Als Andrea eine Stunde später in das halbdunkle Zimmer geführt wurde, straffte sie sich und bereitete sich insgeheim auf die Auseinandersetzung mit ihrem Großvater vor. Zuerst dachte sie, der Raum wäre leer, doch dann befahl eine männliche Stimme auf Englisch barsch: „Komm her!“
Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte den alten Mann erkennen, der an seinem Schreibtisch saß. Langsam ging sie auf ihn zu und betrachtete dabei in aller Ruhe ihre Umgebung. Sie schien in einer Bibliothek zu sein, denn an den Wänden waren Regale befestigt, in denen unzählige Bücher standen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie ihren Großvater erreicht hatte. Natürlich, dachte sie erzürnt, genau das will er ja auch. Jeder, der dieses Zimmer betrat, war sofort im Nachteil. Gespielt fasziniert sah sie sich wieder um und tat so, als bemerkte sie den Mann am Schreibtisch gar nicht. Erst als sie direkt vor ihm stand, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn.
Das Erste, was ihr auffiel, waren seine Augen. Sie lagen tief in ihren Höhlen, und sein Gesicht war faltig und zerfurcht, doch sein Blick war durchdringend wie ein Messer.
„So“, sagte Yiorgos Coustakis heiser, „du bist also die Tochter dieser Hure!“ Er musterte sie abschätzend von Kopf bis Fuß und nickte dann. „Egal! Du erfüllst deinen Zweck.“
Andrea hatte so sehr gehofft, dass ihr Großvater sich vielleicht doch mit ihr versöhnen wollte, doch da hatte sie sich geirrt. Wie konnte er es wagen, ihre Mutter so zu nennen! Am liebsten hätte sie ihm gleich hier und jetzt die Meinung gesagt, aber sie beherrschte sich. Wenn sie die Fassung verlor, setzte dieser Widerling sie wahrscheinlich gleich ins nächste Flugzeug nach London – und zwar ohne jeden Penny!
Also blieb sie ruhig stehen und ließ ihn gewähren.
„Dreh dich um!“
Sie biss sich auf die Lippe, gehorchte dann aber schweigend.
„Du hast anscheinend gelernt, dich wie eine Dame zu bewegen“, sagte Yiorgos Coustakis schließlich kalt. „Das ist ja wenigstens etwas!“
Andrea dachte nicht daran, ihm zu antworten.
„Kannst du nicht sprechen?“, fragte er ungehalten.
Sie betrachtete ihn weiter schweigend, denn sie wollte keine Schwäche zeigen. In seinem Blick lagen Abscheu und Hass, und sie erkannte ganz deutlich, dass sie dieses Ungeheuer zu Recht ihr ganzes Leben lang verachtet hatte.
„Warum haben Sie mich hierher zitiert?“, fragte sie schließlich ausdruckslos.
„Wag es nicht, so mit mir zu reden!“, sagte er drohend.
Sie lächelte nur spöttisch, was seine Wut nur noch mehr anfachte. „Ich bin auf Ihren Befehl mehr als tausend Meilen geflogen“, erwiderte sie, und ihre Stimme war ganz ruhig, „und deshalb habe ich ein Recht darauf, zu erfahren, was Sie von mir wollen.“
Er lachte höhnisch. „Du hast ein Recht auf gar nichts! Ich weiß ganz genau, warum du gekommen bist. Du willst an meinem Reichtum teilhaben! Deswegen habe ich dir auch die goldene Kundenkarte geschickt, denn ich wusste ganz genau, dass du den Köder schlucken würdest!“ Der alte Mann beugte sich vor und stützte sich auf den polierten Mahagonitisch. „Lass dir eins gesagt sein: Ich gebe hier die Befehle. Wenn du mir nicht aufs Wort gehorchst, sitzt du im nächsten Flugzeug nach London. Verstanden?“
Er funkelte sie wütend an, doch sie hielt seinem Blick stand. Tony hat recht gehabt, dachte sie, er will etwas von mir. Nur was? Erst wenn sie das wusste, konnte sie ihre Forderungen stellen.
„Und was genau soll ich tun?“, fragte sie kurz angebunden.
„Das verrate ich dir, wenn ich so weit bin. Jetzt wirst du dich erst einmal zum Abendessen umziehen. Wir haben nämlich einen Gast. Da dir deine … Mutter“, er lachte spöttisch, „ja kein Benehmen beigebracht hat, werde ich es tun. In Griechenland haben sich die Frauen dem Mann unterzuordnen. Du solltest also deine Einstellung gut überdenken, denn wenn du mir in meinem Haus Schande machst, fliegst du im hohen Bogen hinaus. Jetzt geh!“
Andrea wandte sich ab und verließ die Bibliothek. Ihr Herz klopfte wild, und sie beruhigte sich erst wieder, als sie in ihrem Zimmer war und die Tür fest hinter sich geschlossen hatte. Das also war ihr Großvater, der Mann, dessen Sohn eine kurze, leidenschaftliche Affäre mit ihrer Mutter gehabt hatte.
Sie schuldete diesem Ungeheuer gar nichts! Keinen Respekt und schon gar keine Loyalität oder gar Liebe!
Um sich abzulenken, nahm sie ein Bad und genoss den Luxus, in dem mit Duftölen angereicherten Wasser zu liegen und den Schmerz in den verspannten Beinmuskeln von den Massagedüsen lindern zu lassen.
Du hast anscheinend gelernt, dich wie eine Dame zu bewegen. Das hatte beinahe wie eine Anklage geklungen, und Andrea schüttelte aufgebracht den Kopf.
Nachdem sie viel später aus der Wanne gestiegen war und sich ein flauschiges Frotteehandtuch umgeschlungen hatte, ging sie zurück ins Schlafzimmer und entdeckte eine Bedienstete, die gerade dabei war, unzählige Sachen in den Schrank zu hängen.
Das junge Mädchen wandte sich um, knickste und informierte Andrea in stockendem Englisch, dass sie ihr beim Ankleiden behilflich sein sollte.
„Ich komme allein klar“, antwortete Andrea schnell.
Die Bedienstete betrachtete sie erschrocken, und Andrea tat es leid, sie so schroff behandelt zu haben. „Vielen Dank, aber das ist nicht nötig“, sagte sie lächelnd und ging vorbei an dem großen Bett, auf dem eine schwere gold-weiße Tagesdecke lag, und stellte sich dann neben das Mädchen. Yiorgos Coustakis würde sich noch wundern! Bis auf den teuren Hosenanzug und den Schmuck hatte sie nichts mit der goldenen Kundenkarte gekauft, und so würde sie heute Abend einen ihrer alten Röcke und eine billige, im Kaufhaus erstandene Bluse anziehen. Doch als sie in den übergroßen Schrank sah, blieb sie starr stehen.
Die Stangen bogen sich unter der Last der noch in Plastik verpackten, an Bügeln aufgehängten Sachen. „Was …?“
„Kyrios Coustakis hat befohlen, Sie neu einzukleiden“, sagte das Mädchen leise. „Die Sachen sind eben erst geliefert worden. Was möchten Sie heute Abend tragen, Kyria?“
„Nichts davon“, erwiderte Andrea ungehalten und nahm ihren einfachen blauen Rock und die Bluse von der Stange.
Die Bedienstete war entsetzt. „Aber … nein, Kyria, das ist ein offizielles Essen …“ Ihre Stimme bebte. „Kyrios Coustakis wird sehr wütend werden, wenn Sie nicht angemessen angezogen sind.“
Andrea betrachtete sie schweigend. Die furchtsame Miene des Mädchens sagte alles. Wahrscheinlich würde Yiorgos Coustakis sie entlassen, wenn sie, Andrea, nicht standesgemäß gekleidet zum Dinner erschien. „Also gut, suchen Sie etwas für mich aus“, sagte sie seufzend und setzte sich aufs Bett.
Gleich darauf lagen zwei wundervolle Designer-Kleider neben ihr. Sie entschied sich für das bodenlange aus grüner Seide. „Das nehme ich“, sagte sie und blickte das junge Mädchen an. „Wie heißen Sie?“
„Zoe, Kyria“, erwiderte die Bedienstete leise.
„Nennen Sie mich bitte nicht so. Mein Name ist Andrea.“
Zwanzig Minuten später stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich prüfend. Sie sah fantastisch aus! Mit dem Kleid hatte sich der Modeschöpfer selbst übertroffen. Gut, das Oberteil mit den Spaghettiträgern war etwas gewagt, brachte aber ihre vollen Brüste gut zur Geltung. Das weiche Material umschmeichelte ihren Körper und fühlte sich sehr gut an. So etwas Wundervolles hatte sie noch nie in ihrem Leben getragen!
Zoe half ihr beim Aufstecken der Haare, und danach legte sie ein leichtes Make-up auf, das die Wirkung des Kleides noch unterstützte. Schließlich musterte sie sich noch einmal im Spiegel, wandte sich dann ab und ging zur Tür, wo der Bedienstete ihres Großvaters schon auf sie wartete. Er blickte sie bewundernd an, und einen Moment lang stellte sie sich vor, dass er nicht ein Angestellter, sondern der Mann war, den sie auf der Terrasse getroffen hatte …
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und folgte ihm dann die große marmorne Treppe hinunter.
Auf in den Kampf, dachte sie entschlossen.
Nikos Vassilis parkte seinen Sportwagen vor Yiorgos Coustakis’ Haus und schaltete den Motor aus. Er hatte denkbar schlechte Laune, denn er war jetzt schon zum zweiten Mal an diesem Tag in dieses unerträglich überfrachtete Haus beordert worden. Warum sollte er schon wieder ein Abendessen mit dem alten Mann über sich ergehen lassen, wo doch ganz andere Freuden auf ihn warteten? Xanthe hatte sich als willkommene Abwechslung zu Esme Vandersee herausgestellt – kein Wunder, denn ihre üppigen Formen waren etwas ganz anderes als Esmes schlanker Modelkörper. Er freute sich schon darauf, sie wieder zu besuchen, wenn er diesen Pflichttermin hinter sich gebracht hatte.
Yiorgos Coustakis war eine richtige Nervensäge. Er glaubte wohl, ihn, Nikos, herumkommandieren zu können, und das nur so zum Spaß! Ihre Besprechung an diesem Nachmittag war völlig überflüssig gewesen, denn die Einzelheiten der Fusion von Vassilis Inc. und Coustakis Industries sollten sowieso den Anwälten und Finanzberatern überlassen werden. Aber offensichtlich fand es der alte Mann lustig, ihn nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.
Plötzlich fiel ihm die Aphrodite wieder ein, die er auf der Terrasse gesehen hatte. Eins musste man Yiorgos Coustakis lassen: Was seine Geliebten anging, so hatte er einen erlesenen Geschmack.
Nikos’ Miene wurde finster. Diese Frau hatte kein Schamgefühl. Es schien ihr nichts auszumachen, dass der Alte ihr Großvater hätte sein können. Ganz im Gegenteil! Sie hatte sogar die Frechheit besessen, ihn, Nikos, herauszufordern.
Wenn sie nicht mit diesem abscheulichen, verknöcherten Mann ins Bett gehen würde, hätte Nikos bestimmt nichts gegen eine Liaison einzuwenden gehabt. Die Unbekannte war faszinierend und bestimmt eine gute Liebhaberin. Schade drum!
Schnell verdrängte er jeden Gedanken an sie. Immerhin sollte er bald heiraten! Wo war eigentlich seine zukünftige Braut? Es wurde Zeit, dass Yiorgos Coustakis sie ihm endlich vorstellte.
Seufzend glitt er vom Sitz und ging die imposante Treppe hoch, die zur Eingangstür führte. Hoffentlich hielt der alte Mann ihn nicht zu lange auf, denn Xanthe wartete sicher schon ungeduldig!