlangen Liste auszustatten. So hatte er den ganzen Tag lang gearbeitet und den Verzauberungswert sogar auf sieben gesteigert.
Der Hauptvorteil dieser Methode war, dass der Stat relativ schnell wuchs, vorausgesetzt natürlich, man hatte ausreichend Mana und Vitalität zur Verfügung. Dafür hatte sie zwei Nachteile: Erstens konnte der Item nur einfache Effekte auf niederer Stufe annehmen. Belegte man ihn beispielsweise mit einem Bonus auf Intelligenz, kam man im besten Fall auf drei zusätzliche Einheiten. Zumindest
solange, wie die Verzauberung auf niedriger Stufe war. Der Wert wuchs mit steigender Skill-Stufe.
Der zweite – viel unangenehmere – Nachteil war, dass man die zur Stufe der Verzauberung und des Gegenstandes passende Liste selbst definieren musste. Auf einen Effekt davon fiel dann die Wahl, wie es der Zufall wollte. Die Liste umfasste selbst bei hochentwickelten Verzauberern Hunderte von Effekten – die meisten davon völliger Schrott oder nicht weit davon entfernt.
Die erste Methode war also eigentlich wie Lotto spielen mit Billigpreisen. Andererseits musste man nicht viel investieren.
Für die zweite Methode brauchte man eine ganz besondere Zutat: einen Seelenkristall. An einen solchen kamen nur Vertreter weniger Rassen sowie Mischlinge, die einen besonderen Zauber der Schulen der Finsternis oder des Todes beherrschten. Außerdem konnten Magier diese Fähigkeit besitzen, die sich den Mächten des Bösen oder des Dunklen Hasses verschrieben hatten. Während der betreffende Spieler in den ersten beiden Fällen nur das Problem hatte, dass er fast keine andere Skill mehr erlernen konnte, wegen Konflikten zwischen den Schulen, so verfolgte ihn im letzten Fall sein schlechter Ruf, sodass es sein konnte, dass sein Charakter, wenn eine anständige Stadt betreten wollte, von den Wachen in ein feuchtes Verlies geschleppt oder einfach an Ort und Stelle kaltgemacht wurde.
Die Chance, den Seelenkristall eines Mobs zu erbeuten, hing davon ab, auf welchem Level die nötigen Fähigkeiten waren (und sie zu entwickeln war eine wahre Sisyphusarbeit), außerdem von der Intelligenz und eine Reihe anderer Attribute. Man musste etwa ein halbes Jahr daran arbeiten, wenn man wenigstens eine 20-
prozentige Chance haben wollte. Darüber hinaus war es allein schier ein Ding der Unmöglichkeit. Daher endeten die Kristalljäger in der Regel in seriösen Clans, wo sie Tag für Tag in Trupps arbeiteten, um die Verzauberer des Clans mit Kristallen zu versorgen.
Falls überhaupt unter anderen Bedingungen Kristalle erbeutet wurden, dann höchstens eine Handvoll. Eine andere Quelle für Kristalle niedriger Stufen waren Noob-Nekromanten und ähnliches Volk. Auch wenn die Chance, dass Noobs intakte Kristalle erbeuteten, verschwindend klein war, so kam es doch ab und zu vor, dass ihnen einer in die Hände fiel.
Das Level des Kristalls war ausschlaggebend. Es war umso höher, je höher das Level des Mobs war, den man dafür getötet hatte. Mobs auf gehobenem Level oder Elite-Mobs warfen noch stärkere Kristalle ab als alle anderen.
Die allerbesten aber lieferten starke Bosse. Daher zogen Raidpartys gleich mit mehreren Nekromanten los – den besten Kristalljägern – um Bosse zu farmen und dadurch die Chance auf Kristalle zu erhöhen.
Für die zweite Art der Verzauberung brauchte man einen Gegenstand zum Verzaubern, einen Seelenkristall und eine besondere Fähigkeit, die man jedoch leicht in jeder Zweigstelle der Magiergilde erwerben konnte. Sie verbrauchte wenig Mana, und ihre Cooldown-Zeit betrug auf der ersten Stufe gerade mal eine Minute.
Jedes Mal, wenn ein Mob starb, entfiel auf seinen Kristall ein zufälliger Mix von Attributen. Und eines davon – mit etwas Glück auch mehrere – übertrug er auf den Gegenstand. Dabei konnten die
Werte der Attribute enorm variieren. Das hieß, der Intelligenzwert eines Items konnte um einen, aber auch um fünfzig Punkte anwachsen, je nachdem, wie stark die Fähigkeiten des Verzauberers waren – und was der Zufall wollte. Ross wählte eines der vorhandenen Attribute, aktivierte den Zauber und betete still. Beziehungsweise beschwor sein Glück.
Es war allgemeiner Konsens, dass Verzauberer wesentlich mehr Glück brauchten als alle anderen. Das war offensichtlich. Klappte die Verzauberung nicht, wurde der Gegenstand irreparabel beschädigt oder zerbrach in seine Einzelteile. Misserfolge waren bei dieser Methode viel häufiger als bei der ersten, und niemand stand darauf, wertvolle Items zu verlieren.
Die Chance, den Maximalbonus zu erhalten, stieg parallel zur Stufe des Items, den man verzaubern wollte. Seine Stufe konnte sich übrigens während der Verzauberung auch erhöhen. Oder seine Attribute konnten sich verändern, einschließlich derer, die ihm eingesetzte verzauberte Steine verliehen.
Damit war nun auch schon zusammengefasst, was Ross zur Theorie der Verzauberung wusste. Sich in dem Labyrinth komplexer Formeln zurechtzufinden, die manche Spieler, Gott weiß warum, ableiteten, versuchte er erst gar nicht.
Noch am Tag hatte er viele Silber- und Tantalerzstücke zu Streifen verarbeitet und daraus etwa hundert Ringe hergestellt. Nur acht von ihnen hatten ein gehobenes Level, und mit ihnen wollte er anfangen.
„Seelenkristall. Gefangene Kreatur: Grauer Mooskreucher.
Stufe der gefangenen Kreatur: 148. Für genauere Angaben zu den Attributen siehe erweitertes Menü. Besonderheiten: Verbesserte Kreatur. Eigenschaften: Geschicklichkeit, Ausdauer, Feuerresistenz, Wahrscheinlichkeit kritischer Treffer, beschleunigte Regeneration der Vitalität.“
Soweit Ross verstand, war es ein ganz gewöhnlicher Kristall. Mehr wert waren die mit sekundären Hauptattributen. Und die mit Zusatzattributen konnten geradezu kosmische Preise erzielen, wenn dabei auch ihre Stats nützlich waren.
Ross legte den Kristall in seine geöffnete linke Hand, den Ring in die rechte. Nun brauchte er nur noch der Befehl „Verzaubern“ zu geben.
„Achtung! Willst du den Silberring eines Bogenschützen verzaubern? Ja/Nein.“
„Ja.“
„Wähle eine der Eigenschaften des Seelenkristalls. Achtung! Der Gegenstand nimmt garantiert einen Effekt an. Wenn du zwei oder mehr Eigenschaften wählst, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs.“
Ross entschied sich für Ausdauer. Er bestätigte seine Wahl, und auch noch einmal, dass er dem Ring den Verzauberungseffekt tatsächlich verleihen wollte.
„Erhaltener Gegenstand: Verzauberter Silberring eines Bogenschützen
. Item-Klasse: gehoben. Zusatzattribute: +1
Treffsicherheit, +1 Geschicklichkeit, +1% Schnelligkeit beim Bogenschießen. Wirkung des Zaubers: +5 Ausdauer. Voraussetzungen: Stufe 19. Gewicht: 0,01 kg. Festigkeit: 90/90.“
Sein erster Versuch war ein Erfolg gewesen. Der Ring hatte all seine Eigenschaften behalten, außer dass er nun eine etwas höhere Stufe erforderte.
Ross verprasste zügig seine Mana, um immer neue Ringe zu schaffen. Wie er so vertieft in seine Beschäftigung dasaß, ertappte ihn ein schwarzer Mooskreucher und begann einen Kampf mit seinem Pet. Am Ende zerlegte Ross den Mobkadaver und verstaute ihn in seiner Tasche, für den nächsten Tag.
Er brauchte einen Haufen Fleisch, denn er konnte Tang jetzt nicht mehr absagen.
Was für ein eigenartiger Typ. Es war schwer, mit ihm zu streiten – und das wollte Ross auch gar nicht.
Auf den nächsten Ring versuchte er gleich zwei Effekte auf einmal zu übertragen, doch daraus wurde nichts – er zerbrach. Nun, mit seinen mageren sieben Einheiten Verzauberung brauchte er sich nicht zu wundern. Die Ringe bestanden außerdem aus den billigen Materialien, lediglich ihre Klasse war gehoben. Daher die kleine Erfolgschance.
Er versuchte es mit Tantal.
„Erhaltener Gegenstand: Verzauberter Silberring eines Weisen
. Eigenschaften: Verschmelzung. Item-Klasse: gut.
Zusatzattribute: +4 Intelligenz, +1 Kraft der Gedanken, +1 Einheit pro Sekunde Regeneration der magischen Energie. Wirkung des Zaubers: +7 Intelligenz. Voraussetzungen: Stufe 28. Gewicht: 0,01 kg. Festigkeit: 120/120.“
Ross lächelte zufrieden. Die Qualität des Rings war besser geworden, und anstatt der beiden ursprünglichen primären Attributeinheiten Intelligenz hatte er nun eine Einheit Kraft der Gedanken und eine bessere Manaregeneration. Außerdem freute Ross sich darüber, dass ein stärkerer Effekt dabei herausgekommen war: nicht fünf, wie beim ersten Versuch, sondern gleich sieben.
Nach seiner vorsichtigen Schätzung würde ihm so ein Ring hundertfünfzig in Gold bringen. Es war kein Schatz, aber unter den gegebene Umständen doch ein sehr ordentlicher Item.
Damit hörte das Glück allerdings auf, sich von seiner guten Seite zu zeigen. Danach gelangen ihm nur sechs verzauberte Ringe, keiner auch nur annähernd so gut wie sein zweiter.
Er durchstreifte die Mine, wobei er aufpasste, sich nicht zu weit vom Eingang zu entfernen, baute Ressourcen ab und tötete Mobs, um Kristalle und Loot zu bergen. Als er müde war, setzte er sich in einem sicheren Winkel der Höhle nieder und postierte sein Pet als Wache. Als er ins Forum ging, fand er heraus, dass Ziffer in der Zwischenzeit nicht untätig herumgesessen hatte. Stattdessen hatte er eifrig ihren gemeinsamen Loot verkauft, und nun beschuldigte er Ross sogar, selbst in der Sklaverei noch hinter den Frauen her zu sein, anstatt seinen Teil der Arbeit zu leisten. Er antwortete seinem Freund kurz, klärte ihn über die lokalen Realitäten auf und überflog die Nachrichten, wobei er ab und an in
das Spiel zurückging. – Sein Pet war zu schwach, um auch nur ein einziges angreifendes Monster lange in Schach zu halten.
Rallia war nach wie vor das Hauptgesprächsthema. Die Top-Clans prahlten um die Wette mit neuen Mobs, die sie in der Armee der Invasoren entdeckt hatten, und mit dem neuartigen Loot, den sie abwarfen, und mit den enormen Verlusten, die sie bei den Gefechten mit Einheiten dieser Kreaturen erlitten. Alle Versuche, den Feind aufzuhalten, waren gescheitert: Die Provinz war nun fast vollständig besetzt, und immer noch funktionierten dort weder Chats noch Teleporter.
Er hätte sich das Lesen also sparen können. Es gab nichts Neues. Nach diesem produktiven Tag konnte er sich nun guten Gewissens schlafen legen.
Zweimal musste er seine Ruhephase unterbrechen, um seinem Pet zu helfen, Angriffe abzuwehren. Glücklicherweise sah das Spiel für solche Fälle einen Wecker mit vielen Einstellungsmöglichkeiten vor, die Ross jetzt zur Verfügung standen. Wenn ein Pet oder ein Mitglied der Gruppe einen Treffer abbekam, „schrillte“ er sofort los.
* * *
Das Pet gähnte herzhaft, wobei es zwei blitzweiße Reihen messerscharfer Reißzähne zeigte, und legte sich auf den Höhlenboden, ohne dem Fremden, der aus dem Nichts auftauchte, die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Aber war er wirklich ein Fremder? – Nein, Ross hatte ihn schon einmal gesehen und sogar mit ihm kurz gesprochen.
Andererseits hatte der Typ sich nie vorgestellt, also waren sie doch keine Bekannten.
Äußerlich hatte er sich nicht verändert. Er war von Kopf bis Fuß in einen silberfarbenen Mantel gehüllt, der nur sein ein ungewöhnliches Gesicht preisgab: Eine Hälfte war wie aus rosa Stein gemeißelt und machte einen majestätischen, sogar überheblichen Eindruck, wie das Antlitz der Sphinx. Die andere hatte einen distanzierten, strengen bis eisigen Ausdruck – keine Spur von der Hitze ägyptischen Wüstensands. Und bei genauerer Betrachtung konnte man erkennen, dass ein Netz haarfeiner Linien sie überzog und in winzige, gleichgroße Zellen aufteilte.
Normalerweise nahmen die Gedanken im Traum, sagen wir mal, eigenartige und erratische Wege. Doch in Ross‘ Kopf herrschte absolute Ordnung. Er erinnerte sich genau an das letzte Mal. Und dieses Mal vergeudete er keine Zeit mit nutzlosen Fragen oder Grübeleien darüber, was das Ganze wohl zu bedeuten hatte, sondern packte den Stier bei den Hörnern:
„Ist das ein Traum oder hast du wieder wertvolle Ratschläge für mich?“
„Ich erteile keine Ratschläge. Ich mache Geschenke. Das weißt du doch.“
Ross verstand, dass er wieder Informationen erhalten würde. Nun gut, wenn das so war, konnte er auch gleich versuchen, noch mehr herauszufinden. Im Forum gab es übrigens keinerlei Hinweise
auf derartige Besucher. Umso faszinierender war die Sache.
„Wer bist du?“
„Eine Zahlenreihe aus den Tiefen dessen, was ihr die Zweite Welt
nennt.“
„Genau wie ich.“
„Genau wie alle hier.“
„Geht‘s etwas genauer? Was für eine Zahlenreihe?“
„Jede weitere Information zu der gestellten Frage würde als grobe Einmischung in deinen Spielprozess gewertet und wäre daher inakzeptabel.
„Und das jetzt gerade, ist das etwa keine Einmischung?“
„Doch. Aber das ist das, was man ‚das kleinere Übel‘ nennt. Du bekommst lediglich, was du bekommen musst. Und was du mit den Informationen tust, ist deine Entscheidung. Entscheidungsfreiheit ist auch ein wichtiger Aspekt.“
„Hast du vielleicht wenigstens einen Namen?“
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht keine Notwendigkeit für einen Namen. Du bist stärker geworden. Und versetzt die Welt weiterhin in Aufruhr. Dieser Faktor war durchaus vorhersagbar.“
„Ich verstehe dich immer noch nicht.“
„Es ist nicht nötig, dass du verstehst. Alles, was du tun musst, ist Geschenke annehmen.“
„Na, dann pack schon aus.“
„Es werden Worte sein.“
„Und?“
„Die Zweite Welt
hat nichts übrig für die Schwachen. Werde stärker.“
„Bin ich etwa schwach?“
„Ja, das bist du. Du nutzt deine Möglichkeiten nicht. Deine Existenz in diesem Spiel ist gleichbedeutend mit Stagnation.“
„Aber was ist mit meinen vielen Erfolgen? – Ich bin zum Helden geworden, habe eine Tonne von Attributen. Ich habe die Verzauberung aktiviert und entwickle sie, so schnell ich kann...“
„Das ist nicht ausreichend. Du nutzt dein Potenzial nicht. Du könnest viel stärker sein. Denke darüber nach.“
„Na schön, ich denke darüber nach.“
„Das ist noch nicht alles. Die Zweite Welt mag keine Einzelgänger. Du brauchst ein Team. In der Hinsicht bist du auf dem richtigen Weg, du bist nicht mehr allein. Bleibe auf dem richtigen Kurs und vermeide Fehler. Du hast bisher keine kritischen Fehler gemacht: Die, die du ausgesucht hast, sind effektiv. Du hast aus den
verfügbaren Optionen das bestmögliche Team zusammengestellt. Aber ich kann mich nicht um jedes neue Mitglied deines Teams kümmern. Du musst deine Entscheidung jedes Mal gut abwägen. Und denke daran: Von jetzt an wirst du oft in Situationen geraten, in denen du die Aufgabe nicht allein bewältigen kannst. Kümmere dich um dein Team. Mache es stärker und resistenter. Und ich für meinen Teil werde tun, was ich kann, um es zu schützen.“
„Wovor?“
„Nicht von allen Gefahren der Zweiten Welt.
Das wäre eine Einmischung in deinen Spielprozess. Dort draußen, in der Welt, die sie die Dritte
nennen, hast du mit deinem Handeln Mächte vor den Kopf gestoßen, die die zu vielem bereit sind, um ihre Interessen zu verteidigen. Sie haben Möglichkeiten, die so weitreichend sind, dass sich kein lebendendes Geschöpf wirklich sicher fühlen kann.“
„Und wie willst du sie trotzdem schützen?“
„Sie haben eine Schwachstelle. Sie sind zu abhängig von Information. Information ist eine Variable, deren Wert sich ständig ändert. Und ich bin derjenige, der Änderungen vornehmen kann.“
„Ich verstehe kein Wort...“
„Es ist nicht nötig, dass du verstehst. Du hast mein Geschenk empfangen. Jetzt kannst du ruhig schlafen. In den normalen Schlaf finden.“
„Ist das hier also kein normaler Schlaf?“
„Nein. Es ist eine Unterdrückung der Magie der Schule der Vernunft.“
„Wieder mal mischt sich ein Unbekannter in meinen Spielprozess ein...“
„So ist es. Das war unvermeidlich. – Ich werde jetzt gehen, und dieser Ort wird in 150 Sekunden wieder freigegeben. Der kurzfristige Migrationsalgorithmus der Bewohner dieser Höhle wurde geändert. Bis zum Morgen wird also kein Monster in deiner Nähe auftauchen. Schlafe jetzt ein.“