Möglicherweise hat es Avi Loeb in der Hand, in naher Zukunft den ersten Beweis für die außerirdische Herkunft von UFOs zu präsentieren. Neue Forschungsprogramme wie Loebs Galileo Project könnten darüber Aufschluss bringen, da sie neue empirische Daten sammeln und auswerten. Loeb befasst sich nicht mit vergangenen UFO-Fällen, ist jedoch offen für eine Diskussion darüber. Das empirische Datensammeln ist aber nicht so einfach, wie es aussehen mag. »Wissenschaftler zu werden hat den großen Vorteil, seine kindliche Neugier zu befriedigen und ungerechtfertige Ansichten zu hinterfragen«, sagt Avi Loeb hierzu. »Aber diese Gelegenheit bringt nichts, wenn die Menschen sie nicht ergreifen.«299
Wenn junge Studenten die Gelegenheit ergreifen, dann seien sie von Beginn an einem Druck der Bewertung durch Fachkollegen ausgesetzt. Die Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit und die Eingliederung in einen Konsens verliefen auf unterschiedlichen Bahnen.300 Jugend sei nicht eine Sache von biologischem Alter, sondern der inneren Einstellung.301 Gegen den wissenschaftlichen Mainstream zu schwimmen ist ein mutiges Unterfangen. Und mit seinem Postulat, das interstellare Objekt ’Oumuamua sei möglicherweise ein außerirdisches Artefakt, schwimmt Loeb gegen forschungspolitische Stromschnellen an, die ihn in große Bedrängnis bringen könnten.
Avi Loebs eigene Einstellung ist die Offenheit gegenüber dem Unbekannten. Das größte Geschenk dabei sei für ihn, das Unbekannte zu erforschen und das Risiko nicht zu scheuen. Neugier ist seine Motivation. Der kindlich-spielerische Forschungsansatz sei wichtig.302 Dabei begegnet Avi Loeb Skeptikern mit einer entwaffnenden, verständnisvollen Offenheit, gibt jedoch zu bedenken, dass unbekannte Luftphänomene nicht verschwänden, wenn man nicht hinsehe: »Nicht aus den Fenstern zu schauen, bedeutet nicht, dass Ihre Nachbarn nicht da sind«, so Loeb.303
Seine Neugierde siegt zweifellos über die Angst, sich als Wissenschaftler lächerlich zu machen. Auch wenn er selbst sich nicht als das sozialste Wesen sieht und es vorzieht, allein in der Natur unterwegs zu sein, so spiegelt die lange Liste der Mitarbeiter und Unterstützer des Galileo Projects die Ernsthaftigkeit seiner wissenschaftlichen Neugierde wider.304 Psychologische Studien bestätigen Avi Loebs Verhalten, dass neugierige Menschen mehr und intimere soziale Kontakte pflegen.305 Menschen mit neugierigen Persönlichkeiten sind offener gegenüber Ängsten und anpassungsfähiger an ungewisse Situationen. Sie sind spielerischer in der Problemlösung und humorvoller bei Konflikten.306 In anderen Worten: Avi Loeb ist sich des persönlichen Risikos seiner Forschung bewusst. Er toleriert und akzeptiert diese Angst, schreitet jedoch unbeirrt voran.
So scheute Loeb es nicht, mit einem Team von Wissenschaftlern nach Papua-Neuguinea zu reisen, um vor der Insel Manus auf dem Boden des pazifischen Ozeans nach einem am 8. Januar 2014 abgestürzten Objekt zu suchen, das aller Wahrscheinlichkeit nach von außerhalb unseres Sonnensystems stammt. Die Besonderheit ist, dass das amerikanische Verteidigungsministerium den Absturz des Objekts registrierte und den Impaktort geografisch sehr genau eingrenzen konnte. Die Trümmerreste befinden sich in ungefähr zwei Kilometern Tiefe. Die Zusammensetzung des Objekts ist so ungewöhnlich, dass Loeb über seine künstliche Natur spekuliert, so wie bei ’Oumuamua:307 Messungen mit Gammastrahlenspektrometern lassen den Schluss zu, dass die kugelartigen Metallobjekte aus Eisen und Titan bestehen – laut Loeb Anzeichen für technologische Artefakte.308 Loeb scheut demnach auch keine peinlichen Momente, sollten sich die Trümmer als die Reste eines gewöhnlichen Meteoriten herausstellen.
Loeb hebt sich somit bewusst von den SETI-Wissenschaftlern ab, die sich selbst ideell von UFO-Forschern abgrenzen, um nicht als verrückte Außenseiter dazustehen. Dem amerikanischen Fernsehastronomen Neil de Grasse Tyson, der sich skeptisch über den Bericht des Direktors der Nationalen Geheimdienste und 143 ungeklärte Begegnungen von Piloten der US Streitkräfte mit unbekannten Luftphänomenen äußerte, warf Loeb vor, sich nur um seine Twitter-Follower zu sorgen, anstatt wirklich Wissenschaft zu betreiben. »Ich will damit sagen, dass eine intelligente Kultur von den Leitprinzipien der Wissenschaft angetrieben wird oder diese sogar befolgt, und dazu gehört der Austausch von evidenzbasiertem Wissen. Was Neil deGrasse Tyson tut, ist nicht die Weitergabe von evidenzbasiertem Wissen, sondern die Ablehnung von Evidenz.«309
Avi Loeb nimmt kein Blatt vor den Mund und hält es für möglich, dass die UFO-Begegnungen der Navy-Piloten außerirdischer Herkunft sein könnten. Tatsächlich hält er diese Erklärung für plausibler als natürliche Atmosphärenphänomene oder geheime Waffenprojekte von Ländern wie Russland oder China.310 Seine Meinung deckt sich inzwischen mit einer neuen Haltung der NASA, die offen einräumt, dass die Erde bereits von Außerirdischen besucht worden sein könnte.311 Die NASA verkündete im Juni 2022 erstmals in ihrer Geschichte unbekannte Luftphänomene (UAP/UFOs) in einem großangelegten Projekt zu erforschen, das der Astrophysiker David Spergel von der Princeton University leitet.312
Bei einer ersten öffentlichen Sitzung des NASA-Forschungsteams am 31. Mai 2023 präsentierte Dr. Sean Kirkpatrick, der ehemalige Leiter der UFO-Untersuchungsbehörde All-domain Anomaly Resolution Office (AARO) des Pentagons, Filmaufnahmen, die eine Kampfdrohne im Nahen Osten gemacht hatte. Sie offenbarte eine metallisch anmutende Kugel, die über eine Ortschaft in einer Wüstengegend ohne erkennbaren Antrieb flog und eigenständig die Richtung änderte. Kirkpatrick kommentierte das Phänomen mit folgenden Worten: »Dies ist ein typisches Beispiel für die Dinge, die wir am häufigsten sehen. Wir sehen sie überall auf der Welt und wir sehen sie bei sehr interessanten offensichtlichen Manövern.«313
Derartige Sichtungen wie diese Kugel sind auch für Avi Loeb von großem Interesse. Für das »Tabu«, das die US-Regierung aufbaute, um »den kultischen Wahnsinn« und die Folklore um die UFO-Sichtungen einzudämmen, zeigt Loeb ein gewisses Verständnis.314 Er kritisiert jedoch, dass die Piloten der US Navy und der US Air Force bedingt durch das UFO-Tabu und die damit verbundene Stigmatisierung nicht noch viel mehr Sichtungen und Begegnungen gemeldet haben. Wenn es sich bei den Objekten, die Piloten der US Navy meldeten, um atmosphärische oder außerirdische Phänomene handelte, dann sei das aufregend, weil man etwas Neues gelernt hätte.315 So ist nach der Veröffentlichung des DNI-Berichts der vereinigten Geheimdienste für Loeb der nächste logische Schritt, die Erforschung unbekannter Luftphänomene den jahrzehntelangen Mühlen der Geheimhaltungs- und Abstreitungs-Politik des Pentagons zu entreißen und sie wissenschaftlich neutral zu betreiben.316
Loeb sieht diese Entwicklung um UFOs als Gelegenheit für die Wissenschaft, den Nebel der Unkenntnis zu lichten. Selbst wenn die Forschungsergebnisse uns fremdartig erscheinen, sollten wir sie seines Erachtens nicht scheuen. Loeb erklärt:
»Und wir sollten Abweichungen von unseren Erwartungen respektieren, weil sie einen neuen Weg zu einem neuen Verständnis, zu einem neuen Lernen über die Realität und über die Natur eröffnen, anstatt sie ins Lächerliche zu ziehen, anstatt immer zu denken, dass das, was wir finden werden, dem entspricht, was wir erwartet haben«.317
Wie konnte es soweit kommen, dass ein respektierter, gestandener Physiker wie Avi Loeb überhaupt unbekannte Luftphänomene erforscht und Hi-Tech-Unternehmen seine Erforschung von UFOs bereitwillig mit großen Geldsummen unterstützen? Warum setzt sich Loeb für die Erforschung des UFO-Phänomens ein und riskiert damit, dass es durch seine Aktivitäten zu einem Erstkontakt mit außerirdischen Intelligenzen oder einer Enthüllung streng geheimer Regierungsgeheimnisse um eine mögliche außerirdische Präsenz kommen könnte? Avi Loebs Galileo Project wurde nur möglich durch den Milliardär Robert Bigelow. Was aber auf den ersten Blick wie eine Pioniertat klingt, ist bei näherer Betrachtung von merkwürdigen, teils dubiosen Umständen begleitet.
Robert Bigelow ist ein Immobilien- und Raumfahrtunternehmer. Als er drei Jahre alt ist, berichten ihm seine Großeltern mütterlicherseits, dass sie über den Bergen von Nevada ein UFO gesehen hätten, das sich ihrem Auto näherte.318 Üblicherweise sind UFOs kein Gesprächsstoff für einen Dreijährigen. So müssen die Großeltern von dem Erlebnis nachhaltig beeindruckt oder sogar traumatisiert worden sein, dass sie es ihrem Enkel berichten. Dies geschieht 1948, wenige Monate, nachdem die USA mit Sichtungswellen von unbekannten Luftphänomenen überrollt werden. Im Alter von 13 Jahren beschließt Bigelow, Weltraum- und UFO-Forschung betreiben zu lassen, wenn er einmal das Geld dazu habe. Er schließt sogar einen inneren Vertrag mit sich ab. Über eine persönliche unheimliche Begegnung, die ihn nach eigener Auskunft prägte, möchte er bis heute Stillschweigen bewahren.319
Robert Bigelow wächst in Las Vegas, dem Sündenbabel für Glücksspieler, auf. Ab 1951 zündet das »Department of Energy« 70 Meilen nordwestlich von Las Vegas auf der »Nevada Test Site« oberirdisch und unterirdisch hunderte Nuklearsprengköpfe. Die Krebsrate steigt ab den 1950er-Jahren rasant an.320 Der nukleare Fallout zieht bis Utah. Auch die Nukleartests und die damit verbundenen, von vielen Zeugen berichteten unbekannten Luftphänomene werden Bigelow beeindruckt haben. Bigelow studiert ab 1962 Banken- und Immobilienwirtschaft und macht 1967 an der Arizona State University seinen Abschluss. Dann tritt er in die Fußstapfen seines Vaters, eines Immobilienhändlers. Bigelow gründet 1987 die Firma Budget Suites, in denen Reisende länger in einem Apartment wohnen können, als es ihnen ein Motel preislich ermöglichen würde. Das Konzept ist sehr erfolgreich.
1999 schließlich ist es soweit: Bigelow hat mit seinen Immobiliengeschäften genug verdient, um Bigelow Aerospace zu gründen und sich seinen Kindheitstraum zu erfüllen.321 Ein Jahr später erhält er von der NASA die Genehmigung, aufblasbare Weltraumhabitate zu entwickeln. 2006 und 2007 werden zwei seiner Habitate (Genesis 1 und 2) in den Weltraum gebracht. Ein Habitat dockt erfolgreich an die Internationale Raumstation ISS an.322
Doch ab 1996 wird es merkwürdig, ja, geradezu bizarr. Bigelow erwirbt für 200.000 US-Dollar eine 207 Hektar große Ranch, die sich auf indianischem Boden im Uinta-Becken des Bundesstaates Utah unweit des Örtchens Fort Duchesne befindet. Die Sherman-Ranch, benannt nach ihren letzten Besitzern, trägt auch den umgangssprachlichen Namen Skinwalker. Ein Skinwalker ist der Navajo-Mythologie zufolge ein Hexer oder böser Schamane, der sich als Coyote tarnen kann. Die Familie Sherman wohnte 18 Monate dort und soll häufig UFOs und auch paranormale Erscheinungen wie Poltergeistphänomene gesehen und erlebt haben, bevor sie die Ranch an Robert Bigelow verkaufte.323
Die Gegend ist kulturell sehr reichhaltig. Auf der etwa 34 Meilen nordöstlich von der Skinwalker-Ranch gelegenen McConkie-Ranch bei Vernal finden sich faszinierende Petroglyphen, die Indianer der Fremont-Kultur, benannt nach dem Fluss Fremont, zwischen 500 und 1300 n. Chr. in die Felsen eingearbeitet haben. Sie zeigen etwa Jagdszenen oder schamanische Handlungen. Anthropologen gehen davon aus, dass sich die Fremont-Indianer an die Gegend anpassten und nicht nur jagten, sondern auch Landwirtschaft betrieben.324 Manche Petroglyphen zeigen mehrdeutige trapezoide Darstellungen von männlichen Figuren. Eine derartige Petroglyphe zeigt einen Schamanen mit Geweih, der neben einem handlosen, roboterhaft anmutenden Wesen steht. Zwischen ihnen prangt ein Stern am Himmel. Zweifellos kann bei dem Anblick manchen Enthusiasten die Fantasie durchgehen. Spiralen und konzentrische Kreise auf den Petroglyphen weisen möglicherweise tatsächlich auf astronomische Ereignisse im 11. Jahrhundert hin, die die Indianer der Fremont-Kultur beobachtet haben könnten. Sie dokumentierten aber wohl nur die Supernova von 1054 n. Chr. im Krebsnebel, die von der Erde aus sichtbar war. Vielleicht dokumentierten sie aber auch etwas anderes. Anthropologen und Völkerkundler diskutieren verschiedene Interpretationen.325
Die mündliche Überlieferung besagt, dass die Navajo-Indianer, die durch den Ute-Stamm, die Spanier im 18. Jahrhundert und die Glaubensgemeinschaft der Mormonen im 19. Jahrhundert verdrängt wurden, das Land verfluchten, auf dem die Skinwalker-Ranch steht. Dieser Fluch, an den die Ute noch heute glauben, wird durch die Folklore um die Ranch verstärkt. Die Ute-Indianer betreten die Ranch nicht.326 Menschen, die sich der Ranch nähern, sollen angeblich spontan starke Furcht entwickeln. Wahrscheinlich ist die Angst dem Nimbus eines gefährlichen Gebiets verschuldet, den der Fluch nährt.327
Berichte über UFO-Sichtungen im Uinta-Becken reichen jedoch mindestens bis in die 1970er-Jahre zurück.328 Vielleicht auch noch weiter. So habe der Folklore zufolge bereits der Franziskaner-Mönch und Missionar Silvestre Vélez de Escalante im Jahr 1776 bei Duchesne im Uinta-Becken einen nächtlichen Feuerball über dem Lager bei El Rey schweben sehen.329 Das Problem dabei ist, dass Escalantes Tagebuch keinerlei Feuerbälle erwähnt. Im Gegenteil offenbart das Tagebuch die präzise Vermessung durch den Kartografen der Reisegruppe anhand der Sterne. Keine Spur von merkwürdigen Phänomenen.
Die Akten des Projekt Blue Book der US Air Force verraten, dass die meisten Zeugen in Utah nur UFO-Sichtungen westlich von Salt Lake City machten – und nicht um die abgelegene Skinwalker-Ranch. Tatsächlich stammen nur zwei Sichtungen aus dem weiteren Umkreis von mehr als 50–60 Meilen um die Skinwalker-Ranch. Wenn das Gebiet jedoch ein »Hotspot« ist, warum meldeten dann Zeugen nicht Sichtungen im Uinta-Becken an die US Air Force und somit auch Projekt Blue Book? Lag es an der Angst, sich lächerlich zu machen? Oder gab es die Sichtungen schlichtweg nicht?
Dabei könnten die UFO-Sichtungen im Uinta-Becken in den 1960er- und 1970er-Jahren auf einen ähnlichen Mechanismus zurückgehen, wie die Lichter von Hessdalen. Einer Theorie zufolge bilden sich die Leuchtkugeln von Hessdalen aus Plasma, das durch ionisierte Luft und Staub durch Alphateilchen während des Zerfalls des Gases Radon in der Atmosphäre entstehen kann. Staub und Radon sind im Uinta-Becken allgegenwärtig, die Krebsrate ist dementsprechend hoch. Auch ist die Geologie dort seismisch sehr aktiv und reich an unterirdischen Kohlenwasserstoffen, was auf Kammern von Erdöl und Erdgas hinweist.330 Die Gegend ist ferner berüchtigt für reichhaltige Edelmetalllager. Die Spanier suchten hier bereits Gold.331
Gold ist ein ausgezeichneter elektrischer Leiter. So könnte durch natürliche Piezoelektrizität Strom durch das Gestein fließen, mit dem Radonstaub wechselwirken und theoretisch leuchtende Plasmabälle erzeugen. Der umstrittene kanadische Neuropsychologe Michael Persinger brachte die Lichterscheinungen im Uinta-Becken von Utah mit seiner Tectonic Strain Theory mit Erdbebenlichtern in Verbindung, die durch seismische Reibungen in der Erdkruste entstehen. Die UFO-Sichtungswelle von 1967 in der Region führte Persinger auf diese natürlichen seismischen Phänomene zurück.332 Wissenschaftler kritisieren jedoch Persingers Theorie, weil Erdbebenlichter nur vor oder nach Erdbeben erscheinen und UFO-Zeugen im Uinta-Becken Aussagen zu Sichtungen machten, die zeitlich nicht mit der Theorie übereinstimmten.333 Dennoch ist sie eine nützliche Theorie, die bestimmte Sichtungen in den USA erklären könnte.334
Die Erdbebenlichter-Theorie Michael Persingers überzeugt Robert Bigelow jedenfalls nicht. Er gründet 1995 das National Institute for Discovery Science (NIDS), mit Sitz in Las Vegas. Die Aufgabe des NIDS besteht zu diesem Zeitpunkt darin, zwei Fragen zu beantworten: 1. Existiert das menschliche Bewusstsein nach dem Tod weiter und 2. Was sind UFOs?335 Nach seinem Kauf lässt Bigelow das Areal um die Skinwalker-Ranch und die Vorfälle ab Juli 1996 von den Wissenschaftlern Colm Kelleher, Eric Davis und George Onet erforschen.336 Dabei finden sie durch ihre Forschungen wenig bis keine anormale Aktivitäten und das, obwohl die beteiligten Personen die Ranch über Hundert Tage überwachen und mit Kameras filmen.337 Es mangelt an empirischen Daten. Das kann daran liegen, dass es an Phänomenen mangelt – oder weil die Phänomene in zeitlich nicht nachvollziehbaren Wellen auftreten, ähnlich wie in Hessdalen, was wiederum eindeutig gegen die Radon-Plasma-Theorie spricht.
Ein Mangel an Phänomenen deckt sich aber mit der Aussage der Vorbesitzer der Ranch, der Familie Myers. Edith und Kenneth Myers kauften einen Teil der Ranch 1934. 2009 sagte der Schwiegersohn der Myers in einem Interview aus, dass sie bis zum Verkauf an die Shermans im Jahr 1994 seit Jahrzehnten dort gelebt hätten, ohne, dass sie UFOs oder paranormale Phänomene gesehen und erlebt hätten.338 Erst die Shermans sind durch scheinbar intelligent agierende, blaue Leuchtkugeln und paranormale Phänomene so stark belästigt worden, dass sie die Ranch wieder loswerden wollten.339 Als jedoch Robert Bigelow damit konfrontiert wird, dass die Myers nichts dergleichen erlebt hätten, glaubt er ihnen nicht, sondern behauptet, sie würden schlichtweg lügen. Robert Sheaffer, ein ausgesprochener UFO-Skeptiker, vermutet in einem Beitrag für das Online-Magazin Sceptics, dass die in finanzielle Schwierigkeiten geratene Familie Sherman die Vorfälle um UFOs und Portale in andere Dimensionen erfand, um die Ranch an Robert Bigelow verkaufen zu können.340
Dass die Skinwalker-Ranch ungewöhnliche Phänomene aufweise, glaubt hingegen der promovierte Ingenieurswissenschaftler, Optikexperte und Buchautor Travis S. Taylor. Er erforscht für den History Channel und im Auftrag des neuen Besitzers der Ranch, des Immobilien- und Technologie-Investors Brandon Fugal, das Areal. Tatsächlich seien hier zu seiner Überraschung Phänomene am Werk, die er kaum auf natürliche Art erklären könne, so Taylor. Das wiederum decke sich seines Erachtens mit den UFO-Sichtungen im Uinta-Becken und den indianischen Legenden um unheimliche nächtliche Lichter am Himmel.341
Diese Aussage Taylors ist jedoch problematisch: Travis Taylor, der maßgeblich daran beteiligt ist, die Geschichte um die Skinwalker Ranch im History Channel populär zu machen, war 2021 Chefwissenschaftler der UAP Task Force, deren Ergebnisse im Bericht des Direktors der Nationalen Geheimdienste 143 UFO-Begegnungen für unidentifiziert erklärten. Taylors Einsatz für die UAP Task Force bei gleichzeitiger Involvierung in die Fernseh-Show wurde von vielen Seiten kritisiert.342 Es hätte im Interesse Taylors sein können, wenn das UFO-Thema öffentlich hochkocht, so Barry Greenwood, ein kritischer UFO-Historiker.343
Warum ist es wichtig, dass wir uns mit der Skinwalker-Ranch befassen? Die Vorgänge auf der Ranch sind der Auslöser für die Beteiligung des Pentagons an der Erforschung des UFO-Phänomens. Wir können konstatieren, dass Robert Bigelow seit seiner Kindheit besessen ist von UFOs und dem Paranormalen, ausgelöst durch traumatische UFO-Begegnungen seiner Großeltern und von ihm selbst. Dabei stört es Bigelow nicht, dass die Folklore um die vermeintlich paranormalen Ereignisse der Skinwalker-Ranch von dem UFO-Phänomen dort ablenken. Vermeintliche Portale in andere Dimensionen und Skinwalker, die Vieh verstümmeln, sind wohl der Angst durch den indianischen Fluch und der Folklore anzulasten. Was immer auf der Skinwalker-Ranch vorgeht, für Robert Bigelow steht fest, dass es nicht natürlich erklärbare Ereignisse sind. Er will daran glauben, dass außerirdische Intelligenzen für die Phänomene verantwortlich sind. Dabei fußen seine Aussagen nicht auf empirischem Wissen. Einem Interview zufolge ist Bigelow »absolut überzeugt«, dass Außerirdische die Erde besucht hätten.344 Ferner sei es ihm »scheißgal«, dass die Leute ihn für seinen Glauben an Außerirdische für verrückt erklären. Es ändere nicht »die Wirklichkeit seines Wissens«.345
2004 löste Robert Bigelow das National Institute for Discovery Science aus Mangel an Ergebnissen auf. Bigelow stand jedoch seit 1996 ständig in engem Kontakt mit seinem Freund Harry Reid, dem demokratischen Senator für Nevada.
Die Skinwalker-Affäre zieht weitere Kreise in Washington, DC. Im Jahr 2007 kontaktiert der 2021 verstorbene Senator Harry Reid aus Nevada seine persönlichen Freunde, die Senatoren Dan Inouye (Hawaii, R) und Ted Stevens (Alaska, D), die zu diesem Zeitpunkt im Unterausschuss für Verteidigungsgelder (Defense Appropriations Subcommittee) des Senats sitzen.
Harry Reid wächst im kleinen Städtchen Searchlight mit 300 Seelen in der Einöde Nevadas auf. Er lebt in einem Haus, das auf Eisenbahnschwellen gebaut wurde. Die einzige Einnahmequelle des Ortes ist ein Bordell. Als Junge schmeißt er sich nachts auf eine Matratze, die im Hof des Hauses liegt, um die Sterne zu beobachten. Oft begleiten ihn seine Brüder und die Eltern. In der High School muss er seinen Mathematik-Lehrer anbetteln, ein »ausreichend« zu bekommen, damit er ein Football-Stipendium bekommt und studieren kann. Er ist nie gut genug in Mathematik, um Naturwissenschaften zu studieren. Doch das ändert nichts daran, dass er extrem interessiert ist an naturwissenschaftlichen Fragen.346 Als junger Anwalt ist er 1962 bei einer Verhandlung über den Flugzeugabsturz, bei dem Robert Bigelows Vater ums Leben kam, involviert.
Über den Journalisten George Knapp vom Sender KLAS-TV in Las Vegas macht Reid die Bekanntschaft von Robert Bigelow, der bereits in den 1990er-Jahren Konferenzen in Las Vegas, auf denen thematisch geneigte Wissenschaftler und UFO-Experten Vorträge halten, finanziell fördert. George Knapp hat Reid 1989 sehr viel Literatur über UFOs zukommen lassen. Reid verschlingt die Bücher. Er grämt sich, dass er kein naturwissenschaftliches Studium vorweisen kann.347 Aufgrund dieses Mangels ist Senator Reid immer fasziniert von Dingen, die er nicht versteht. Auf einer Konferenz von Bigelows NIDS im Jahr 1996 lernt er den Biochemiker Dr. Colm Kelleher kennen, der ihn mit der Skinwalker-Ranch vertraut macht. Seine Angestellten im Senat in Washington, DC warnen Reid davor, sich weiter mit UFOs zu befassen, doch er ist einfach zu neugierig.348 Ferner hegt Reid einen tiefsitzenden Groll gegen Beamte des Pentagon in Washington, DC. Die benachbarte Familie Sheahan, die am Groom Lake in Nevada ansässig war, verlor 1978 ihren Landbesitz, auf dem sich ihre Silbermine und eine Mühle befanden, an die Regierung, die darauf die Nellis Air Force Base mit ihrem berüchtigten Area 51 errichtete. Die Air Force übte Zielflüge und Bombardements und zerstörte die Mühle.349 Von seinem starken Gerechtigkeitssinn angetrieben, muss der ehemalige Rechtsanwalt und spätere Senator Harry Reid die Wahrheit herausfinden. Die Wahrheit über Area 51 – und die Wahrheit über UFOs.
Im Jahr 2007 schließlich leitet Robert Bigelow einen Brief von der Defense Intelligence Agency, dem Geheimdienst des Verteidigungsministeriums, an Senator Harry Reid weiter. Darin bittet der Weltraumingenieur und DIAMitarbeiter Dr. James Lacatski darum, Zugang zur Skinwalker-Ranch zu bekommen. Weil die Ranch für Bigelow ein UFO-Hotspot und paranormaler Brennpunkt sei, will Lacatski das Phänomen studieren, um die Antriebe der Objekte zu verstehen. Wie wir gesehen haben, geschah das auf der Basis von anekdotischen Berichten und indianischer Folklore, nicht aber auf wissenschaftlichen Beweisen. Zu diesem Zeitpunkt verspricht Reid zu sehen, was er für Lacatski tun kann. Er kontaktiert seine Senatorenkollegen und Freunde, den republikanischen Senator Ted Stevens aus Alaska und den demokratischen Senator Dan Inouye aus Hawaii. Stevens wurde als Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg nach eigener Aussage von einem UFO begleitet und sagt sofort zu, die Mittel für eine UFO-Forschungsstelle im Pentagon zu vergeben.350 Auch Inouye zögert nicht lange.
Reid sichert so 22 Millionen US-Dollar für das Vorhaben, UFOs zu erforschen, am Kongress vorbei. Das schwarze Budget ging an die DIA und das sogenannte Advanced Aerospace Weapon System Applications Program (AAWSAP) an der Bolling Air Force Base in Washington, DC. Ziel ist es, die Vorgänge um vermeintliche Skinwalkers, Poltergeister, Portale in andere Dimensionen und ähnliche Folklore um die Skinwalker-Ranch zu erforschen, UFO spielen nur eine sehr untergeordnete Rolle.351 Das Pentagon veröffentlicht eine Ausschreibung für externe Vertragsnehmer. Das von Robert Bigelow gegründete Nachfolgeinstitut zur NIDS, Bigelow Aerospace Advanced Space Studies (BAASS) unter der Leitung von Colm Kelleher und John Lacatski, bekommt als einziger »Bewerber« den Zuschlag. Die Forschungsdaten gehen direkt an das BAASS. Als das AAWSAP im Jahr 2010 endet, beginnt inoffiziell AATIP, das Advanced Aerospace Threat Identification Program unter der Mitarbeit des ehemaligen Geheimagenten Luis Elizondo. Reid fordert, dass mehr Daten gesammelt werden und die Öffentlichkeit über das Phänomen informiert werden müsse.352
Der Fernsehjournalist George Knapp vom Sender KLAS-TV kommt 2009 in den Besitz eines Briefes von Senator Harry Reid vom 24. Juni 2009 an den stellvertretenden Verteidigungsminister William Lynn III. Reid erbittet darin die Hilfe des Pentagons zur Bildung eines Restricted Special Access Program (SAP) für eine geheime Expertengruppe, die bestimmte UFO-Vorfälle der US Navy untersuchen soll. Die Erkenntnisse erfordern seiner Auskunft zufolge größere Schutzmaßnahmen. Reid bemängelt, dass die gegenwärtige Geheimhaltung angesichts der zu erwartenden Erkenntnisse über die fremde Technologie nicht ausreiche. Er behauptet, die Resultate des AATIP würden nicht nur der US-Regierung, sondern auch dem Pentagon zugutekommen: Die Forschungen würden den USA einen gewaltigen technologischen Vorsprung vor feindlichen Nationen ermöglichen. Senator Reids Brief zufolge habe das AATIP große Fortschritte bei der Untersuchung hochsensibler Erkenntnisse zu unbekannten Luftphänomenen gemacht.353 Doch das AATIP hat mit dieser Bezeichnung vor Reids Brief formell nie existiert. Sie fällt erst in diesem Brief an das Verteidigungsministerium.
Wir können jedoch festhalten, dass Senator Harry Reid die Forschungsprogramme AAWSAP und AATIP ins Leben rufen ließ, weil Robert Bigelow, ein Mann, der fest an die Anwesenheit Außerirdischer auf der Erde glaubt, ihn darum bat, sich der Sache anzunehmen. Reid sollte deswegen staatliche Gelder für die Erforschung der Skinwalker-Ranch und das UFO-Phänomen akquirieren. Und das, obwohl die erste Erforschung der Skinwalker-Ranch von 1996 bis 2004 durch das NIDS keinerlei brauchbare Beweise für die Präsenz einer außerirdischen Intelligenz erbrachte. Das AAWSAP habe jedoch Belege für tausende Zeugen von unbekannten Luftphänomenen gefunden, so Harry Reid.354 Die 22 Millionen US-Dollar wurden für 38 Studien zu exotischen Forschungen der beteiligten Wissenschaftler verwendet, die auf den Forschungen des AAWSAP und AATIP basieren. Hochgerechnet erhielt jeder Wissenschaftler die stolze Summe von 578.947 US-Dollar an Steuergeldern für seine Studie.355
Zugespitzt formuliert jedoch sind sowohl das AAWSAP und auch das AATIP ein mit Steuergeldern bezahltes Hobby eines Milliardärs, der sich nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes verstärkt der Frage zuwendet, ob das menschliche Bewusstsein nach dem Ableben weiter existiert und dafür im Jahr 2021 sogar eine Million US-Dollar Preisgeld für einen Essay-Wettbewerb ausschrieb. Das AAWSAP und auch das AATIP allerdings würden nicht ausreichen, um eine längerfristige Erforschung des UFO-Phänomens durch das Pentagon zu sichern.
Was es benötigte, war ein Eindringen des Außenseiter-Themas UFOs in den Mainstream und das politische Establishment in Washington, DC. Als Harry Reid am 28. Dezember 2021 starb, hatte er gerade noch einen Tag vorher erlebt, dass Präsident Joe Biden den National Defense Authorization Act – den Verteidigungshaushalt 2022 – unterschrieb, der vorher vom US-Kongress abgesegnet worden war. Mit seiner Unterschrift des Haushaltes 2022 wies Präsident Biden das Pentagon an, innerhalb von 180 Tagen eine Behörde zur Untersuchung des UFO-Phänomens einzurichten. Die UAP Taskforce wurde im Juli 2022 zum gesetzlich festgelegten All-domain Anomaly Resolution Office umbenannt. Der zweite Bericht des Direktors der Nationalen Geheimdienste erschien im Januar 2023. Er gab an, dass inzwischen 510 Objekte registriert und untersucht würden. Aufgrund der sinkenden Stigmatisierung von Zeugen innerhalb des Militärapparats werden immer mehr Begegnungen und Sichtungen von Kampfpiloten offenkundig. Demzufolge wiesen einige UAP wieder ungewöhnliche Flugeigenschaften auf.356
Ein Gesetzestext des Kongresses deutet darauf hin, dass einige der unbekannten Luftphänomene nicht-menschlich seien. Demnach hätten Bedrohungen von unbekannten, transmedialen Objekten, die aus dem Meer direkt in den Weltraum fliegen können – und umgekehrt – auf amerikanischem Territorium »exponentiell« zugenommen. Offensichtlich irdische Objekte würden automatisch ausgesondert und an zuständige Behörden weitergeleitet. Die US-Regierung gesteht ein, dass das All-domain Anomaly Resolution Office des Pentagons in Washington, DC nur unbekannte nicht-menschliche Technologie erforschen wird.357
Der Artikel der investigativen Journalistin Leslie Kean auf der Titelseite der New York Times vom 16. Dezember 2017 über das geheime UFO-Forschungsprogramm des Pentagons und die drei Videos der Navy-Piloten leiteten diesen Gipfelpunkt ein. Es glich einem wohl orchestrierten Paukenschlag, der die Weltöffentlichkeit aus dem Dornröschenschlaf riss. Die UFO-Enthüllungs-Bewegung schlug das militärische und politische Establishment mit ihren eigenen Waffen: Sie knüpfte Kontakte zu hohen, dem UFO-Thema aufgeschlossenen Militärs innerhalb der US Navy und ließ die schmallippige US Air Force außen vor. Dieser Paukenschlag gelang auch durch die Beteiligung von Tom DeLonge.
Wenn der Rockmusiker Tom DeLonge Interviews gibt, wandern seine Augen unentwegt hin- und her, als ob er ständig prüft, dass die Dinge um ihn herum an Ort und Stelle sind. Und wenn DeLonge mit seinem gedehnten kalifornischen Akzent spricht, wechseln sich gelegentlich vulgäre postpubertäre Ausbrüche (»Motherfucker!«) mit längeren, rhetorisch geschliffenen Ausführungen über das Universum, die Geheimnisse des menschlichen Bewusstseins – und UFOs –, ab. Tatsächlich vergehen oft nur wenige Minuten, bis er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kommt. Er wirkt fahrig. Diese Fahrigkeit ist jedoch nur ein Symptom für seinen hyperaktiven, kreativen Tatendrang. DeLonge inszeniert inzwischen nicht nur Science-Fiction-Filme wie Monsters of California, sondern produziert Graphic Novels, schreibt Romane mit Co-Autoren über UFO-Begegnungen oder komponiert zukunftsorientierte Rockmusik mit seiner Band Angels and Airwaves. Er ist offensichtlich, dass DeLonge fest daran glaubt, was er sagt. Seine Argumentationen untermauert er anschaulich mit Aspekten der Quantenphysik oder der Bewusstseinsforschung. Er betont gerne, dass er mit der Regierung zusammenarbeiten würde, um das Thema UFOs in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Mehr noch sei die UFO-Frage für ihn eine Sache der »nationalen Sicherheit«.358 Er hat das neue UFO-Narrativ der Politiker in Washington, DC perfekt verinnerlicht.
Thomas DeLonge wird 1975 in Poway, Kalifornien geboren. Sein Vater ist im Ölgeschäft tätig, seine Mutter arbeitet als Immobilienmaklerin. DeLonge fährt ab der dritten Klasse Skateboard. In der sechsten Klasse bekommt er an Weihnachten von einem Schulfreund eine akustische Gitarre geschenkt. In der siebten Klasse macht ihn ein Schulkamerad mit verschiedenen Punkrock-Bands wie The Descendents bekannt, die für ihn wie eine Offenbarung sind. Skaten und Gitarre spielen sind fortan seine Fluchtpunkte vor den tief religiösen Eltern, die den ganzen Tag arbeiten und sich abends und nachts streiten.359 In der Schule strengt sich DeLonge nur so weit an, dass es gerade für ein »befriedigend« reicht, um genug Zeit zum Skaten und für seine Musik zu haben. DeLonge ist ein unruhiges, rebellisches Kind, das in eine Menge Schwierigkeiten gerät. So bringt er Polizisten und Sicherheitsbeamten dazu, ihn zu verfolgen, um Adrenalinkicks zu erfahren.360
Als Tom DeLonge 18 Jahre alt wird, trennen sich die Eltern. Der ältere Bruder befindet sich bei einem Einsatz der US-Armee im Ausland, seine jüngere Schwester wohnt weiterhin bei ihrer Mutter. Dennoch beschließt Tom DeLonge, das Elternhaus zu verlassen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Zu dieser Zeit beginnt er sich für die Idee zu interessieren, dass es »außer einem 9-bis-17-Uhr-Job und einer kaputten Familie« noch einen höheren Sinn des Lebens geben müsse.361
Zusammen mit Scott Raynor und Mark Hoppus gründet er 1992 die Punk-Band Blink 182. Wofür die 182 steht, wissen nur die Bandmitglieder. Gerüchte besagen, dass die Zahl für die von Al Pacino im Film Scarface gesagten »Fucks« steht. Zu diesem Zeitpunkt können sie nur davon träumen, dass sie fünf Jahre und zwei CDs später mit Enema of the State ein Album veröffentlichen, das weltweit über 15 Millionen Mal über die Ladentische gehen würde. Bisher als Pubertierenden-Band verschrien, deren Mitglieder auf der Bühne Toilettenwitze austauschen, trägt Tom DeLonge nun Lieder bei, die sich mit ernsthaften Themen wie Selbstmord unter Teenagern oder Verschwörungstheorien um Außerirdische befassen. Diese Entwicklung entspringt nicht aus dem sozialen Vakuum: Als Blink 182 den ersten Plattenvertrag abschließen und ihr erstes Geld verdienen, kauft sich Tom DeLonge einen Computer, um im Internet UFOs zu recherchieren.362 Er findet endlich den höheren Sinn des Lebens jenseits des 9-bis-17-Uhr-Jobs: UFOs und die Frage, ob wir besucht werden.
Zwangsläufig kommt er mit Verschwörungstheorien um abgestürzte UFOs oder Entführungen durch Außerirdische in Kontakt. Das seit den 1990er-Jahren exponentiell wachsende Internet hält für ihn eine Schatztruhe an Artikeln, Forenbeiträgen und Gerüchten über paranormale Phänomene bereit. »Aliens Exist« vom Album Enema of the State ist DeLonges Ode an das Außerirdische und ein Resultat dieser Internet-Recherchen. In »Aliens Exist« erzählt Tom DeLonge aus der Perspektive eines Teenagers, der glaubt, anders als seine Zeitgenossen zu sein. Er hat entdeckt, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Jeder Pubertierende scheint durch sein hormonbefeuertes Bewusstsein Dinge wahrzunehmen, die andere Menschen nicht wahrnehmen (wollen).
Kinder und Jugendliche sehen stets Dinge, die Erwachsene nicht mehr sehen – eine Beobachtung, die Stephen King gerne in seine Werke wie Es einbringt und Filmproduzenten in Serien-Hits wie Stranger Things lukrativ ausschlachten. All die Verschwörungstheorien über die Geheimhaltung der Regierung, so argwöhnt DeLonges Teenager in »Aliens Exist«, sind irgendwie wahr. Denn ein Monster »von oben« verstecke sich im Hinterzimmer. Der Teenager weiß, dass Verschwörungen »dumm sind«, weil er so sozialisiert wurde. Doch was wäre, wenn die Amerikaner wüssten, dass Verschwörungen doch real sind, fragt der Junge in dem Lied.363 Wenn es so wäre, würde er die Schranktür die ganze Nacht offen lassen. In anderen Worten: Der Teeanger aus dem Song lässt sich gerne auf das Unbekannte ein. Denn er will entkommen in das Unbekannte im Schrank. Er will abhauen aus der Welt, die er nicht mehr versteht und flüchten vor dem Grauen der endenden Kindheit. Es ist eine Suche nach Sinn im Chaos der Erwachsenenwelt.
Es scheint fast so, als ob Tom DeLonge durch das Thema UFOs dem Trauma des »kaputten« Elternhauses entkommen wollte und Orientierung suchte: »Ich weiß, die CIA würde sagen: ›Es ist alles Hörensagen‹. Ich wünschte, jemand würde mir sagen was stimmt.«364 Er selbst sieht sich als einer von vielen Freaks, die wirklich glauben, dass all die Gerüchte um Außerirdische wahr sind. Die Regierung – das sind die Eltern, die einem alles vorschreiben und sagen, was man tun und lassen und glauben soll. Krisen sind goldene Zeiten für Verschwörungstheoretiker, hat schon der Philosoph Ernst Cassirer postuliert. »In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher.«365
Der Teenager an sich lebt im Dauerstress des permanenten Anzweifelns des Establishments und ist somit anfällig für das Eindringen des Mystischen in seine Welt, um dem erwähnten Chaos einen Sinn abzuringen. Pubertät ist Krise schlechthin, die ganze Welt beschleunigt um den Teenager und droht ihn aus der Bahn zu katapultieren. Es bedeutet, die Welt anders zu sehen, aber auch »Anderes« – das Unbekannte – noch sehen zu können, bevor das Erwachsenendasein das dritte, sensible Kinderauge erblinden lässt. Tom DeLonge und sein Alter Ego in »Aliens Exist« tauchen in die Informationsflut des Internets, die es uns ermöglicht, absurde Unmöglichkeiten in den Köpfen der Menschen real werden zu lassen.
Die Antworten müssen »da draußen« sein. Doch die »telematische Gesellschaft« des Philosophen Vilém Flusser, diese gut gemeinte Utopie des friedlichen vernetzten Zusammenlebens und der perfekten Demokratie, kollabiert seit dem Ende des 20. Jahrhunderts durch die Mythologisierung der digitalen Wissensgesellschaft mit zunehmender Rasanz.366 Die Informationsflut gebiert Verschwörungstheorien, die Digitalisierung ermöglicht erfundene Wahrheiten. Man suche sich seine eigenen Fakten, so wie es passt. Für jeden ist etwas dabei. Wir haben zunehmend Schwierigkeiten, die wissenschaftlich verifizierten Fakten vor Terabytes an Verschwörungsinformationen zu erkennen. Anders als Flusser gehofft hatte, kommunizieren viele Menschen mit unterschiedlichen Interessen in den sozialen Medien nicht miteinander. Vielmehr bekämpfen sich Filterblasen. Vorurteile und Mythen nähren sich aus der Nichtbereitschaft zum Dialog. Programmierte Botnetze verbreiten Fake News und erschaffen alternative Fakten. Die Informationsflut ist für den Teenager in »Aliens Exist« (und mithin Tom DeLonge) wie für jeden anderen, der sich auf diesen exotischen Interessensbereich einlässt, schwer zu bewältigen. Ernst Cassierers krisenversursachte Mythen lassen Flussers Utopie der telematischen Gesellschaft endgültig kollabieren, bevor wir sie überhaupt verwirklichen konnten, weil die IT-Konzerne ungezügelt sind. Wir kommen auf die Macht der IT-Konzerne gleich noch zu sprechen.
So ist es kein Wunder, wenn sein Bandkollege Mark Hoppus bestätigt, dass Tom DeLonge zu leichtgläubig sei: »[…] Ehrlich, er glaubt alles, was er liest. Du könntest sagen, ›Ich habe in einem Magazin gelesen, dass ein Außerirdischer in Australien gelandet sei. Ein Arzt fand ihn und führte an ihm eine Autopsie durch – es gibt davon Filmschnipsel im Internet.‹ Und Tom würde es nicht einmal in Frage stellen. Er würde es für bare Münze nehmen und es jedem erzählen.«367
2005 gründet DeLonge Angels and Airwaves, die er eher als Kunstprojekt, denn als Rockband sieht und aus wechselndem Bandpersonal besteht. Der Erfolg ist überschaubar im Vergleich zu den Millionenverkäufen von Blink 182. Im Jahr 2015, nach zwei weiteren Alben und einer zwischenzeitlichen Wiedervereinigung, trennen sich Tom DeLonges Wege von seinen Blink-182-Kollegen Mark Hoppus und Travis Barker. DeLonge gibt an, dass sich seine Lebensausrichtung grundlegend geändert habe. In Interviews äußert er immer häufiger, dass er nun mit der Regierung zusammenarbeite. Auf den ersten Blick scheint es so, als ob die Einschätzung seines ehemaligen Bandkollegen Mark Hoppus zutrifft und Tom DeLonge einfach zu leichtgläubig ist in Bezug auf UFOs und Außerirdische. 2022 sollten sich Tom DeLonge und Blink 182 erneut wiedervereinen.
De Longe gründet im Jahr 2017 die To the Stars … Academy of Arts and Sciences. DeLonges von ihm oft wiederholte Behauptung, dass er für die Regierung arbeite, trifft tatsächlich zu: Ehemalige Pentagon- und Geheimdienstmitarbeiter schließen sich seinem Vorhaben aus Frustration darüber an, dass das Pentagon die UFO-Sichtungen von Piloten der Streitkräfte – offiziell – nicht weiter verfolge.368 Zu den Mitarbeitern zählten unter anderem der ehemalige Geheimagent Luis Elizondo oder der ehemalige Direktor des Geheimdienstausschusses des Senats und Ministerialdirektor für Verteidigung und Geheimdienste unter den Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush, Christopher Mellon.
Tatsächlich lässt sich DeLonge in abgelegenen Wüstenflughäfen oder leeren Gebäuden in Washington, DC auf geheime Treffen mit hochrangigen Militärs ein, um seine Kontakte zu festigen und Strategien auszuarbeiten. Im Vorfeld werden durch die Enthüllungsplattform Wikileaks vertrauliche Emails von Tom DeLonge an den ehemaligen Berater von Hillary Clinton, John Podesta, veröffentlicht. Daraus geht hervor, wie respektvoll aber auch bestimmt DeLonge sein Vorhaben durchzieht, mit Hilfe von Podesta, General William McCasland vom Air Force Research Laboratory der Wright-Patterson-Luftwaffenbasis in Dayton, Ohio, Geheimdienstmitarbeitern und Regierungsangehörigen die Jugend für das Thema UFOs zu gewinnen. Im Gegenzug soll Tom DeLonge Jugendliche für die Partei der Demokraten begeistern. Die Emails offenbaren eine Informationskampagne, die DeLonge initiiert, um auch Hillary Clinton, die sich für UFOs interessiert, für seine Aktivitäten zu gewinnen. Tom DeLonges Beziehungen reichen in Washington, DC so weit, dass er Wochen vor der Veröffentlichung des bahnbrechenden Artikels in der New York Times am 16. Dezember 2017 die Existenz und Bereitstellung der drei UFO-Videos »Go Fast«, »FLIR1« und »Gimbal« der Navy-Piloten persönlich ankündigt.369 Die US Navy bestätigt anschließend die Echtheit der Videos und Tom DeLonges Beteiligung bei der Veröffentlichung des Materials.
»Wir haben die Politik geändert, und darauf bin ich wirklich stolz, vor allem, weil die Leute jahrelang dachten, ich sei der verrückte UFO-Typ«, so DeLonge. »Ich habe es keineswegs allein geschafft, aber ich habe den Mechanismus geschaffen, der es ihnen ermöglicht, das zu tun, was sie jetzt tun, und darauf bin ich wirklich stolz.«370 Tom DeLonge hat sich einen höheren Sinn des Lebens geschaffen. Niemand hält ihn mehr für verrückt – vorerst.