Manchmal zerfließe ich in Selbstmitleid, und währenddessen trägt mich ein starker Wind über den Himmel.
Die Schulbücherei war gegen Ende des Schultages beinahe leer. Durch das Fenster konnte Donna nur noch ein etwa dreizehnjähriges Mädchen sehen, das an einem Tisch saß, und in einigem Abstand zwei Schüler der Abschlussklasse, die hinter ihr standen. Sie kannte das Mädchen flüchtig – schüchtern, fleißig, mit einem freundlichen, nervösen Lächeln. Sie ging hinein, da sie noch etwas Zeit hatte, bis ihr Bus kam, und es draußen zu kalt war zum Warten.
Als sie durch die Tür trat, sah sie überrascht, dass die Szene sich verändert hatte. Einer der Jungen stand nun direkt hinter dem Stuhl des Mädchens, umfasste sie mit einem Arm und begrapschte mit beiden Händen ihre Brust. Das Mädchen war starr vor Schreck, unfähig, sich zu bewegen oder ihn abzuwehren. Der Junge sagte mit anzüglicher Stimme: »Noch keine Titten?«, zerknautschte das T-Shirt des Mädchens und zog seine Arme weg. Er grinste seinen lachenden Kumpel an und beide verschwanden.
Donna stand wie angewurzelt. Sie kannte diese Jungen und hatte sie nie leiden können. Sie waren Vertrauensschüler. Ihre Nachnamen waren Teil der Schulgeschichte. Sie waren angesehen. Donna sprach leise mit dem Mädchen. Dann ging sie aus dem Zimmer. Die Jungen standen am Tor und warteten darauf, abgeholt zu werden. Sie zwang sich, ihre Schritte zu verlangsamen, schlenderte hinüber zu ihnen, als wäre nichts geschehen, als würde sie warten wie immer. Der Größere wandte ihr das Gesicht zu. Sie war so groß wie er, ihre Blicke trafen sich. Und sie stieß ihm ihre Faust fest in die Magengegend, sodass er sich krümmte. Tatsächlich tat sie das nicht, aber es war eine fantastische Vorstellung. Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Du solltest deinen Eltern sagen, was du gemacht hast – sie werden irgendwann heute Abend einen Anruf von der Schule bekommen.« Dann machte sie kehrt und ging zurück, um einen Lehrer zu finden, dem sie vertraute.
Dieses Kapitel ist kurz mit nur einem wichtigen Anliegen, das aber macht den Unterschied. Beginnen wir mit einer Selbsteinschätzung.
Wenn Sie das Wort Feminismus hören - ganz spontan, wie fühlen Sie sich dabei?
1.Ergriffen und positiv
2.Ich habe gemischte Gefühle
3.Negativ
Dieses Kapitel möchte erst Sie und dann Ihre Tochter in die Lage versetzen, wie bei Antwort 1 zu empfinden. Für eine gleichberechtigte Welt muss es heißen: Alle für einen und einer für alle.
Zuerst eine Definition. Egal, was Sie über Feminismus gelesen, gehört oder gedacht haben, es ist eine sehr einfache Sache. Feminismus will Mädchen und Frauen dieselben Möglichkeiten geben wie Jungen und Männern. Wenn Sie der Meinung sind, Ihre Tochter sollte dieselben Rechte, Sicherheiten und Chancen im Leben haben wie Ihr Sohn oder der Sohn anderer Eltern, sind Sie Feministin.
Es wurde da einiges an Ballast angehäuft. Wie jede andere Bewegung wurde auch der Feminismus verwässert, falsch dargestellt, verwechselt und missbraucht, aber das sind nur unbedeutende Turbulenzen am Rande eines breiten und kräftigen Flusses der Veränderung.
Wenn ein Mathelehrer zu einem Mädchen sagt: »Du bist gut in Mathe, du könntest Ingenieurin werden«, dann ist das Feminismus. Wenn eine Gruppe von Frauen in den sozialen Medien eine Petition für die Einstellung einer Zeitschrift organisiert, die Frauen herabwürdigt, oder einen Politiker oder Sportler öffentlich anprangert, der Frauen missbraucht, dann ist das Feminismus. Dass Ihre Tochter ebenso gute Chancen hat, Ärztin zu werden, wie Ihr Sohn Krankenpfleger, das ist Feminismus. Wenn es für Ihre Tochter ebenso einfach ist, eine Ausbildung zum Klempner, Mechaniker oder Jockey zu machen, ohne verspottet zu werden, ist das Feminismus. Wenn es eines Tages auf der Welt keine Vergewaltigung, familiäre Gewalt oder keinen Menschenhandel mehr gibt, ist das Feminismus.
IHRE TOCHTER IST TEIL EINES GROSSEN GANZEN
Manchmal sind wir vom Alltag so beansprucht, dass wir vergessen, worum es wirklich geht im Leben. Das gilt insbesondere für Teenager, für die schon ein Pickel eine Katastrophe sein kann. Wir müssen den Kopf heben, um den weiten Himmel zu sehen. Das große Ganze, um das es in unserem Leben wirklich geht.
Das gilt besonders für ein Mädchen. Wäre Ihre Tochter vor hundert Jahren auf die Welt gekommen, wäre ihr Leben aus heutiger Sicht schrecklich gewesen. Sie hätte nur zwei Optionen gehabt: als Dienstmädchen im Haushalt einer reichen Person zu arbeiten oder zu heiraten. Hätte sie geheiratet, hätte sie kein Eigentum besitzen dürfen und gut daran getan, ihren Ehemann mit großer Sorgfalt zu wählen, da er das Recht gehabt hätte, sie zu schlagen, zu vergewaltigen, im Haus einzusperren, ohne dass sie dagegen hätte vorgehen können. Hätte sie ihn verlassen, wäre sie heimatlos und bettelarm gewesen und hätte ihre Kinder wahrscheinlich nie mehr wiedergesehen. Ohne Geräte wie eine Waschmaschine und einen Staubsauger hätte die Hausarbeit jede Minute ihres Tages beansprucht (sie hätte klug genug sein können, Chirurgin oder Wissenschaftlerin zu werden, das Schrubben von Geschirr und Böden wäre dennoch ihr Los gewesen).
Frauen hatten kein Wahlrecht, und wenn sie arbeiteten, verdienten sie halb so viel wie Männer. Keinesfalls genug, um davon leben zu können. Außer durch Enthaltsamkeit war keine Geburtenkontrolle möglich. Entbindungen waren gefährlich. Wurden Mädchen schwanger, ließen sie entweder eine gefährliche Abtreibung in einem Hinterhof vornehmen oder zogen in Heime für gefallene Mädchen, um ihr Baby zu bekommen, das ihnen anschließend weggenommen wurde. Anschließend blieben sie als »beschädigte Ware« unverheiratet.
Frauen arbeiteten auch in Fabriken, wo sie häufig von den männlichen Vorarbeitern sexuell missbraucht wurden. Diese konnten sie auch entlassen, wenn sie nicht nachgaben.
Dann kam es zu einer Bewegung. Das 20. Jahrhundert war die Zeit der Bewegungen – der Gewerkschaftsbewegung, der Bürgerrechtsbewegung, der Friedensbewegung, der Umweltschutzbewegung – alles heftige Ausbrüche des gesunden Menschenverstandes, der Empörung und Veränderung. Möglich wurden sie nur durch die modernen Kommunikationsmittel: Zeitungen, Wochenschau, Filmmaterial, Radio, später Fernsehen und Internet. Die Menschen kommunizierten, versammelten sich, erhoben sich und kämpften für einen Wandel. Die Frauenbewegung war von allen Bewegungen die bedeutsamste. Selbst verglichen mit den katastrophalen Kriegen und den Fortschritten der Wissenschaft war sie, gemessen am tatsächlichen Einfluss auf das Leben der Menschen, das bedeutendste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Auch wenn sie natürlich im 21. Jahrhundert längst nicht beendet ist.
Schauen Sie sich den Film Die Suffragetten an. Meiner Meinung nach ist er zu gewalttätig und verstörend, um ihn Mädchen unter vierzehn Jahren zu zeigen. Dennoch geschah dies alles tatsächlich auf den Straßen und in den Häusern Londons, an Orten, die man noch heute besichtigen kann. Die Machthaber – das Patriarchat – gaben nicht so leicht auf. Frauen, die für ihr Wahlrecht demonstrierten, wurden von berittenen Polizisten abtransportiert, mit Stangen mit Stahlspitzen niedergeknüppelt.
Im Gefängnis traten sie in einen Hungerstreik. Von den Behörden wurden sie mit Gummischläuchen zwangsernährt. Das Verfahren war so gefährlich
und beängstigend, dass es an das heutige Waterboarding erinnert. Das Entsetzen des medizinischen Personals, das dies durchführen musste, war einer der Wendepunkte in der öffentlichen Meinung und führte letztlich zum Sieg. Wir und unsere Töchter müssen uns klarmachen, dass dies Teil der neueren Geschichte ist.
Ein anderer Film, den man Mädchen zeigen kann, ist We Want Sex, der in den sechziger Jahren spielt. Eine berührende und unter die Haut gehende Geschichte darüber, wie Frauen in einer britischen Autofabrik den Anstoß gaben für ein weltweites Engagement für gleiche Bezahlung. Ihre Tochter – und Sie – schulden ihnen Dank (auch diesen Film würde ich erst ab zwölf Jahren empfehlen).
Ihre Tochter kann leben, arbeiten, sich verlieben, eine Ausbildung machen, eine Karriere starten, zu Hause sicher leben, einen Kredit aufnehmen, die Welt bereisen, sich für oder gegen Kinder entscheiden und diese sicher zur Welt bringen, weil Millionen von Frauen dafür gekämpft haben. Das muss sie wissen.
Für die große Zahl psychischer Probleme, unter denen Mädchen heute leiden, könnte Abhilfe geschaffen werden, wenn Mädchen klar würde, dass das Problem nicht in ihnen liegt, sondern in der Welt um sie herum. Und anstatt ängstlich und depressiv zu werden, sollten sie sehr wütend werden. Was Sie Ihrer Tochter verständlich machen sollten, ist: »Du bist nicht allein. Das, was du erleidest, wenn Jungen dich schlecht behandeln oder Männer dich anglotzen oder du dich von Karrieremöglichkeiten ausgeschlossen fühlst oder in Menschenansammlungen Angst bekommst oder den Druck spürst, hübsch, gefügig und dünn sein zu sollen – das alles sind große Probleme für alle Frauen überall. Und du musst gemeinsam mit diesen Frauen kämpfen.«
Feminismus
In aller Kürze
Eine Frau zu sein, bedeutete tausende von Jahren, als minderwertig angesehen und behandelt zu werden, und verwehrte die Chance, ein erfülltes oder auch nur sicheres und gesundes Leben zu führen.
Im 20. Jahrhundert erhoben sich die Frauen und kämpften für einen Wandel. Noch immer liegt ein Stück des Weges vor ihnen.
Die individuellen Probleme, die Ihre Tochter hat, beruhen sehr oft auf den Zwängen und dem Druck, dem Missbrauch und der Ungleichheit, die Mädchen auch heute noch in der Welt erfahren.
Wenn ihr das klargeworden ist, kann sie über sich selbst ein sehr viel besseres Gefühl bekommen und – auf positive Weise – sehr viel wütender auf die Welt werden.
Ihren Töchtern mag es gut gehen, Milliarden anderer Mädchen und Frauen jedoch geht es schlecht. Wäre es nicht fantastisch, wenn Sie und Ihre Tochter sich gemeinsam dafür engagieren würden, daran etwas zu ändern?