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Entschuldige, dass ich zu spät komme, Angus. Ich nehme an, du hast schon ohne mich angefangen.«

»Im Grunde bin ich fast fertig. Setz dich, ich gebe dir gleich die Kurzversion.«

McLean hatte es DS Ritchie überlassen, die kriminaltechnische Untersuchung in Whitelys Wohnung zu überwachen und die Nachbarn über sein Bewegungsprofil in den vergangenen Wochen zu befragen. Er war mitten über die Meadows gegangen, an der Universität vorbei und hinunter bis zum Cowgate, wo die Rechtsmedizin ihrem grausigen, unsichtbaren Geschäft nachging, in der Hoffnung, auf dem Spaziergang über die neuen Entwicklungen nachzudenken. Er brauchte einen klaren Kopf, um den beunruhigenden Ähnlichkeiten zwischen Ben Stevenson und Jim Whitely auf den Grund zu gehen. Nicht Ähnlichkeiten, was ihren Tod betraf, sondern ihr Leben, ihre unbeirrbare Obsession. Doch wegen der Hitze kam er außer Atem, und auch der Straßenlärm war weitaus übler als zu seiner Zeit als Streifenpolizist. Seine Gedanken steckten in einer Endlosschleife fest, denn es fehlte ein entscheidendes Stück, um das Rätsel zu lösen. Das kühle Innere des Leichenschauhauses war wie eine Erlösung, die Ablenkung durch die Obduktion von Dr. Whitely umso mehr. Jetzt saß McLean auf einem harten Plastikstuhl an der Wand des Sektionssaals und sah Angus Cadwallader schweigend dabei zu, wie er den Toten untersuchte.

»Das hier ist kein angenehmer Fall.«

McLean schaute sich um und erblickte Dr. MacPhail, zweifellos anwesend, um das korrekte Vorgehen zu bestätigen, sollten bei einer möglichen gerichtlichen Untersuchung zum Todesfall Zeugen erforderlich sein.

»Sollten Sie nicht …?« Mit einem Nicken deutete McLean in Richtung Untersuchungstisch. »Sie wissen schon – das hier bezeugen?«

»Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Ich habe ihn ja identifiziert.«

Da fiel McLean das Gespräch mit DC MacBride früher am Morgen ein. »Natürlich. Sie kannten ihn. Entschuldigen Sie.«

»Oh, ich war nicht mit ihm befreundet oder so. Wir haben nur zufällig zusammen studiert und uns hin und wieder getroffen, wenn ich oben im Krankenhaus war. Uns zugenickt, Hallo gesagt. Nichts darüber hinaus.«

»Sie haben zur selben Zeit studiert? Ich dachte, Whitely sei älter.«

»Das nehme ich als Kompliment, Inspector.« Dr. MacPhail grinste ihn etwas schief an und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Der Arzt roch nach Toten, hinzu kam ein scharfer Geruch, der McLean von irgendwoher bekannt vorkam. »Ich wirke jung für mein Alter, das stimmt. Aber was mit Jim passiert ist. Na ja …«

»Erinnern Sie sich an ihn? Wie er als Student war?«

»Jetzt, wo Sie fragen.« MacPhail kratzte sich am Kopf. »Er ist eigentlich immer ziemlich nervös und angespannt gewesen. Intelligent. Die Examina hat er mühelos bestanden. Ich hab nicht viel mit ihm gesprochen. Wir verkehrten in unterschiedlichen Kreisen, hatten unterschiedliche Freunde. Außerdem hat er Pädiatrie studiert, im Grunde das Gegenteil meines Spezialgebiets. Jedenfalls meistens.«

»Hättet ihr beiden Turteltauben mal einen Augenblick Zeit für mich?«

Angus Cadwalladers laute Stimme hallte durch den Obduktionssaal. Als McLean aufschaute, sah er ihn in ihre Richtung blicken.

»Bist du schon fertig?« McLean stand auf – und spürte den Schweiß auf dem Rücken, die Stellen, an denen das Hemd erst durchnässt worden und dann halb getrocknet war.

»Ja, mit dem, was ich hier machen kann. Bis die Laborergebnisse kommen, wird es zwar noch etwas dauern, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass Dr. Whitely sich nicht das Leben genommen hat.«

»Tatsächlich?« McLean spürte dieses vertraute kalte Gefühl in der Magengegend. Die Mord/Selbstmord-Hypothese hatte ihn nicht übermäßig überzeugt, aber wenigstens den Vorzug, simpel zu sein. Außerdem hätten sich damit zwei Fälle zugleich lösen lassen. »Woran ist er also gestorben?«

»Oh, das ist ganz einfach zu beantworten. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen, als der Blutdruck zu weit abgefallen war. Zu dem Zeitpunkt dürfte er bewusstlos gewesen sein, vermutlich ein Segen für ihn.«

»Und du bist sicher, dass er sich nicht umgebracht hat?« McLean ging mitten durch den Raum und betrachtete den geschundenen, nackten Körper.

»Er hätte den Tod selbst herbeiführen können. Theoretisch. Allerdings ist es grausig, auf diese Art zu sterben, und viel zu aufwendig. So vieles hätte dabei schiefgehen können, außerdem sind da noch diese Geräte, die man in das Lagerhaus hier schaffen musste. Meiner Erfahrung nach haben Menschen, die sich umbringen wollen, kein Interesse an dieser Art von Spektakel.«

»Du hast recht. Wäre nur Theater gewesen.«

»Der Tod ist nie sauber, Tony.« Cadwalladers Schelte war freundlich, aber nicht zu leugnen.

»Ich weiß, Angus. Der hier noch weniger als die meisten.«

»Na ja. Es gibt noch andere Gründe, weshalb ich mit einiger Sicherheit sagen kann, dass es sich nicht um Selbstmord handelt. Diesen zum Beispiel.« Cadwallader entfernte sich vom Kopf, ging an die Seite, hob eine Hand hoch und zeigte McLean das schmale, blasse Handgelenk. »Hier sind Fesselspuren. Am Tisch, auf dem wir ihn gefunden haben, waren Gurte angebracht, die aber entfernt wurden. Er hat sehr viel Blut verloren, was am Tatort schwierig zu erkennen war, aber hier lässt sich ziemlich deutlich sehen, dass er zu Beginn angeschnallt wurde.«

»Er blieb festgeschnallt – bis zu dem Zeitpunkt, als er das Bewusstsein verlor?«

»Oder jedenfalls, bis er zu schwach war, um sich dagegen zu wehren, ja.«

»Wer immer das getan hat, hat ihm also beim Sterben zugesehen.«

»Das – oder er ist weggegangen und danach zurückgekommen. Aber angesichts der Tötungsmethode, des Aufwands, den der Mörder betrieben hat, würde ich sagen, dass er zugeschaut hat.«

McLean schauderte bei dem Gedanken, aber bevor er auf Cadwalladers Bemerkungen eingehen konnte, war dieser bereits um den Tisch herumgegangen, zum Hals des Toten.

»Und dann gibt es natürlich noch das hier.« Er wies auf einen winzigen Punkt unmittelbar unter dem Ohr.

»Eine Einstichstelle?«

»Sieh mal an, hin und wieder lernst du doch etwas. In der Tat, das ist eine Injektionsstelle. Der arme Kerl hatte nicht mehr viel Blut in sich, aber wir haben ein wenig davon zum Screening weggeschickt. Ich vermute ein schnell wirkendes Sedativum, etwas, das ihn ausgeknockt hat, damit der Täter ihn an diese Höllenmaschine anschließen konnte.«

McLean trat einen Schritt zurück und blickte noch einmal auf den auf dem Rücken liegenden Leichnam. Nach den brutalen Schnitten der Sektion und Dr. Sharps geschickter Näharbeit konnte er sich Whitely wirklich nicht mehr als Menschen vorstellen. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass er noch keine Zeit gehabt hatte, sich ein Bild von dem Mann zu machen.

»Mir ist aufgefallen, dass du eine Frage noch nicht gestellt hast«, sagte Cadwallader.

»Der Todeszeitpunkt. Ich weiß. Ich hätte sie gleich gestellt.«

»Ich auch. Die Sache mit dem Blut macht es schwierig, exakt zu sein, ich habe deshalb ein paar Proben zum Testen losgeschickt. Meine beste Schätzung ist allerdings, dass er sich nicht länger als eine Woche in diesem Lagerhaus befunden hat.«

»Das passt mit dem Zeitpunkt zusammen, als er zum letzten Mal im Krankenhaus gesehen wurde. Damit können wir arbeiten.« McLean fasste Cadwallader leicht am Arm. »Danke, Angus. Ich finde schon allein hinaus.«

Er war auf halbem Weg zur Tür, als ihm noch etwas einfiel. »Da wäre noch eine Sache.«

Cadwallader hob fragend eine Braue. »Nur eine?«

»Nun ja, ja. Das Herz, du weißt schon, dasjenige, das wir in Ben Stevensons Wohnung gefunden haben. Hast du es schon untersuchen können?«

»Das Herz? Ich glaube, das war eines von Toms.« Cadwallader wandte sich seinem Kollegen zu. »Das stimmt doch, oder?«

»Ja. Ich habe es vor ein paar Tagen untersucht. Sie müssten den Bericht inzwischen haben.«

McLean stellte sich sein Büro vor. Sofort hatte er das Bild vor Augen: ein Stapel Papierkram auf dem Schreibtisch, weitere Stapel auf dem Boden. Woran er sich nicht erinnern konnte, war, ob er irgendwann in den vergangenen Tagen tatsächlich das Büro betreten hatte.

»Du könntest mir nicht die Kurzfassung geben, oder?«

»Das Herz stammt von einem Menschen. Kerngesund. Alter zwischen Ende dreißig und Anfang vierzig. Männlich, aufgrund der Größe.«

Dr. MacPhail beugte sich über eine Arbeitsbank in einem Labor neben dem eigentlichen Sektionssaal. McLean stand hinter ihm und so weit seitlich, dass er das Herz sehen konnte, das in einer Metallschale lag. Es war gesäubert, das seltsame grüne Blattwerk entfernt und zur Analyse weggeschickt worden. Nun sah es unangenehm aus, wie etwas, das man in einer von diesen abseitigeren Metzgereien fand. In denen man jene Teile eines Tiers kaufen konnte, die nicht zum Verzehr vorgesehen waren, außer, sie wurden fein gehackt, mit Hafermehl und Gewürzen versehen, in einen Schafsmagen gestopft und gekocht.

»Haben Sie eine Idee, wessen Herz das ist?«

»Ich bin nicht hundertprozentig sicher. Ich warte noch auf die Ergebnisse der DNA-Analyse. Ich konnte aber die Möglichkeiten eingrenzen.« MacPhail sah auf das oberste Blatt des Berichts, den er ausgedruckt hatte, bevor er mit McLean ins Labor gegangen war. »Dem Zustand nach zu urteilen und dem Ort, an dem wir es gefunden haben, würde ich annehmen, dass es sich seit einem Monat außerhalb des Körpers seines Besitzers befand.«

»Wurde es gewaltsam entfernt?« McLean betrachtete das Organ auf der Suche nach Anzeichen von Gewaltanwendung. Es sah aus wie ein Stück Fleisch, die Gefäße waren fein säuberlich durchtrennt, eines davon weit entfernt von den vier Herzkammern. Auf noch einen Mord auf seiner länger werdenden Liste konnte er gut verzichten.

»Hängt davon ab, was Sie mit gewaltsam meinen.« MacPhail nahm das Herz in die Hand, als wäre es nichts von Bedeutung, drehte es hierhin und dorthin und deutete dabei auf die Spuren, die nur er sah. »Es wurde herausgeschnitten, natürlich, aber zu wem auch immer es gehört hat – der Mann war tot, bevor die Entnahme erfolgte.«

»Was meinen Sie damit?«

»Es handelt sich um ein Spenderherz. Das erkennt man daran, wie es herausgeschnitten worden ist. Hier, und hier.«

»Ein Spenderherz? Aber dann hätte es doch Unterlagen gegeben. Wir hätten gewusst, dass es verschwunden ist, bevor … bevor es benutzt werden konnte. Oder nicht?«

»Doch. Allerdings gelangt nicht jedes entnommene Organ in einen neuen Körper. Manchmal läuft irgendetwas schief.«

McLean wollte nicht fragen, was. Es war ohnehin nicht allzu relevant. »Also, wissen wir nun, wem es gehört hat? Woher es stammt?«

»Noch nicht. Wir warten noch auf eine Bestätigung. Ich habe in den Krankenhäusern auch hinsichtlich kürzlich vorgenommener Transplantationen nachgefragt. Wir müssten eigentlich ziemlich bald einen Namen und einen Wohnort haben. Das Dumme ist nur: Das Herz hier ist konserviert worden.«

»Ist das ungewöhnlich?«

»Sehr. Insbesondere bei der Art und Weise, wie es entfernt worden ist. Soweit ich das erkennen kann, handelt es sich hier um Einbalsamierungsflüssigkeit. Das Zeug, das früher Bestatter verwendet haben. Es verleiht dem Herzen diesen komischen Geruch und ist der Grund, warum es nur teilweise verwest ist.«