Kapitel 16
Zum dritten Mal vor Sonnenaufgang „rappelte“ der Wecker und ließ Ross hochfahren. Er war überrascht. Hatte der Fremde ihm nicht versprochen, dass alles ruhig bleiben würde?
Er schnappte sich seinen Stab und blickte alarmiert um sich. Das Pet lag immer noch an derselben Stelle wie zuvor, Mobs waren nicht in Sicht.
Was hatte dann den Alarm ausgelöst?
Ross stieß einen Fluch aus und stürzte zum Ausgang. Tangs Icon im Gruppenchatmenü blinkte rot – ein Zeichen dafür, dass der Spieler unter Beschuss stand. Über die Hälfte seiner Gesundheit hatte er bereits verloren. Auch Babes Lebensskala war nicht mehr voll. Sie wurden also beide attackiert.
Er befahl dem Pet, am Ausgang sitzen zu bleiben und versuchte im Rennen zu begreifen, was vor sich ging. Tang stand angespannt vor Babes erstarrtem Körper. Der Hüne versuchte, sie mit seinem eigenen Körper gegen eine Gefahr abzuschirmen, die offensichtlich von oben kam. Und als Ross den Kopf hob, entdeckte er eine kleine Gestalt, die mit einem krummen Bogen in der Hand am Rande der Klippe stand.
HedTeSdjo! Der miese kleine Bastard, der an der Stadtmauer
des zerstörten Arbenna auf Ross geschossen hatte! Wo hatte er den Bogen her, und was wollte er?
Der Widerling feuerte genau in dem Moment den nächsten Pfeil ab, als Ross den Arm ausstreckte und dem Norder einen Schild schickte. Es fehlte nur der Bruchteil einer Sekunde, doch es war zu spät: Tangs Icon blinkte ein letztes Mal rot auf – und wurde grau. Der Riese sackte in sich zusammen und kippte zur Seite um.
Ross hatte nur einen Schild, und noch dazu einen völlig noob‘schen, der aber trotzdem vielleicht ausgereicht hätte, um einen Pfeil abzufangen. Und er wirkte schnell. Er schützte Babe damit und warf dann Sleep auf den Bogenschützen. Sein Skill-Level war zu niedrig und die Entfernung groß, doch die Kombination aus fehlender Ausrüstung des Ziels und Ross‘ riesigem Intelligenzwert war trotzdem eine nahezu hundertprozentige Treffergarantie.
Im nächsten Moment erstarrte HedTeSdjo zur Statue, ohne den Bogen ganz gespannt zu haben.
Was sollte er jetzt tun? – Zu HedTeSdjo hinaufzurennen würde bedeuten, die ganze Distanz vom Boden bis zum felsigen Gipfel des Kraters in Serpentinen zu nehmen, und während Ross noch auf den unteren Windungen wäre, würde das Schwein die schutzlose Babe schon töten. Konnte er sein Pet schicken, damit es sich um das miese Schwein kümmerte? – Nein, im Zusammenhang mit seiner Person gab es ohnehin schon eine Menge Merkwürdiges zu bemerken, da fehlte gerade noch, dass jemand im Forum schrieb, dass das Fleisch für die Gefangenen von einem seltsamen Nekromanten herbeigeschafft wurde. Dann würde selbst beim allerletzten Idioten der Groschen fallen. Außerdem würde das Pet zu lange brauchen.
Babe hätte sich wirklich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um offline zu gehen!
Ross heilte das Mädchen zweimal, bevor der Bogenschütze wieder zu sich kam und wieder einen Pfeil auf sie schoss. Als er ihren Lebenstreifen dramatisch absacken sah, war ihm klar, warum Tang sie als „menschliches Schild“ gedeckt hatte: Flaitinge waren solche zarte Pflänzchen, dass sie ohne Ausrüstung selbst Noob-Ratten fürchten mussten.
Er heilte sie ein weiteres Mal, deckte sie mit seinem Körper und starrte hasserfüllt zu dem Bogenschützen hinauf. Der schrie, euphorisch darüber, dass seine Taten ungestraft blieben.
„Wen haben wir denn da? – Sieh an, sieh an, genau wegen dir bin ich hier! Also, Noob, mach dich schon mal darauf gefasst, dass ich dich stundenlang
corpse
campe
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, und dein Mädel hier auch! Ich specke euch beide bis auf zehn Einheiten ab!“
Ross befürchtete, dass Babe von einem Pfeil getroffen würde, wenn er sich wegduckte. Deshalb versuchte er, den nächsten mit den Händen zu fangen, doch das klappte nicht. Seine Schulter explodierte vor Schmerz. Noch während er das „Geschenk“ aus der Wunde zog, behandelte er sich mit einem Heal.
„Einfacher Pfeil ohne Pfeilspitze, mit dünnen Rindenplättchen befiedert.“
Der Bastard hatte die armseligen Pfeile tatsächlich selbst gebastelt! Und um sie abzuschießen, benutzte er einen ebensolchen Bogen – zum Totlachen, das Ganze!
„Hey, versuch doch gleich, mich totzuspucken! Damit wärst du genauso erfolgreich!“, spottete Ross.
„Lach ruhig, Arschloch! Wenn ich keine Pfeile mehr habe, bekommt ihr einen Haufen Steine, wart‘s ab!“
„Wow, du bist ein echter Menschenfeind...“
„Ich hasse Bastarde, die anderen ihre Items stehlen! Und Schlampen hasse ich auch! Ha! Nimm das!“
Wieder ein Heal. HedTeSdjos Treffer machten Ross nicht das Geringste aus. Mit seiner Mana-Reserve konnte er die kleinen Schäden leicht wegstecken. Solange der Bastard nicht ernsthaft auf die Idee kam, einen Erdrutsch zu verursachen, war alles gut. Über ihren Köpfen hingen unzählige Steine, und einige davon sahen aus, als fehlte nur ein Windhauch, um sie ins Rollen zu bringen. Er brauchte nur irgendetwas Schweres zu werfen, und sie würden als Lawine abgehen.
„Mein letzter Pfeil!“, krächzte HedTeSdjo weiter. „Und dann begrabe ich euch da unten!“
Oho, anscheinend hatte er das mit der Steinlawine ernst gemeint.
HedTeSdjo zielte lange und sorgfältig. Immerhin war es sein letzter Pfeil. Er ging so auf in diesem Moment, dass er die hochgewachsene, düstere Gestalt, die hinter seinem Rücken emporwuchs, gar nicht bemerkte. Der Norder gab dem Fiesling einen gesalzenen Tritt in den Allerwertesten, und Ross winkte dem Bastard
von ganzem Herzen grinsend zu, während er fiel – so als verabschiede er einen ausfahrenden Nonstop-Express zur Hölle, in dem seine verhasste Schwiegermutter saß. HedTeSdjos Schrei brach jäh ab, und sein Körper erstarrte auf den Felsen. Zu schade, dass es nicht real war – sonst hätte Ross sich den Bogen holen können.
HedTeSdjos Nick war allerdings rot, weil er Tang getötet hatte, ohne dass der Gegenwehr geleistet hatte, weshalb es vielleicht doch funktionieren würde.
Und das tat es. Ross nahm nicht nur den Bogen, sondern auch sechs Stück Fleisch an sich, das ihm wohl bekannt war, weil er es eigenhändig gestern am späten Abend gebraten hatte.
„Es tut mir leid, Tang, ich war ein ganz kleines Bisschen zu langsam“, sagte er zu dem näherkommenden Norder.
„Gott sei Dank, dass der Tod hier nicht real ist. – Ich sehe, dass du dir seinen Bogen genommen hast. Das ist gut.“
„Aber was bringt und das? Es ist einfach nur ein Stock mit Schnur. Sieht aus, als hätte er seine eigenen Haare dafür verwendet. Der hat sich ganz schnell einen neuen gemacht. Holz gibt es hier ja genug. Aber woher hat er das Fleisch, das ich dir gegeben hatte? – Ganze sechs Stücke.“
Der Norder runzelte die Stirn:
„Das ist es also...“
„Was meinst du?“
„Ich habe getan, was ich versprochen hatte, habe das Fleisch auf die Taschen verteilt und es im Forum bekanntgegeben. Dieser Bogenschütze muss Diebesfähigkeiten haben. Wobei man an sich bestimmt nicht viele Kenntnisse braucht, um aus solchen Jacken etwas zu stehlen. Was für ein mieser Bastard, der auch noch andere bestiehlt... Es ist schlecht, weil ich es im Forum versprochen hatte...“
„Ich habe noch mehr Fleisch. Das braten wir jetzt. Aber...“
Als er sah, wie der Körper des Bogenschützen „dahinschmolz“, legte Ross plötzlich einen Spurt nach oben hin und schrie zurück:
„Schau nach Babe!“
Er kam noch rechtzeitig. Als HedTeSdjo den ungebetenen Gast auf sich zurennen sah, blieb er keine Sekunde länger am Respawn und eilte in Richtung der Mauer. Anscheinend hoffte er, bei den Mobs Schutz zu finden. Doch Ross fesselte die Füße des Läufers mit Erdwurzeln und machte ihm mit zwei Chaos-Pfeilen den Garaus. Dass wiedergeborene Charaktere mit nur zwanzig Prozent ihrer Gesundheit wiederauferstehen, war wirklich äußerst praktisch. So hatte sich der Miesling nicht lange quälen müssen.
„Die heraufbeschworene Kreatur ist tot.“
Darüber brauchte Ross sich nicht zu wundern. Er hatte sich weit von seinem Pet entfernt. Und generell durfte er es nie lange unbeaufsichtigt lassen.
Ross setzte sich auf einen Stein und begann, eine einfache Melodie zu pfeifen. Nach einer Minute materialisierte sich der
Körper des Mistkerls im Steinkreis. In der Hoffnung zu entkommen, verfiel er augenblicklich in atemberaubenden Galopp. – Die Idee war vernünftig, denn wiedergeborene Charaktere waren für einige Sekunden immun gegen alle Effekte und Schäden.
Doch er entkam nicht.
Ross‘ Karma verschlechterte sich nicht, weil er HedTeSdjo killte – der Nick seines Gegners war ja rot. Das allerdings blieb nicht lange so, denn jedes Mal, wenn er starb, wurde er wieder ein wenig heller. Viele Male zu sterben war der schnellste Weg, um das ursprüngliche Weiß wiederherzustellen. Auf dem zweiten Platz rangierte ein viel langwierigeres Verfahren – völlig schmerzlos und ohne Erfahrungsverlust: Man musste Mobs über dem eigenen Level töten. Je größer der Unterschied war, desto schneller „bleichte der Nick aus“.
In dieser Mine würde Ross‘ Nick ruckzuck wieder weiß werden. Und was das Karma betraf, so gab es viele Spieler, die Hunderte von Player Kills auf dem Gewissen hatten und dennoch keine besonderen Schwierigkeiten erfuhren.
Natürlich nur, solange der Nick sich nicht rot färbte. Danach hatte man freilich kein Glück mehr und begann, seine Items haufenweise zu verlieren, wenn man starb.
Die Sonne stand schon längst am Himmel, als Babe aus dem Krater herausgelaufen kam. Der Norder folgte ihr gemessenen Schrittes.
„Ross! Ich weiß Bescheid. Was machst du?!“
„Ich flehe dich an, bitte, es ist genug! Ich werde nichts mehr-“, kam es von der anderen Seite.
HedTeSdjo lief nicht mehr davon, er hatte jetzt eine neue Taktik: Er versuchte, seinem brutalen Mörder ins Gewissen zu reden. Leider hatte er jeglichen möglichen, noch so winzigen Vertrauensbonus verspielt. Ross brachte ihn mit notorischen Chaos-Pfeilen zum Schweigen.
„Hi, Babe. Was war gestern bei dir los?“
„Ross, dein Nick ist ja rot?!“
„Ehrlich? – Das ist eine gute Nachricht.“
„Daran ist nichts Gutes!“
„Denk nicht schlecht von mir. Er ist nur dank dem üblen Burschen hier verfärbt.“
HedTeSdjo ließ von weiteren Überredungsversuchen ab und floh stattdessen sofort in Richtung Mauer, schaffte aber nicht mal ein Drittel des Weges. Er stieß noch einen derben Fluch aus – und starb wieder.
„Warum hat er uns überhaupt angegriffen?“, fragte das Mädchen.
„Was in den Hirnwindungen von Narren von sich geht, weiß nur Gott“, sprach Tang. Er folgte Babe langsam.
„Er schießt gerne auf Menschen“, fügte Ross hinzu. „Als ich das erste Mal das Vergnügen mit ihm hatte, bekam ich einen Pfeil ab, bevor ich ihn überhaupt sehen konnte.“
„Wie oft hast du ihn schon umgebracht?“, fragte Babe.
„Ich hab nicht gezählt. Er war auf Stufe 88, wenn ich mich nicht irre, und jetzt ist er auf 71. Ich will ihn auf zehn herunterbringen. Weiter geht es nicht.“
„Drecksack! Du wirst mich noch kennenlernen! Ich werde mit dir so--“
Was genau er mit Ross plante, konnte der Bogenschütze aufgrund seines plötzlichen Ablebens nicht mehr sagen.
„Du wirst den ganzen Tag damit verschwenden, ihn umzubringen“, sagte Tang grimmig.
„Das wird mir bestimmt nicht langweilig.“
„Die Leute brauchen Fleisch, und nur du weißt, wie man es zubereitet. Lass ihn. Babe und ich werden uns um ihn kümmern.“
„Wie denn?“
„Sie hält ihn mit ihren Control-Skills fest, und ich werde ihn schlagen.“
„Du hast keine Waffe.“
„Gib mir deinen Stab, wenn er dir nicht zu schade dafür ist. Damit kann ich physischen Schaden verursachen. Er wird sich gut als Schlagstock eignen.“
Ross streckte den zum X-ten Male wiederauferstandenen HedTeSdjo nieder und schickte dem Norder eine Einladung zum Handel: Auch wenn die Zweite Welt
real aussah, musste man gewisse Formalitäten beachten, um einen Gegenstand zu übergeben. Man konnte ihn dem anderen nicht einfach in die Hand drücken.
„Zeig mir, wie du das machst.“
Tang wandte sich an Babe:
„Beherrschst du irgendeinen Root,
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?“
„Na klar. Sogar auf Stufe 18.“
„Ausgezeichnet, Mädchen, dann stopp‘ ihn. Rennt ja wie eine Gazelle, der Kerl.“
HedTeSdjo, der schon wieder am Davonlaufen war, blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und konnte keinen Fuß mehr heben. Der Norder machte sich ohne Eile auf den Weg zu ihm, ging in die Hocke, schlug ihm erst auf die linke, dann auf die rechte Kniescheibe und brach ihm so beide Beine. Sein Opfer fiel auf den Rücken und jaulte auf:
„Ihr seid ja total gestört! Sadisten! Ungeheuer! Nazischweine! Drecks-“
„Fertig“, brummte Tang.
Ross hatte nun keine Zweifel mehr daran, dass HedTeSdjo „in guten Händen“ war und alle Fürsorge bekommen würde, die er verdiente. So konnte er seine Zeit sinnvoller am Lagerfeuer verbringen, wo er mit Agitrick wieder einen Deal nach demselben Prinzip wie zuvor aushandelte: Der „Neandertaler“ ließ ihn ans Feuer und bekam dafür die Hälfte des Fleisches.
* * *
„Gerade kam ein Anruf aus einem russischen Rechenzentrum. Die haben auch Probleme mit der KI.“
„Welche?“
„Das wissen sie selbst noch nicht, aber die Symptome sehen ziemlich ähnlich aus. Genau das Gleiche wie bei uns. Heute und damals, beim ersten Mal, als es bei denen gebrannt hat.“
„Sie haben die KI verloren?“
„Ja. Die Hardware ist intakt, funktioniert aber genauso, als hätten sie ein Elektroschrott-Sammelsurium da stehen.“
„Jetzt hat es sie also auch erwischt...“
„Nicht nur sie. Die Mexikaner haben auch einen Vorfall gemeldet, vor ein paar Tagen.“
„Da war aber nicht alles so eindeutig.“
„Sie halten sich ziemlich bedeckt, aber ich wette hundert zu eins, dass die Symptome die gleichen sind.“
„Sieht nach einer Epidemie aus – zwei an einem Tag.“
„Insgesamt sind es aber nur vier Fälle: zwei bei uns, einer in Mexiko – und jetzt die Russen. Ich würde nicht sagen, dass das eine Epidemie ist.“
„Was ist es dann, deiner Meinung nach? – Wir verlieren KIs, und kein Mensch versteht, was die Ursache ist. Und es wird immer schlimmer.“
„Bennelly hat eine Erklärung-“
„Ich sag dir, was Bennelly hat: totale Verblödung, noch dazu unheilbar. Ich würde ihm eher glauben, wenn er mir erzählt hätte, die KIs seien von Marsmenschen gekidnappt worden, um als Sexmaschinen zu arbeiten. Schick eine Gruppe von Testern zu den Russen rüber, und triff die entsprechenden Vorkehrungen, damit alles reibungslos über die Bühne geht. Immerhin haben wir ja einen Service-Vertrag mit denen. Wer weiß, vielleicht kommt ja etwas Licht ins Dunkel.“