Das Essen schien endlos zu dauern, und es war schon Nachmittag, bevor Andrea endlich entkommen konnte – doch Nikos ließ sie immer noch nicht in Ruhe.
Er hatte sein Büro angerufen und alle Termine streichen lassen. Das allein würde die Gerüchteküche noch weiter anheizen, und genau das hatte er damit auch bezweckt. Ein Nikos Vassilis ließ geschäftliche Besprechungen nicht einfach ausfallen, denn er war viel zu sehr darauf bedacht, Profit zu machen.
Er schenkte seiner zukünftigen Braut ein strahlendes Lächeln, das mehr für die anderen Gäste des Restaurants gedacht war, und führte sie dann hinaus. „Du möchtest sicher noch einkaufen gehen, agape mou. Was ist mit deiner Aussteuer? Ganz bestimmt suchst du etwas Ausgefallenes. Ich kenne da einige schöne Geschäfte …“
„Nein danke“, unterbrach sie ihn kühl, „ich brauche nichts.“ Der Schrank in ihrem Zimmer war bis oben hin gefüllt, und sie würde all diese Kleider sowieso nicht tragen können, da sie ja nur noch kurze Zeit in Athen war. Zoe hatte ihr heute Morgen eine elegante, maßgeschneiderte graue Hose und ein mit Applikationen versehenes Oberteil aufs Bett gelegt, und Andrea hatte nicht lange gezögert und sich beides übergestreift. Da sie sich ja dazu durchgerungen hatte, Nikos zu heiraten, musste sie auch standesgemäß gekleidet sein – jedenfalls, bis sie nach London zurückkehrte.
Ihr zukünftiger Mann lachte leise. „Du interessierst dich nicht für Boutiquen? Damit wärst du wohl so ziemlich die einzige Frau auf dieser Welt!“ Er betrachtete sie unverhohlen, und sein Blick ruhte besonders lange auf ihren vollen Brüsten, die von dem dünnen Material des Tops kaum verhüllt wurden. „Dann erlaube mir, etwas für dich auszusuchen, Andrea. Ich habe da schon einige Sachen im Sinn … etwas ganz Besonderes für unsere Hochzeitsnacht zum Beispiel.“
Eigentlich hatte sie protestieren wollen, überlegte es sich dann aber anders. Sollte er doch seinen Willen haben! Es würde sowieso keine Hochzeitsnacht geben. Warum sollte sie jetzt mit ihm streiten? „Wenn du meinst“, erwiderte sie und zuckte die Schultern.
Er lächelte zufrieden. „Oh ja, das tue ich, pethi mou.“
Wenig später betraten sie das exklusive Dessousgeschäft im mondänen Kolonaki-Einkaufszentrum in der Athener Innenstadt. Wenn ich hier nach einem einfachen Baumwoll-BH frage, wirft man mich bestimmt hinaus, dachte Andrea überwältigt, als sie die große Auswahl an teurer Unterwäsche betrachtete. Es fiel ihr auch sofort auf, dass Nikos hier kein Unbekannter war, denn die Verkäuferin nannte ihn beim Namen und behandelte ihn mit großem Respekt.
Sie benahm sich Andrea gegenüber höflich, aber reserviert, und es war ihr deutlich anzumerken, dass sie sie für eine weitere unbedeutende Gespielin hielt. Trotzdem machte Andrea gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich verschiedene Dessous und Negligés vorführen, weigerte sich aber, sie anzuprobieren. Wozu auch? Sie würde sie ja sowieso nicht tragen.
Schließlich nahm Nikos ihr die Entscheidung ab, und bald darauf verließen sie das Geschäft. „Hier gibt es viele Designerboutiquen“, sagte er gut gelaunt, „vielleicht möchtest du ja doch noch etwas einkaufen.“
„Nein danke. Ich bin bestens versorgt.“
„Dann möchte ich dich um einen Gefallen bitten.“ Er nahm ihren Arm und führte sie zu einem kleinen, eleganten Laden. „Ich möchte dir einen Rock kaufen, agape mou. Du trägst jetzt schon seit zwei Tagen Hosen, und ich ziehe es vor, wenn meine Frauen einen Rock tragen.“
„Ach nein?“, erwiderte sie spöttisch. „Das ist dumm, denn ich trage so etwas grundsätzlich nicht.“
Er blickte sie stirnrunzelnd an. „Gestern Abend hattest du aber ein Kleid an.“
„Es war ja auch ein langes“, antwortete sie kurz angebunden und überlegte verzweifelt, wie sie am besten das Thema wechseln konnte.
„Aber deine Beine sind sicher wunderschön“, schmeichelte er ihr. „Es wäre schade, sie zu verstecken. Komm, gib dir einen Ruck, und lass uns einen Rock kaufen.“
Warum konnte er nicht endlich damit aufhören? Sie hatte keine Lust, ihm von ihrem Geheimnis zu erzählen. Also setzte sie eine gelangweilte Miene auf und hoffte, Nikos so abschrecken zu können. „Ich kann keine Geschäfte mehr sehen. Lass uns gehen.“
Nikos betrachtete sie erstaunt. Er hatte noch nie erlebt, dass eine seiner Frauen keinen Spaß am Einkaufen hatte, besonders dann, wenn sie sein Geld ausgeben konnte. Esme war als Model an exklusiver Kleidung immer interessiert, und Xanthe war, was Schmuck anging, wie eine Elster. Kein Juwelierladen war vor ihr sicher. Warum war Andrea so anders? Vielleicht lag es an dem riesigen Vermögen, über das ihr Großvater verfügte und mit dem sie sich jeden Wunsch erfüllen konnte.
„Es tut mir leid, wenn du dich langweilst. Wie kann ich dich aufheitern?“, fragte er höflich.
Andrea überlegte kurz. Sie hätte ihn bitten können, sie nach Hause zu bringen, doch es gab tatsächlich etwas, das sie gern tun würde. „Könnten wir die Stadt besichtigen?“ Sie würde nie wieder nach Athen kommen und wollte die kurze Zeit nutzen, um die Heimat ihres Vaters näher kennenzulernen.
„Wie bitte?“, fragte Nikos erstaunt. „Du kennst doch alle Sehenswürdigkeiten.“
„Nein. Ich bin noch nie in Athen gewesen – und in Griechenland übrigens auch nicht.“
Nikos schüttelte fassungslos den Kopf. Es war ja gut und schön, dass Andreas Mutter mit Yiorgos Coustakis’ rüden Erziehungsmethoden nicht einverstanden gewesen war und auch nicht mehr an den Ort zurückkehren wollte, an dem sie mit ihrem Mann so glücklich gewesen war. Das gab ihr aber noch lange nicht das Recht, Andrea den Besuch bei ihrer Familie zu verbieten. „Dann wird es höchste Zeit, dass du dich mit der Stadt vertraut machst“, sagte er energisch. „Ich werde dir alles zeigen.“
Und genau das tat er auch. Sie bestiegen die Akropolis und bewunderten den Parthenon, eins der beeindruckendsten Überbleibsel aus der Ära der ersten blühenden westlichen Zivilisation.
Andrea war fasziniert, und es gelang ihr für kurze Zeit, die Verzweiflung zurückzudrängen. Je länger sie mit Nikos zusammen war, desto beeindruckter war sie von ihm. Er war ein Bild von einem Mann, zuvorkommend und hilfsbereit. Es machte Spaß, sich mit ihm zu unterhalten, denn er war humorvoll und intelligent. Wenn er sie zufällig berührte, hatte sie das Gefühl, als hätte sie einen Stromschlag bekommen, und ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Leider war das alles nur eine kurze Episode in ihrem Leben …
In den nächsten Tagen rief sich Andrea genau diesen Satz immer wieder in Erinnerung. Nikos Vassilis ließ nichts unversucht, um der Welt zu zeigen, dass er die Erbin des Coustakis-Imperiums gewonnen hatte und auf dem Weg nach ganz oben war.
Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, wie ein Ausstellungsstück herumgezeigt zu werden. Jeden Tag aßen sie in teuren Restaurants, gingen in die exklusivsten Bars, und die ganze Zeit war Nikos an ihrer Seite, immer aufmerksam, besitzergreifend und stolz darauf, Yiorgos Coustakis’ Nachfolger zu werden. Jedes Mal, wenn Nikos sie in seinem roten schnittigen Sportwagen abholte, wünschte sie sich, er würde um sie werben, weil er sie gern hatte … und nicht, weil sie ihm ein Vermögen einbrachte. Das würde sie ihm natürlich nie verraten, und deshalb blieb sie ganz kühl und geschäftsmäßig, denn das, so war ihr instinktiv bewusst, gefiel ihm überhaupt nicht.
„Meine englische Eisprinzessin“, sagte er eines Abends zu ihr, als sie den Kopf zur Seite gedreht hatte, damit er sie nur auf die Wange küssen konnte. „Ich freue mich schon darauf, dich zum Schmelzen zu bringen.“
„Du ruinierst meine Frisur“, erwiderte sie ungehalten.
„Warte nur ab, bald werde ich noch viel mehr durcheinanderbringen.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, und in seinem Blick lag Verlangen. „Heute werden wir tanzen gehen, Andrea mou.“
Sie wich einige Schritte zurück und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. „Bitte nicht“, sagte sie erschrocken, „ich kann nicht tanzen.“
Das stimmte zwar nicht, war aber besser als die Wahrheit. Langsam hatte sie das Gefühl, als würde sie die Kontrolle über alles verlieren. Nur der Gedanke an das Geld hielt sie noch aufrecht. Sie musste noch so lange aushalten, bis die halbe Million Pfund auf ihrem Konto gutgeschrieben war. Dann konnte sie von hier auf Nimmerwiedersehen verschwinden – und die Dämonen zurücklassen, die sie nicht beim Namen nennen wollte.
„Ich will ja nicht die ganze Nacht durchmachen“, lachte Nikos, „und wir werden auch nicht in einen überfüllten Club gehen. Glaub mir, ich habe einen ganz besonderen Platz für uns ausgesucht. Es wird dir gefallen, warte es nur ab.“
Ihre Miene verfinsterte sich. „Ich möchte nicht, danke.“
„Dann muss ich dich wohl anders überreden.“ Langsam ließ er die Hand über ihre Wange gleiten. Andrea wich zurück, aber Nikos lächelte nachsichtig. Er kannte sie jetzt schon sehr gut und wusste, wie er sie zu behandeln hatte. Sie empfand etwas für ihn, aber kämpfte immer noch verzweifelt dagegen an. Nun, diesen Kampf würde sie verlieren. Es würde ein wundervoller, süßer Sieg werden, den er in vollen Zügen auskosten wollte.
Andrea war klar, dass sie ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als mit ihm auszugehen.
Wenigstens hatte Nikos Wort gehalten und führte sie nicht in einen der angesagten Clubs, sondern in ein kleines Restaurant im obersten Stock eines Hochhauses, von wo aus man einen wunderbaren Blick über Athen hatte. Die Tanzfläche in der Mitte des Raumes war klein, und nur wenige Paare nutzten sie. Als er Andrea dorthin führen wollte, blieb sie starr stehen und schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nicht.“
„Du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte er ihr ins Ohr, „ich bin ein guter Tänzer.“
Widerwillig gab sie nach. Unglücklicherweise hatte der Discjockey gerade ein Liebeslied aufgelegt, und Andrea hätte gern einen Rückzieher gemacht, doch Nikos hatte schon die Arme um sie gelegt und sie an sich gezogen.
Sie spürte seine Hände durch das dünne Material ihres blauen langen Kleides, und seine Berührung schien sie zu verbrennen. Ihr Herz klopfte schnell, und ihr Puls begann zu rasen.
„Entspann dich“, flüsterte er ihr ins Ohr, „und gib dich ganz der Musik hin.“
Verzweifelt versuchte sie, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Sie durfte nicht schwach werden. Er begehrte sie nicht, sondern war nur auf das Erbe ihres Großvaters aus.
„Leg die Arme um mich, pethi mou“, sagte er leise.
Unwillkürlich gehorchte sie, und als sie das Spiel seiner harten Muskeln unter der eleganten Smokingjacke spürte, verspannte sie sich wieder.
„Ganz ruhig“, flüsterte er und begann mit den ersten Tanzschritten.
Andrea biss sich auf die Lippen und versuchte, ihm zu folgen. Es funktionierte nicht. Ihre Beine schienen aus Blei zu sein, und sie schmerzten durch die Anstrengung beinahe unerträglich. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. „Ich kann das nicht!“, rief sie, befreite sich aus seinem Griff und ging zu ihrem Tisch zurück, froh, sich setzen zu können. Gleich darauf nahm Nikos neben ihr Platz.
„Was, zum Teufel, sollte das?“, fragte er ungehalten. „So schwer ist Tanzen nun wirklich nicht!“
Es war ihr so etwas von egal, ob er wütend war oder nicht. „Ich kann es eben nicht“, antwortete sie kurz angebunden.
„Du kannst es nicht? Oder willst du es nicht?“ Er betrachtete sie spöttisch, nahm die Champagnerflasche und schenkte sich nach. Andrea hatte ihr Glas nicht einmal angerührt. „Wenn wir verheiratet sind, werde ich es dir beibringen“, sagte er und trank einen Schluck.
„Ja“, erwiderte sie, blickte zur Seite und massierte unter dem Tisch sanft ihre verspannten Beinmuskeln. Sollte er doch in dem Glauben bleiben. Aber Nikos Vassilis würde keine Gelegenheit haben, ihr Tanzstunden zu geben.
Andrea umklammerte den Telefonhörer und schloss kurz die Augen. „Sind Sie ganz sicher?
„Ja, Miss Fraser, das bin ich. Auf Ihrem Konto sind fünfhunderttausend Pfund gutgeschrieben worden.“
„Und über das Geld kann ohne meine Erlaubnis nicht verfügt werden?“
„Selbstverständlich nicht!“ Der Bankangestellte im fernen London klang schockiert.
Das Gespräch fand am Morgen des Tages statt, der eigentlich der glücklichste in ihrem Leben hätte sein müssen. Was er ja auch war, denn jetzt waren sie und ihre Mutter endlich frei und konnten ein neues Leben anfangen!
Sie bedankte sich bei dem Mann und legte auf. Noch nie zuvor war sie so erleichtert gewesen! Sie hatte es geschafft! Jetzt musste sie nur noch die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehen, und dann konnte sie wieder nach Hause zurückkehren.
„Kyria, darf ich Sie ankleiden?“, fragte Zoe, die schüchtern an der Tür stand. „Kyrios Coustakis möchte, dass Sie so schnell wie möglich nach unten kommen.“
Andrea nickte und überließ sich ganz den geschickten Händen des Mädchens. Plötzlich kam ihr alles so unwirklich vor. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schloss kurz die Augen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ihr Großvater hatte sich an die Abmachung gehalten, und nun war sie, Andrea, am Zug.
Die Hochzeitszeremonie schien kein Ende nehmen zu wollen. Andrea hatte keinen Blick für den großen, gut aussehenden Mann an ihrer Seite. Alles um sie her verschwamm, und sie spürte, wie ihre Beine von der Anstrengung schmerzten. Dann steckte plötzlich ein Ring an ihrem Finger, und sie waren verheiratet.
Das bedeutet nichts, dachte sie, schon morgen werde ich im Flugzeug sitzen und nach London zurückfliegen. Ihr sogenannter Ehemann konnte es sicher nicht erwarten, sie so schnell wie möglich loszuwerden, denn nun hatte er alles, was er sich gewünscht hatte. Es war ihm sowieso nie um sie gegangen, er hatte immer nur Coustakis Industries gewollt. Außerdem wäre er sowieso nie treu gewesen …
Ihre Miene wurde finster, als sie an ein Gespräch mit ihrem Großvater dachte, das vor drei Tagen stattgefunden hatte. Der alte Mann hatte sie zu sich zitiert, um ihr, wie er gesagt hatte, etwas ausdrücklich klarzumachen. „Wenn du Nikos Vassilis’ Frau bist, wirst du dich wie eine Griechin benehmen“, hatte er ihr befohlen, „und ich bin sicher, dass er dich Gehorsam lehren wird, wenn du dich ihm widersetzt. Meiner Meinung nach ist es sowieso höchste Zeit, dass jemand das tut.“ Er hatte ihr einen hasserfüllten Blick zugeworfen. „Du brauchst also nicht auf meine Unterstützung zu hoffen, wenn er dich züchtigt. Außerdem solltest du dir nichts darauf einbilden, wenn er dich einige Wochen lang sexuell interessant findet.“
Als er bemerkte, dass sie ihn nicht verstanden hatte, lachte er höhnisch. „In Griechenland, Mädchen, bleibt ein Ehemann ein Mann! Und seine Frau hat ihren Platz zu kennen – und den Mund zu halten. Nikos Vassilis hat im Augenblick zwei Geliebte, die eine ist ein amerikanisches Model und die andere eine Athenerin mit zweifelhaftem Ruf. Mach dir keine Hoffnung, er wird keine von beiden deinetwegen aufgeben. Wenn ich von dir auch nur die leiseste Beschwerde darüber höre, wirst du es bereuen, verstanden?“
Egal, dachte Andrea, als sie, gefolgt von den wenigen Gästen, das Haus ihres Großvaters betrat und ihr ein Ober ein Glas Champagner anbot. Die Hochzeit war sowieso nur eine Farce und bedeutete gar nichts. Trotzdem – zwei Geliebte gleichzeitig! Nikos Vassilis musste ja ein schwer beschäftigter Mann sein! Sie trank einen Schluck und blickte sich verstohlen um. Was für ein verschwenderischer Luxus! Beinahe drei Wochen hatte sie jetzt hier gewohnt, und es war einfach furchtbar gewesen. Sie wollte wieder nach Hause, zurück zu ihrer Mutter und der kleinen feuchten Wohnung. Wenn Nikos Vassilis wüsste, in welchen Umständen sie in London lebte, wäre er sicher entsetzt gewesen. Was für eine Ironie! Die reiche Erbin hauste in einer einfachen Unterkunft und war bis heute arm wie eine Kirchenmaus gewesen. Sie hätte am liebsten laut gelacht, doch irgendwie blieb ihr das Lachen im Halse stecken.
Andrea saß mit geschlossenen Augen im Ledersessel und versuchte, sich zu entspannen. Die Champagnerflaschen waren geleert worden, die Gäste waren gegangen, und sie hatte auch die nicht enden wollenden Glückwünsche des Hauspersonals überstanden. Jetzt wartete sie darauf, dass Nikos aus der Bibliothek kam, wo er endlich den Vertrag unterschrieb, der ihn ans Ziel all seiner Träume brachte. Vor einer Stunde waren unzählige, ernst blickende Männer in teuren Anzügen aufgetaucht und in Yiorgos Coustakis’ Heiligtum verschwunden, um das wahre Geschäft des Tages abzuschließen.
Ihre Beine schmerzten, und Andrea massierte sie sanft. Zoe hatte ihr beim Umziehen geholfen, und sie trug jetzt wieder den Hosenanzug, den sie sich in London gekauft hatte. Das Personal hatte für die Flitterwochen den Kleiderschrank geleert, alles in sechs Koffer verpackt und diese schon vorgeschickt, doch Andrea hatte darauf bestanden, das Gepäck, das sie mitgebracht hatte, selbst zu tragen. Dabei war ihr vor allem der kleine Kosmetikkoffer wichtig, denn dort war der Schlüssel zum Schließfach am Athener Flughafen versteckt. Am Vorabend hatte sie Tony angerufen und ihn informiert, dass sie in vierundzwanzig Stunden zu Hause sein würde.
Die Uhr aus Goldbronze tickte leise, und die Zeit verrann. Es war sehr ruhig, und Andrea atmete tief durch. Bald würde alles vorbei sein …
Plötzlich öffnete sich die Tür zur Bibliothek, und Andrea hörte, wie sich die Besucher verabschiedeten. Schnell öffnete sie die Augen. Der Vertrag war also unterzeichnet, und Nikos würde sich jetzt dem nächsten Punkt auf der Tagesordnung zuwenden: mit seiner Braut in die Flitterwochen zu fahren. Sie lächelte spöttisch. Wütend auf ihn zu sein war das Beste, was sie jetzt tun konnte … und das Sicherste.
Nikos wechselte noch einige Worte mit ihrem Großvater, der sich gleich darauf wieder in sein Heiligtum zurückzog, und kam dann auf sie zu. „Bist du fertig?“, fragte er kühl. Er schien sehr angespannt zu sein.
„Ja“, antwortete Andrea und stand auf.
Schweigend verließen sie das Haus und wurden wenig später in der großen Limousine ihres Großvaters durch Athen chauffiert.
Schließlich war es Nikos, der die Stille unterbrach. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte er und öffnete ein verborgenes Fach, in dem Kristallschwenker und – karaffen standen. Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern schenkte sich einen großzügigen Drink ein und leerte das Glas in einem Zug. Dann stellte er es zurück und wandte sich wieder Andrea zu. „Wie fühlst du dich?“
Sie zuckte die Schultern. „Ganz gut.“
Er seufzte ungeduldig, lockerte seine Krawatte und öffnete sein Hemd.
Unwillkürlich blickte Andrea zu ihm hinüber – und wünschte, sie hätte es nicht getan. Er sah so gut aus, und als er sich durch sein wie Samt schimmerndes Haar fuhr, spürte sie, wie ihr Puls zu rasen begann.
„Theos, ich bin froh, dass alles vorbei ist“, sagte er plötzlich.
Sofort war das prickelnde Gefühl verschwunden. Er war also froh, dass alles vorbei war? Das war sie auch – und sie freute sich sogar noch mehr als er! Schweigend blickte sie aus dem getönten Fenster.
Nikos lehnte sich zurück und betrachtete seine Frau stirnrunzelnd. „Du hast keinen Grund zu schmollen, Andrea“, sagte er ungehalten. „Du hast diese Tortur genauso wenig genossen wie ich, aber jetzt sind wir endlich frei.“ Dann fragte er mit kalter Stimme: „Hast du dein Geld bekommen?“
„Ja.“
„Du wirst es nicht brauchen, denn ich werde dir all deine Wünsche erfüllen.“
Als Andrea nicht antwortete, seufzte er wieder. „So geht es nicht weiter“, sagte er ruhig, „wir müssen uns unterhalten. Wir sind jetzt verheiratet, und ich bin sicher, dass unsere Ehe gut funktionieren wird. Dein Großvater hat jetzt keine Macht mehr über uns, und es liegt an uns, das Beste aus der Situation zu machen. Ich für meinen Teil bin bereit dazu, und ich bitte dich, das Gleiche zu tun. Sobald die Flitterwochen vorbei sind, möchte ich, dass du mich deiner Mutter vorstellst. Ich hoffe sehr, dass sie mich mögen wird.“
Du wirst sie nie kennenlernen, dachte Andrea kühl, und sie wird nie erfahren, dass sie einen Schwiegersohn hat.
Nikos sprach weiter, doch sie hörte kaum hin. „Wir sollten auch darüber nachdenken, wo wir wohnen werden“, sagte er. „Ich habe ein Apartment in Athen, fände es aber schön, ein Haus zu haben. Lass uns etwas Entsprechendes suchen. Wir brauchen auch noch eine Unterkunft in London, wenn du deine Verwandten und Freunde besuchen willst, aber das klären wir bei unserem Besuch bei deiner Mutter. Außerdem schlage ich vor, dass wir uns eine Villa auf einer der griechischen Inseln kaufen, wo wir uns ungestört entspannen können.“
„Gut“, erwiderte sie desinteressiert. Er konnte planen, was er wollte, es war egal. Ihre Wege würden sich sowieso morgen trennen. Sobald sie im Hotel mit ihm allein war, würde sie ihm die Wahrheit über sich erzählen – und die Farce damit beenden.
Wütend betrachtete Nikos seine Frau. Er hatte nur höflich sein wollen, und sie reagierte überhaupt nicht! Das Ganze zerrte an seinen Nerven. Er war müde und überarbeitet. Die Fusion hatte sehr viel seiner Zeit in Anspruch genommen, kein Wunder bei einem Geschäft mit diesen Ausmaßen! Und trotz der vielen Arbeit hatte er sich bemüht, um Andrea zu werben, und sie ins Theater und in Konzerte ausgeführt.
Natürlich hatte er dabei auch einen Hintergedanken gehabt: Die Athener Geschäftswelt und die High Society sollten sehen, wie weit er es gebracht hatte – und das, obwohl er nur ein uneheliches Kind aus den Slums war!
Er hatte immer gehofft, seine zukünftige Frau für sich gewinnen zu können, aber sie hatte eine hohe Mauer um sich her errichtet, die er nicht einreißen konnte. Nur einmal, bei einem Konzert von weltbekannten Musikern, die eine Beethoven-Symphonie aufgeführt hatten, war sie so begeistert gewesen, dass sie alle Zurückhaltung vergessen hatte. Ihre Augen hatten gestrahlt, und sie hatte ihm lächelnd für den wundervollen Abend gedankt. Einen Moment lang war sie nicht mehr die kalte Engländerin gewesen, die nur an ihr Geld gedacht hatte.
Doch das war nie wieder vorgekommen. Vielleicht hatte er es sich ja auch nur eingebildet. Es gab nur ein Mittel, sie aus der Reserve zu locken. Wenn er sie berührte, begann sie am ganzen Körper zu zittern und konnte nicht verbergen, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Schon eine einzige Liebkosung reichte, um ihr zu beweisen, wie sehr er sie in der Hand hatte!
Zum ersten Mal seit Wochen entspannte er sich. Es war alles vorbei. Er hatte den Zenit seiner Karriere erreicht und wusste auch genau, wie er das feiern wollte. Schnell schloss er die Augen und stellte sich vor, wie er mit dieser begehrenswerten Frau endlich eins werden würde.
„Wo, zum Teufel, sind wir?“, fragte Andrea erschrocken.
„In Piräus, dem Hafen von Athen. Gleich werden wir an Bord gehen“, erwiderte Nikos lächelnd.
„An Bord gehen?“, fragte sie erschrocken.
Nikos blickte zu Andrea hinüber. Was war denn nun schon wieder los? Warum regte sie sich so auf?
Entsetzt blickte sie aus dem Fenster. Sie hatte während der Fahrt nur daran gedacht, was alles noch zu tun war, bevor sie mit ihrer Mutter nach Spanien ziehen konnte, und nicht darauf geachtet, wohin der Chauffeur die Limousine steuerte. Warum hatten sie nicht ein Zimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel in der Innenstadt bezogen, von wo aus sie ohne Schwierigkeiten am nächsten Morgen ein Taxi zum Flughafen hätte nehmen können? Stattdessen saß sie jetzt am Hafen fest und sollte an Bord dieses großen weißen Monstrums gehen!
Der Bedienstete öffnete ihr die Tür, Andrea stieg aus und spürte sofort, wie ihre Beine wieder zu schmerzen begannen. Aber das war nichts im Vergleich zu der Angst, die sie verspürte, als sie die Gangway sah, die zu der weißen Jacht hinaufführte.
„Komm“, sagte Nikos und nahm ihren Arm.
„Nein“, erwiderte sie und schüttelte den Kopf, „ich denke nicht daran! Was soll ich auf diesem Ungetüm?“
Nikos’ Miene wurde finster. Hatte Yiorgos Coustakis seiner Enkelin denn nichts erzählt? „Das ist das neue Spielzeug deines Großvaters. Er hat es uns für die Flitterwochen geliehen.“
Andrea konnte es nicht fassen. „Ich dachte, wir fahren in ein Hotel.“
„Wozu?“, fragte er erstaunt. „Hier sind wir viel ungestörter und können reisen, wohin wir wollen.“
„Ich gehe nicht auf dieses Ding!“
Nikos umklammerte ihren Arm fester und zog Andrea mit sich. Er konnte es nicht zulassen, dass sie ihn vor dem Chauffeur und der Crew lächerlich machte. Sie stolperte, und ehe sie sich’s versah, hatte Nikos sie hochgehoben. „Ich trage dich über die Schwelle“, rief er fröhlich und lief unter dem Beifall der Mannschaft die Gangway hinauf.
Andrea blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Gleich darauf setzte Nikos sie ab und machte sie mit dem Mann in einer weißen, mit goldenen Epauletten besetzten Uniform bekannt, der an Deck auf sie gewartet hatte. „Das ist Kapitän Petrachos, Andrea.“
Der ältere Mann begrüßte sie höflich. „Willkommen an Bord, Kyria Vassilis. Ich hoffe, Sie werden eine angenehme Reise haben.“
„Vielen Dank“, antwortete sie ausdruckslos.
„Wenn Sie fertig sind, können wir ablegen“, sagte der Kapitän, der nicht mitbekommen zu haben schien, was in Andrea vorging.
„Ich danke Ihnen“, erwiderte Nikos und reichte seiner Frau die Hand. „Komm, wir besichtigen die Jacht.“
Er umklammerte ihre Finger fester, als nötig gewesen wäre, und Andrea ging gehorsam mit ihm. In Gedanken war sie allerdings ganz woanders. Gut, Plan A war gescheitert, jetzt musste Plan B her. Sie würde schon dafür sorgen, dass sie morgen früh wieder im Hafen von Athen vor Anker gingen.
Obwohl sie sich geschworen hatte, unbeteiligt zu bleiben, bestaunte sie dennoch die luxuriöse, elegante Jacht. Die Vertäfelung bestand aus kostbaren, seltenen Hölzern, die Armaturen waren aus glänzendem Messing, die Sessel aus feinstem Leder, die Vorhänge aus Samt, und auf den Böden lagen Veloursteppiche. Dieses „Spielzeug“ ihres Großvaters musste ein Vermögen verschlungen haben!
Sie gingen wieder an Deck, und Andrea beobachtete schweigend, wie das griechische Festland am Horizont immer kleiner wurde. Nicht mehr lange, und sie würden auf offener See sein. Verzweifelt überlegte sie, wie sie Nikos zum Umkehren bewegen konnte.
Dieser betrachtete seine Frau mit gerunzelter Stirn. Sie schien immer noch zu schmollen. Was war los mit ihr? Sie befanden sich auf einer der teuersten, modernsten Jachten, die es auf dieser Welt gab, und Andrea sah aus, als wartete sie auf ihre Hinrichtung. Konnte man es ihr nie recht machen? Der alte Mann hatte sie viel zu sehr verwöhnt. Nun, das würde sich ändern. Er, Nikos, hatte jetzt das Sagen, und Yiorgos Coustakis’ Enkeltochter musste sich wohl oder übel daran gewöhnen.