Kapitel 3

 

Im Passagierabteil der Amazonas ging Major Kira vor dem versammelten Rettungsteam auf und ab, während sie die Mitglieder kritisch musterte. Wenn Sisko nicht so verbohrt wäre, dachte sie wütend, hätte ich dafür gesorgt, dass dies eine rein bajoranische Mission wird. Sie hätte sich viel heftiger dafür eingesetzt, wenn sie nicht so sehr unter Zeitdruck gestanden hätten. Sie durfte keine weiteren Verzögerungen riskieren, denn es war ihre vordringlichste Aufgabe, Ttan wiederzufinden.

Die fünf Föderationsoffiziere – drei Männer und zwei Frauen, allesamt Menschen – hatten Haltung angenommen und den Blick starr auf die Wand gerichtet.

Kira musste ein stilles Lächeln unterdrücken. Mein Ruf eilt mir voraus, dachte sie nicht ohne Stolz. Wenn ich jetzt »Buh!« mache, würden sie vermutlich auf der Stelle an einem Herzinfarkt sterben.

Sie war stolz auf ihren Ruf als knallharter bajoranischer Offizier. Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit bemühte sie sich, genau diesen Eindruck zu erwecken. Die jetzige Situation stellte keine Ausnahme dar. Wenn sie unter Beschuss gerieten, mussten diese Männer und Frauen bereit sein, ihren Befehlen ohne Zögern Folge zu leisten.

Sie berichtete noch einmal über die Ereignisse, die zur Gefangennahme der Horta geführt hatten. Dabei war sie in Gedanken schon beim bevorstehenden Kampf gegen die Cardassianer. Sie hatte noch eine Menge alter Rechnungen zu begleichen – auch wenn sie dazu nur ein Sicherheitsteam aus Menschen zur Verfügung hatte.

Wenigstens hatte Sisko bei der Zusammenstellung der Gruppe einige sinnvolle Entscheidungen getroffen. Die Fähnriche Duane Wilkens und Ian Muckerheide hatten beide die gleiche kupferne Haarfarbe. Sie waren ein gutes Team. Kira hatte gelegentlich beobachtet, wie sie Odo dabei halfen, die Schlägereien zu beenden, die immer wieder in Quarks Bar ausbrachen. Fähnrich Delia Parks war blond und hatte ihr Haar hinter dem Kopf zu einem festen Knoten zusammengebunden. Auch eine gute Wahl, dachte Kira. Parks war intelligent, ehrgeizig und konnte wahlweise als Pilot oder Navigator eingesetzt werden, wenn sich die Notwendigkeit ergab. Der große, blasse Fähnrich Sven Jonsson hatte die cremige Hautfarbe von Kaafa-Milch. Er bestand nur aus sehnigen Muskeln. Kira hatte einmal gesehen, wie er zwei betrunkene Klingonen in die Arrestzellen geschleift hatte. Und zu guter Letzt kam Fähnrich Natalia Aponte, eine schwarzhaarige und dunkelhäutige Schönheit. Aponte hatte für Kira immer ein Rätsel dargestellt. Sie schien ständig alles und jeden in ihrer Umgebung zu beobachten, als würde sie jederzeit damit rechnen, dass etwas Ungewöhnliches und völlig Unerwartetes geschah. Ihre Art war Kira oft unangenehm, aber jetzt konnte sie ihre Wachsamkeit gut gebrauchen. Niemand würde sich unbemerkt an sie heranschleichen, wenn Fähnrich Aponte auf Posten war.

Kira beendete ihre Zusammenfassung mit den Worten: »Noch Fragen?«

»Sir«, meldete sich Fähnrich Jonsson.

»Was gibt es, Fähnrich?«

»Sollten wir uns nicht mit Schutzanzügen ausrüsten?«

Eine gute Frage, dachte Kira. »Dax?«, rief sie. »Was meinen Sie dazu?«

»Überflüssig«, antwortete Dax, die an ihrer Station letzte Überprüfungen durchführte. »Cardassianische Bergwerke finden sich fast ausschließlich auf Planeten der M-Klasse. Andernfalls könnten sie nicht kostendeckend arbeiten.«

»Was ist, wenn sie Ttan irgendwo abgesetzt haben, wo nur eine Horta überleben kann?«, hakte Jonsson nach.

»Unwahrscheinlich«, sagte Kira. »Die Cardassianer sind Kontrollfanatiker. Für sie dürfte eine Horta nicht mehr als ein neues Spielzeug darstellen. Glauben Sie mir, sie werden nach einer Möglichkeit suchen, sie zu ihrem Nutzen in irgendeinem ihrer Bergwerke einzusetzen. Noch weitere Fragen?«

Niemand meldete sich zu Wort. Gut, dachte Kira, alles andere wäre Zeitverschwendung.

»Schnallen Sie sich an«, sagte sie und sah zu, wie die Gruppe ihrer Aufforderung Folge leistete.

Kira drehte sich um und ging zu Dax hinüber. Als wäre die Situation nicht schon schlimm genug, schaute Bashir ihr über die Schulter und redete ohne Atempause auf sie ein – wie aufregend die bevorstehende Mission war und so weiter. Wenn Kira während der ganzen Reise den Arzt im Nacken hatte, würde sie irgendwann verrückt werden.

»Major«, sagte Dr. Bashir. »Glauben Sie, dass wir in richtige Kampfhandlungen verwickelt werden könnten?«

»Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde darauf achtgeben, dass Sie nicht in die Schusslinie geraten«, sagte Kira. Sie wandte sich an Dax und fragte: »Wie ist unser Status?«

»Alles in Ordnung«, antwortete Dax. »Die Zentrale hat uns gerade Starterlaubnis erteilt.«

»Doktor?« Kira warf Bashir einen Blick zu. »Sind Sie bereit?«

Er zeigte grinsend auf eine kleine schwarze Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand. »Ich habe alles dabei, was von Nutzen sein könnte. Dank Dr. Leonard McCoys bahnbrechender medizinischer Erkenntnisse über die Hortas kann ich Ttan sogar behandeln, falls sie schwer verletzt wurde.«

»Sehr gut«, sagte Kira. »Nehmen Sie hinten bei den anderen Platz. Wir fliegen in einer Minute los.«

Kira unterbrach den Arzt, als er den Mund zu einem Protest öffnen wollte. »Das ist ein Befehl, Doktor.« Das letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein aufgeregter Arzt, der während des Starts von DS Nine in der Kabine herumsprang.

»Es könnte sein, dass wir unterwegs kräftig durchgeschüttelt werden«, fügte Dax hinzu. »Deshalb sollten Sie gut auf die Besatzung achtgeben.«

»Richtig!«, sagte Bashir, während sich seine Miene aufhellte. Er nahm seine Tasche und ging nach hinten.

»Alle Humanoiden haben ihre Eitelkeiten, Major.«

Einen kurzen Augenblick lang fragte Kira sich, ob Dax über telepathische Fähigkeiten verfügte. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«, fragte sie schließlich. Wenn ja, dann sollte ich noch etwas an meinem Auftreten arbeiten, dachte sie.

»Sie verstecken Ihre Motive ganz gut. Aber im Prinzip, ja.« Dax lächelte ihr flüchtig zu.

»Warum … nun, Sie wissen schon … ermutigen Sie ihn?«

»Ich muss zugeben, dass mein Wirt ihn durchaus … attraktiv findet.«

»Attraktiv? Ihn?«

»Wenn Sie ihn vielleicht etwas besser kennen würden …«

Kira schnaufte verächtlich, als eine Reihe dumpfer Schläge durch den Flitzer hallten. Es mussten die Andockklammern sein, die gerade gelöst wurden, dachte sie. Sie beugte sich vor und studierte die Anzeigen auf der Konsole. Die Maschinen hatten volle Energie, die künstliche Schwerkraft war aktiviert, die Waffensysteme bereit. Sie hoffte, dass es nicht tatsächlich zu Gefechten kam, denn ein cardassianischer Kampfkreuzer könnte sie mühelos atomisieren. Nein, sie mussten sich auf einen schnellen Vorstoß und einen schnellen Rückzug beschränken, wie Sisko gesagt hatte. Sie erlaubte sich ein knappes Lächeln. Und genauso wie in alten Zeiten würde es wieder ein paar cardassianische Schleimteufel weniger geben, wenn Kira aus dem Einsatz zurückgekehrt war.

Sie aktivierte den Antrieb und ließ den Flitzer mit einer leichten Drehung aufsteigen. Durch eine Serie leichter Triebwerksstöße, die nicht vollständig von der künstlichen Schwerkraft abgefangen wurden, brachte sie das Schiff von DS Nine fort.

»Wir haben uns vom Andockring gelöst«, meldete Dax.

Kira sagte: »Wir gehen auf Impulsantrieb.« Sie beobachtete auf dem Bildschirm, wie sich der Flitzer elegant drehte und dann beschleunigte. Deep Space Nine schrumpfte zu einem Stern und verschwand schließlich ganz. Kira beschleunigte immer noch. Schließlich wussten sie nicht, welche Torturen Ttan durchmachte, während sie unterwegs waren.

»Kurs eins neun acht Komma vier«, sagte Dax.

Das war die Stelle, wo die Cardassianer die Puyallup angegriffen hatten, erkannte Kira nach einer schnellen Berechnung. »Warum nehmen Sie nicht Kurs auf Xoxa?«, wollte sie wissen.

»Chief O'Brien hatte eine bessere Idee«, antwortete Dax. »Ich hatte noch keine Zeit, Ihnen davon zu erzählen. Er hat die Sensoren der Amazonas so kalibriert, dass wir damit ionisierte Partikel orten können, die durch eine Subraumverzerrung verursacht wurden.«

»Sie wissen, dass das Wurmloch sämtliche Subraumspuren durcheinanderbringt und verwischt …«

»Richtig. Aber wenn wir schnell genug dort eintreffen, denke ich, dass wir noch einige Restspuren finden können. Und je weiter wir uns vom Wurmloch entfernen, desto deutlicher müsste die Spur werden.«

»Es wäre einen Versuch wert, schätze ich«, sagte Kira langsam. Aber ich würde es vorziehen, wenn ich das nächste Mal als erste informiert würde, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Wenn es nicht funktioniert, haben wir nur eine halbe Stunde Zeit verloren. Und wenn doch …«

»Wenn doch«, vervollständigte Kira ihren Satz, »haben wir uns eine Menge unnötiger Sorgen erspart … und womöglich einen großen Fehler.« Das ist das einzige, was am Ende zählt, dachte sie.

 

Ttan spürte, dass sie von einem gewaltigen Nichts umgeben war. Ihre Fühler rotierten ohne Halt; ihre Sinnesorgane registrierten nur schwache Spuren von Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid; sie hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Nirgendwo der vertraute Geschmack von Mineralien, keine tröstende Festigkeit, in die sie sich bohren konnte.

Sie versuchte, dagegen anzukämpfen, doch sie wurde wieder von derselben Panik überwältigt wie damals, als sie zum ersten Mal den Himmel über Janus VI gesehen hatte. Sie begann entsetzt zu schreien, ein schrilles, kreischendes Geräusch, das nicht aufhörte. Ihre Fransen flimmerten hektisch. Säure schoss unkontrolliert aus ihren Drüsen.

»Hör damit auf, Horta!«

Als die Stimme sprach, wurde es gleichzeitig hell, und das Licht offenbarte ihr eine riesige Höhle. Ttan stellte fest, dass sie mitten zwischen Boden und Decke schwebte und langsam entgegen dem Uhrzeigersinn rotierte. Die Wände der Kammer bestanden aus stabilen Metallträgern. Der Boden schien mit Metallplatten ausgelegt zu sein … genauso wie der Boden des Föderationsschiffes, das sie nach Bajor gebracht hatte.

Ttan brachte sich wieder unter Kontrolle. Ihre Körpersäuren hatten bereits Spuren im Boden und auf den Wandplatten hinterlassen, wie sie peinlich berührt feststellte. Erste Mutter, hatte sie tatsächlich wie ein gerade geschlüpftes Junges die Beherrschung über sich verloren?

Sie erkannte, dass sie sich in einem anderen Schiff befinden musste, das nicht mit einer speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Betonfüllung versehen war. Sie wurde durch eine Art Traktorstrahl in der Schwebe gehalten. Das erklärte ihr Gefühl des Fallens und die Abwesenheit einer Masse, in die sie sich graben konnte.

»Kreatur!«, brüllte die Stimme.

Ttan schaffte es, sich auf den Humanoiden zu konzentrieren, der sich mit ihr im Raum befand. Er trug glänzend schwarze Kleidung, die nur seinen Kopf, den Hals und die Hände freiließ. Er stand in einer offenen Schleusentür und beobachtete sie. Seine blasse Haut wirkte seltsam gerippt, als wäre sein kleiner Kopf mit dicken Muskelsträngen an seinem Körper befestigt.

»Kreatur!«, brüllte er noch einmal. »Antworte mir!«

»Ich heiße Ttan«, sagte Ttan. Der automatische Translator, der an ihrem Rücken befestigt war, sprach für sie und fügte ihrer Stimme ein kaum wahrnehmbares Zittern hinzu.

»Ttan«, erwiderte der Humanoide etwas sanfter. »Du wirst dir meine Anweisungen anhören und ihnen gehorchen. Ich bin Gul Mavek, und du befindest dich jetzt an Bord meines Schiffes, der Messerklinge

»Warum haben Sie das getan?«, wollte Ttan wissen. »Wohin bringen Sie mich? Was ist mit meinen Kindern geschehen?«

»Keine Fragen, Ttan. Wir wollen, dass du für uns einige sehr spezielle Aufgaben erfüllst. Wenn du sie zu unserer Zufriedenheit erledigst, werden wir dich belohnen. Wenn du kooperierst, wirst du vielleicht sogar die Freiheit zurückbekommen … und deine Kinder ebenfalls.«

»Bitte, ich muss wissen …!«, sagte Ttan.

Doch der Humanoide hatte sich bereits zurückgezogen. Als die Schleusentür sich rollend schloss, wurde es wieder dunkel.

Erneut begann Ttan zu schreien.