Kapitel 17
Babe und Tang saßen auf Steinen des Respawn-Kreises und blickten Ross, der auf sie zukam, schuldbewusst entgegen.
Ross seufzte: „Lasst mich raten: Er ist euch abgehauen.“
„Es war mein Fehler“, antwortete der Norder. „Der Root hat nicht gegriffen, und ich konnte ihn nicht aufhalten. Der Mistkerl hat es bis zum Feuer geschafft. Mein Charakter ist so lahm wie ein plattfüßiges Chamäleon.“
„Schon gut, der statten roten Farbe deines Nicks nach zu urteilen, habt ihr ihm vorher ordentlich eingeheizt.“
„Er ist runter auf Stufe 67. Ich weiß, sich am Leid anderer zu erfreuen, ist eine Sünde – aber ich bin trotzdem froh.“
„Merkwürdig, dass ich ihn nicht gesehen habe. Ich saß direkt am Feuer bei der ersten Wand.“
„Er hat uns ausgetrickst, ist in die Gegenrichtung gerannt und im Grubenkessel verschwunden. Hat sich wahrscheinlich in der Mine versteckt.“
„Lange wird er da unten nicht bleiben, keine Sorge. Die Mobs da machen sich nicht besonders als Gastgeber.“
„Willst du hier auf ihn warten?“, fragte Babe.
„Hm, was denkst du?“
Das Mädchen zuckte die Schultern:
„Das musst du entscheiden, du bist der Boss.“
„Ich?... Ihr seid fast auf Stufe 100, ich stehe gerade mal auf erbärmlichen 45. Wie kommst du darauf, dass ich der Boss wäre?“
Babe und Tang tauschten einen vielsagenden Blick aus und grinsten geheimnisvoll.
„Ist mir irgendwas entgangen?“, fragte Ross. „Irgendein Komplott?“
„Alles in Ordnung“, sagte der Norder. „Wir sind einfach zu dem Schluss gekommen, dass du, ähm... der bist, dem die Ehre am meisten gebührt.“
„Aha. Und wie ich verstehe, hat unsere Gruppe jetzt nicht mehr zwei, sondern drei Mitglieder. Aber dabei hat keiner es für nötig befunden, mich – den ‚Boss‘, wie ihr entschieden habt – darüber zu informieren, ja? Obwohl die Erweiterung einen großen Unterschied macht.“
Der Norder zuckte die Schultern:
„Ich kann aussteigen. Ich will mich wirklich niemandem aufdrängen.“
Auch ohne die Warnung seines nächtlichen Besuchers hätte Ross gegen eine derartige Verstärkung ihres Teams überhaupt nichts einzuwenden gehabt. Daher ließ er es gut sein.
„Ich weiß ja: Du bittest nicht gerne um etwas. – Also, dann: Gehen wir?“
„In die Mine?“, fragte Babe.
„Hast du hier in der Nähe einen Vergnügungspark gesehen, wo wir stattdessen Riesenrad fahren könnten?“, entgegnete Ross.
„Ich fürchte, in der Mine werde ich euch keine Hilfe sein“, sagte Tang. „Bei mir als Tank ist der Bergbau nicht entwickelt. Und wozu ist schon ein Tank ohne Rüstung gut?“
„Schnapp dir eine Hacke und folge uns.“
„Schön, aber seid so gut und macht nicht so schnell. Ich bin der langsamste Tank der Welt.“
* * *
Nachdem er mit einem weiteren Stück Golderz fertig war, ging Ross zurück. In etwa hundert Schritten Entfernung rackerte Babe sich am Kupfer ab. Er half ihr, und sie gingen gemeinsam zum Ende der Höhle, wo Tang in einer Sackgasse arbeitete.
„Mahlzeit, Tang! Setz dich und iss mit uns.“
Der Norder verstaute die Spitzhacke in seiner Tasche und holte ein Stück Fleisch heraus. Babe nahm einen Bissen von ihrer Portion und verzog angewidert das Gesicht:
„Einfach ekelhaft. Gestern hat es viel besser geschmeckt.“
„Gestern hab ich es auf Kohlen geröstet, und gewartet, bis es durch war. Das kostet eine Menge Zeit. Ich kann es in Zukunft für uns so machen, und für die ganzen anderen über dem Feuer, auf die schnelle Art.“
„Passt schon“, winkte das Mädchen ab. „Ross, weißt du was? – Tang baut doppelt so viel ab wie ich.“
„Das dachte ich mir.“
„Wieso?“
„Er ist ein Tank. Ich denke, er hat viel mehr Stärke als du, und genauso Angriffskraft. Und auf die beiden Stats kommt es beim Schaden an der Ressource an.“
Tang nickte.
„Wenn ich so eine Hacke wie Babe hätte, würde ich sie viermal so schnell abbauen. Oder sogar achtmal...“
„Ross, mach ihm eine! Das kannst du doch! Warum nicht?“ Babe fixierte Ross mit dem hundigsten aller Hundeblicke.
Dem konnte er sich schwer widersetzen, und außerdem – wozu eigentlich? Es war doch in seinem eigenen Interesse. Schließlich brauchte er Unmengen von Erz, um seine Schmuckhandwerks- und Metallverarbeitungskünste wie auch seine Verzauberung weiterzuentwickeln. Dafür konnte er eigentlich nie genug Material haben.
„Tang, beherrschst du irgendein Handwerk?“
„Was brauchst du?“
„Einen Kunstschreiner oder zumindest einen guten Zimmermann. Danger Babe ist, was das betrifft, ziemlich schwach auf der Brust, und ich bin eine völlige Null.“
„Mit Holz habe ich bisher so gut wie gar nicht gearbeitet.“
„Kannst du mit Häuten arbeiten? Ich brauche Leder.“
„Das kann ich, aber wo bekomme ich die Zutaten her?“
„Was brauchst du denn?“
„Im Wesentlichen das Blut des Mobs, von dem das Fell stammt, aber frisch muss es sein. Und eine Schale zum Auffangen und Einweichen des Fells. Das wird dann mit Humus aus einem Sumpf zugedeckt. Ist kinderleicht, dauert aber lange und stinkt unerträglich. Ich habe es noch nie gemacht, nur gehört, dass es so funktionieren soll. Die Qualität ist wahrscheinlich ziemlich bescheiden, weshalb es auch niemand so versucht.“
„Und wie hast du es versucht?“
„Ich habe mir Sets für die Fell- und Hautverarbeitung besorgt. Alchemisten verkaufen sowas.“
„Hm, das ist schlecht für uns. Ich habe mich nie an der Alchemie versucht, war immer zu beschäftigt, und vor allem hat ein Freund von mir das übernommen.“
„Dann kann ich dir nicht helfen. Wenn durch mir Stoff gibst, kann ich einfache Dinge nähen.“
„Und wo soll ich Stoff hernehmen? In der ganzen Mine gibt es nur eine einzige Quelle für echten Stoff: Agitricks Umhang. Und irgendetwas sagt mir, dass er sich nicht davon trennen wird.“
Während sie sich unterhielten, hatte Ross einige Zutaten vorbereitet, die er nun in eine leere Tasche steckte. In Gedanken betete er darum, dass das Glück ihn nicht im Stich lassen und sich daran erinnern möge, dass er es ordentlich aufgepumpt hatte, und aktivierte den Prozess.
„Spitzhacke eines erfahrenen Bergmanns aus hervorragendem Stahl auf Bronzebuchse. Item-Klasse: gut. Werkzeug und Schlagwaffe. Schaden: 14-24. Werkzeugbonus: Schaden bei Schlag auf Stein 28-48. Stufenvoraussetzungen: 17. Gewicht: 2,68 kg. Festigkeit: 280/280.“
Ross stieß einen Pfiff aus.
„Nicht schlecht, die Spitzhacke! Ich meine, die Qualität ist gut.“
„Lila?", fragte Tang überrascht.
„Ja. Jetzt habe ich Angst, sie zu verzaubern. Nicht, dass sie kaputt geht...“
„Zeig her“, bat der Norder. Nachdem er das Werkzeug begutachtet hatte, schloss er: „Du brauchst sie nicht zu verzaubern. Sie ist gut, so wie sie ist. Danger Babe, wie wär‘s, wenn ich dir die hier gebe und du mir dafür deine? – Dann geht dir die Arbeit auch schneller von der Hand.“
„Und du?“
„Mit meiner Stärke und Angriffskraft macht es keinen großen Unterschied.“
„Na, gut.“
Ross schlug sich an die Stirn:
„Ich bin so ein Esel! Wegen unseres kleinen Tête-à-Têtes mit diesem Ekelpaket hab ich doch glatt alles vergessen! – Hier, Babe. Das sind sechs Ringe. Hauptsächlich mit Boni auf Intelligenz und Ausdauer und ein paar anderen Kinkerlitzchen.“
„Woher hast du die?“
„Ich habe sie gestern Nacht hergestellt. Ich wollte sie dir schon heute früh geben, aber dann habe ich sie wegen dem ganzen Heckmeck vergessen.“
„Danke, Ross. Es fühlt sich an, als hätte ich Geburtstag, und schon den zweiten Tag in Folge!“ Babe schwang kampflustig die Spitzhacke.
„In meiner Jugend hat man den Mädels keine Spitzhacken geschenkt“, seufzte der Norder. „Ross, wie du weißt, bitte ich nicht gerne um etwas. Aber können wir nicht irgendeinen Weg finden, wie ich an eine Waffe und eine Rüstung komme? – Du bist doch ein Mann mit vielen Talenten... Ich bezahle natürlich dafür, sobald wir hier rauskommen.“
„Geld ist nicht der springende Punkt. Ich habe keine Skizzen oder Konstruktionspläne, nicht mal primitive. Und ohne ist es sehr schwierig, etwas Anständiges herzustellen.“
„Mit Stäben und Ringen bist du gut. Und mit Spitzhacken...“
„Es gibt ein in-Game-Konzept namens Crafting Relativity . Es besagt, dass Gegenstände, die man schon einmal benutzt hat, und solche mit ähnlichen Eigenschaften, einem leichter gelingen als welche, die man nie benutzt hat. Dabei sind Skizzen nicht das Ausschlaggebende. Du bist ein Tank, brauchst also Rüstung, Helm, Schild und Schwert, nehme ich an. Stimmt‘s?“
„Genau. Und Stiefel wären nicht schlecht.“
„Gibt es Stiefel ohne Lederelemente?“
„Sind mir noch nicht untergekommen.“
„Dann wird das System nach Leder fragen, wenn ich sie herstellen will. Wo könnte ich welches bekommen?“
„Was, wenn ein Mob einen Lederharnisch oder Lederumhang abwirft?“
„Mir ist sowas hier bisher noch nicht passiert.“
„Und wenn doch? – Man kann nie wissen.“
„Dann muss man Lederstreifen und -stücke daraus machen.“
„Das kann ich.“
„Wenn das so ist, probiere ich es vielleicht. Mit der schweren Rüstung, dem Schwert und dem Schild wird es allerdings wohl nichts, weil ich so etwas selbst noch nie hatte. Eine ganz leichte Rüstung ist das Einzige, woran ich mich versuchen könnte.“
„Alles wäre besser als diese Lumpen. Dann hättest du deinen persönlichen Tank. Könnte nützlich sein.“
„Heute Nacht werde ich ein bisschen experimentieren. Aber ich kann nichts versprechen. Wenn ihr wüsstet, wie viele Ringe ich allein für die sechs hier vergeudet habe... Mein Schmuckhandwerk ist sogar ein bisschen geklettert.“
„Danger Babe hat viel von deinen Talenten gesprochen“, sagte der Norder so, als erwarte er, dass Ross etwas darauf erwiderte.
Offensichtlich hoffte er, dass Ross sich dazu hinreißen lassen würde, auch etwas dazu zu sagen und, wenn schon nicht alle, so wenigstens einen Teil seiner Geheimnisse preiszugeben. Doch der ließ sich nichts entlocken. Stattdessen lenkte er ab:
„Versuch‘, so viel Erz wie möglich abzubauen. Ich werde heute Nacht viele Rohstoffe brauchen.“
„Dann markiere du alle Erzadern, die du finden kannst. Ich selbst finde nur Kupfer, genau wie Danger Babe. Selten bemerke ich andere Ressourcen überhaupt – und wenn, kann ich sie noch seltener abbauen.“
* * *
Am Abend begleiteten sie Tang zum Ausgang. Er hatte im Forum bekannt gegeben, dass zu dieser Zeit das Fleisch an die anderen Sklaven verteilt würde. Der Norder stieg absichtlich langsam die Serpentine hinauf, um HedTeSdjo zu einem Angriff zu provozieren, doch entgegen Ross‘ Hoffnungen streckte der verdammte Bogenschütze seine Nase nicht hervor.
Er musste sich irgendwo versteckt haben.
Ross knirschte beinahe mit den Zähnen vor Wut. Was sollte er jetzt tun? – Wenn er Babe zurückließ, würde der Hund sie töten. Und Tang würde es nicht verhindern können. Seine Pläne, im Dungeon an seiner Charakterentwicklung zu arbeiten und dabei Kristalle zu erbeuten, waren für heute wohl auf Eis gelegt. Er würde lieber selbst draufgehen, als zuzulassen, dass der Bastard den beiden Mitspielern schadete, die ihm folgten.
Ein alter Mann, der sich vom wirklichen Leben verabschiedet hatte, und ein minderjähriges Mädchen. – Er besaß einfach ein Talent dafür, sich höchst seltsame Freunde auszusuchen.
Aber er war ja selbst nicht weniger seltsam.
Auch, wenn er diesen eigenartigen Traum nicht gehabt hätte (War es überhaupt ein Traum gewesen?), hätte er sie nie ihrem Schicksal überlassen. Irgendetwas hatten sie an sich, was ihn mit ihnen verband. Die Worte des seltsamen Fremden hatten sich beim ersten Mal bewahrheitet, und das ließ Ross daran glauben, dass er ihm auch dieses Mal vertrauen konnte.
Ein Team. Er brauchte ein Team. Ross war eindeutig gewarnt worden: Von nun an durfte er sich nicht mehr nur auf sich selbst verlassen. Er würde Hilfe von anderen brauchen.
Der, der ihm im Traum erschien, hatte sich bisher nicht geirrt. Und Ross hatte so eine Vorahnung, die ihn geradezu zwang, voll und ganz auf seine Worten zu hören.
Wenn er nur wüsste, wer dieser „Prophet“ war.
Oder was er war.
* * *
Nur etwa die Hälfte der Charaktere scharte sich um Tang, begierig, ein Stückchen Fleisch zu ergattern. Die Armen konnten vor Schwäche kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Der Rest saß nach wie vor reglos im Respawn-Kreis, der aussah wie ein aufgegebenes Marionettentheater. Ihre Besitzer hatten unter den gegebenen Umständen offenbar entschieden, sich einen Monat Auszeit vom Spiel zu nehmen, und machten sich nicht einmal die Mühe, ins Forum zu schauen.
Selbst schuld.
„Folg mir, Babe.“
„Wohin gehst du?“
„Du lässt deinen Körper auf der anderen Seite des Grubenkessels, und ich werde aufpassen, dass der Giftzwerg dir nicht zu nahe kommt.“
„Und was ist mit Tang?“
„Er sieht ja, wo wir hingehen, der findet uns. Noch ist es nicht dunkel.“
„Okay.“
Als sie schon fast angekommen waren, fragte Ross:
„Du hast mir immer noch nicht erzählt, was gestern eigentlich passiert ist. Hast einfach deinen Charakter auf der Straße zurückgelassen, ohne Vorwarnung.“
„Na ja... ich musste mich ausloggen. Ganz plötzlich. Tut mir leid.“
„Du hast uns ganz schön was eingebrockt...“
„Ich habe doch gesagt: Es tut mir leid!“
„Und ich habe dir schon verziehen. Vergiss es. Es war nicht dramatisch.“
„Ross... Danke. – Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich aufgegeben. Ich kann gar nicht sagen, wie... Es tut mir wirklich leid, ich konnte ehrlich nichts tun, es musste ratzfatz gehen.“
„Ich habe doch schon gesagt: Ich hab‘s verstanden und mache dir keine Vorwürfe.“
Babe nickte.
„Na gut, also dann, hier: für alle Fälle.“ Ihre Augen wurden ausdruckslos, und Ross dachte schon, sie habe sich wieder ohne ein Abschiedswort ausgeloggt, doch da ratterte sie plötzlich herunter:
„Danger Babe erteilt dem Spieler Tarros4 die Erlaubnis, ihren Körper bis auf eine Distanz von fünfhundert Metern wegzubewegen, falls sie offline geht.“ Dann sah sie Ross wieder direkt an: „Ist das weit genug?“
„Ja, klar. Gerade weit genug, um dich in den dunklen Wald zu schleppen, wo die Wölfe hausen. – Das heißt, ich kriege ab sofort keine Stromschläge mehr?“
„Jedenfalls solltest du keine mehr kriegen. Aber nutz‘ meine Erlaubnis auch wirklich nur dann, wenn es nicht anders geht. Dann gehe ich mal. Bis dann, Ross.“
„Bis dann, Babe.“
Er hockte sich neben das erstarrte Mädchen und begann, seinen Manavorrat kontinuierlich in die einfache Verzauberung von Edelsteinen zu stecken. Er tat das nicht der Effekte wegen, sondern um den Stat zu entwickeln. Ross hatte einen Plan: Er musste ihn mit allen Mitteln so weit erhöhen wie nur möglich, und wenn er nur noch popelige Fortschritte machen würde, wollte er die nicht verteilten Einheiten für Zusatzattribute, die er noch hatte, dazutun. Das waren im Augenblick fünf.
Eine hohe Verzauberungsstufe bedeutete, dass er wertvolle Items schaffen konnte. Dann würde er sich nicht länger in gefährlichen unterirdischen Gewölben abrackern müssen, um welche zu bekommen. Außerdem war es gut möglich, dass er nach allem, was in letzter Zeit passiert war, zu dem Chaos-Dungeon mit den Tilbiten keinen Zugang mehr hatte.
Ross hoffte inständig, dass dank seines unverschämt hohen Glücks die Verzauberung zu einer dauerhaften, rentablen Einkommensquelle werden würde.
Und wenn nicht, dann musste er sich etwas anderes einfallen lassen.