19
Der Streifenwagen hatte ihn achthundert Meter entfernt von zu Hause abgesetzt, eine Hochgeschwindigkeits-Wende hingelegt und war dann sofort zu einem dringenden Einsatz davongedüst. McLean war das egal, wirklich. Es war zwar spät, aber noch ziemlich hell. Das war das Tolle am Sommer so weit im Norden. Doch im Winter bezahlte man natürlich dafür.
Und während er die Straße entlangging, fiel McLean etwas Merkwürdiges an der Silhouette der Kirche auf; er blieb stehen, um dahinterzukommen. Irgendwo im Hinterkopf hatte er die Ankunft der Stapel von Gerüststangen, der Baustellenwagen und Baugeräte in der Straße registriert. Vor einiger Zeit hatte er Geld für die Dachrestaurierung gespendet, und die Pastorin hatte ihm gesagt, man warte nur auf gutes Wetter, um mit den Arbeiten beginnen zu können. Nach den metallenen Fingern zu urteilen, die in den Abendhimmel ragten, war das gute Wetter gekommen. Das Ganze sah aus wie eine riesige Hand, die sich aus dem Boden erhebt, um die Kirche zu packen und in die Hölle herabzuziehen.
Seltsame Metapher. McLean schüttelte den Kopf und wollte gerade weitergehen, als eine Stimme die Stille durchbrach.
»Inspector. Tony. Was für eine angenehme Überraschung.«
Er wandte sich um und sah die schlanke Gestalt der Pastorin, die aus den Schatten des Friedhofs auftauchte, wie ein glückloses Gespenst, festgebunden an den eisernen Zaun, der die Toten von der Flucht abhielt. Sie trug das übliche Schwarz, nur der weiße Kragen unterstrich ihr blasses Gesicht und das graue, schulterlange Haar, sodass sie einen Augenblick lang wie ein schwebender, körperloser Kopf wirkte.
»Frau Pastorin, ich …«
»Mary, bitte.« Als sie ganz ins Licht trat, stellte McLean fest, dass sie Gartenhandschuhe trug und in einer Hand eine Gartenschere hielt. Ein Klumpen von etwas, das wie abgestorbenes Brombeergestrüpp aussah, hing schlaff in der anderen Hand.
»Ein bisschen Unkraut jäten?«
»Eine Sisyphusarbeit in dieser Zeit des Jahres. Es sind einfach zu viele Nährstoffe im Boden.«
McLean blickte um sich. Jeder Grabstein auf dem Friedhof sah mindestens hundert Jahre alt aus. Was die Nährstoffe anging, war da wirklich nicht mehr viel übrig. Da bemerkte er das Lächeln im Gesicht der Pastorin.
»Wie ich sehe, hat man mit dem Dach angefangen.« Er wechselte das Thema, bevor sie auf den kürzlich Verstorbenen zu sprechen kommen konnte.
»Ja, in der Tat. Ich weiß ja, Sie sind nicht gläubig, Tony, aber wenn Sie Lust hätten, für schönes Wetter in den kommenden vierzehn Tagen …«
»Darum kann ich meinen Chef bitten. Er scheint einen direkten Draht zum Allmächtigen zu haben.«
»Dann lassen Sie’s besser bleiben.« Die Pastorin verdrehte die Augen und schaute zum Himmel. »Wir wollen ihn schließlich nicht verschrecken.«
»Gutes Argument.« McLean trat von einem Fuß auf den anderen. Es war ein langer Tag gewesen, und er hatte Hunger und wollte schnell nach Hause. Andererseits mochte er nicht unhöflich erscheinen.
»Ich habe eine Reihe von Abendveranstaltungen ins Leben gerufen. Wenn Sie interessiert sind …«
Er wollte ablehnen, aber die Pastorin unterbrach ihn.
»Keine Sorge, wir beten da nicht oder so. Nur zwanglose Gespräche bei einer Tasse Tee oder einem Bier. Die Abende sind recht beliebt. Es kommen auch ziemlich viele Alleinstehende. In Ihrem Alter. Die Leute sind zu beschäftigt, um Freundschaften zu schließen. Der Tag hat nicht genug Stunden …«
McLean fand es etwas seltsam, dass die Pastorin so etwas sagte. Er wusste zwar, dass er nicht besonders gesellig war, aber das störte ihn nicht sonderlich. Er hatte Freunde, konnte sich immer auf ein Glas Bier oder Wein oder zum Essen verabreden, wenn ihm der Sinn danach stand. Sicher, sie waren fast alle Kollegen oder wenigstens eng verbunden mit seinem Beruf, aber was war denn so verkehrt daran? War doch viel leichter, sich zu unterhalten, wenn man nicht dauernd raten musste, ob das Gegenüber irgendetwas, was man sagte, schockieren würde.
»Außerdem veranstalten wir einmal im Monat Pokerabende. Mit jemandem wie Ihnen würde ich gern mal ein paar Partien spielen. Vielleicht bekommen wir dann sogar genug Spenden, damit wir das ganze Dach sanieren können.«
»Tut mir leid. Ich weiß, Sie meinen es gut, aber das ist wirklich nicht mein Fall. Und Kartenspiele lassen mich kalt.«
»Kein Problem. Aber denken Sie an uns, wenn Sie in Ihrem großen alten Haus herumgeistern. Ist sicher nicht leicht, da allein zu leben. Vor allem nachdem … na ja.« Die Pastorin starrte auf ihre Hände und hantierte mit dem abgestorbenen Brombeergestrüpp herum. Eine gelungene Darbietung, wie McLean zugeben musste. Sie wäre gut in der Befragung von Verdächtigen. Andererseits war es kaum ein Jahr her, seit das Haus voll mit Leben war. Mit bizarrem, unvorhersehbarem Leben, aber trotzdem Leben. Jetzt gab es da nur noch ihn und die Katze. Die Katzen, korrigierte er sich. Aber er musste schon zugeben, dass es schön wäre, gelegentlich Menschen um sich herum zu haben.
»Ich werde es mir überlegen«, sagte er, im Wissen, dass er’s nicht tun würde.
»Apropos Ihre Kollegin. Kirsty. Sie kann Ihnen sagen, was wir auf den Treffen so machen. Wir spielen da nicht die fröhliche Gemeinde. Wir bieten nur an, ein wenig miteinander zu plaudern. Oder zuzuhören.«
»Ritchie?« McLean sah hinauf zur eingerüsteten Kirche. Der Himmel war dunkler geworden, der orangefarbene Sonnenuntergang ging in das tiefe Blauschwarz der Nacht über. »Sie ist hierhergezogen?«
»O ja. Vor etwa zwei Monaten. Hat sie Ihnen das denn nicht gesagt?«
Die Pastorin wirkte ein wenig bekümmert – so, als hätte sie ein Geheimnis verraten.
»Nein. Sie ist gerade erst wieder zur Arbeit erschienen. Sie war krankgeschrieben. Aber ich frage sie danach. Morgen.«
»Tun Sie das, Tony. Und grüßen Sie sie von mir.« Und damit nickte sie kurz, wandte sich um und ging zurück auf den dunklen Friedhof.
Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er beinahe am Eingangstor vorbeigegangen wäre. Auf den ersten Blick gab es keinen logischen Grund, warum Ritchie sich gerade dieser kirchlichen Gruppe angeschlossen hatte, denn sie lebte auf der anderen Seite der Stadt. Und ehrlich gesagt wunderte es ihn, dass sie überhaupt gläubig war. Dieses Thema hatte sie in ihren Gesprächen nie angeschnitten, außerdem gehörte sie nicht zu der Sorte Mensch, die an einem Sonntagmorgen verschwand, wenn Arbeit zu erledigen war.
Doch da spukte dieser – unlogische – Gedanke in seinem Kopf herum, der nicht verschwinden wollte. Ritchie war vom Bösen in Gestalt der geheimnisvollen Mrs Saifre berührt worden, gerettet hatte sie nur das Taufbecken in der Kirche. Eine Verknüpfung, über die er wirklich nicht gern nachdachte; die damit verbundenen Fragen hätten ihn überfordert.
»Was zum …?« Als er die kiesbestreute Zufahrt entlangging, schmiegte sich etwas an seine Beine. Er hatte kein Licht im Haus angelassen, unter den Bäumen war es stockdunkel, und die Zweige schlugen gegen seine Arme. Fast wäre er gestrauchelt. »Verdammte Katzen!«
Der Angreifer huschte ins Gebüsch davon, blieb dann stehen und drehte sich um. Seine Augen glänzten ein wenig im Dämmerlicht, und McLean konnte gerade genug von der Gestalt sehen, um festzustellen, dass es sich nicht um Mrs McCutcheons Katze handelte. Die hatte glattes Fell, und diese hier war ein großes, zotteliges Exemplar. Vielleicht eine von Madame Roses Katzen oder ein Kater aus dem örtlichen Rudel, der sich gesagt hatte, jemand wie McLean benötige Schutz.
»Ich kann schon selbst auf mich aufpassen, weißt du.« McLean ging zur Gartentür und trat ins Haus. In der Küche schaltete er das Licht an. Mindestens ein Dutzend Augenpaare schauten ihn von strategisch gewählten Stellungen an. So war es jeden Abend gewesen seit dem Besuch der alten Hellseherin. Im Grunde störte ihn das nicht. In der Regel hielten sich die Katzen in der Küche oder auch im Garten auf, wobei sich lediglich Mrs McCutcheons Katze in das restliche Haus vorwagte. Wie lang das so weitergehen würde, wusste er nicht. Genauso wenig, wie er eine Ahnung hatte, wie lange die Katzen bleiben würden. Er würde Grumpy Bob bitten, ein Auge auf sie zu werfen. Der alte Sergeant hatte Freunde in der Leith-Wache, die ihm vielleicht einen Gefallen tun würden.
»Lass dich nicht stören«, sagte er und ging weiter durch die Küche. Mrs McCutcheons Katze war die einzige, die seinen freundlichen Hinweis ignorierte; sie streckte sich auf ihrem Lieblingsplatz mitten auf dem Küchentisch, bevor sie heruntersprang und ihm hinaus in den Flur folgte.
Auf der Matte neben der Haustür lag ein kleiner Stapel uninteressanter Post. Einige Rechnungen, ein paar Junk-Mails, dazu ein Brief von seinen Anwälten. Er schob einen Finger unter das Siegel, riss es auf und ging in die Bibliothek. Viel Text, der Inhalt etwas zu trocken, als dass er ihn gleich verstand. Hatte irgendwas mit dem Wohnblock in Newington zu tun. Ein Angebot der McClymonts, das mit einem Schluck Malt Whisky vermutlich leichter zu verdauen wäre.
McLean legte alle Briefe auf den Beistelltisch, dann holte er seine Belohnung. Er überlegte, ob er ein wenig Musik auflegen sollte, war dafür aber nicht in Stimmung. Er blickte hinüber zu seinem Plattenspieler und der kleinen LP-Sammlung, die er sich zugelegt hatte und die ihn seit dem Brand an Ben Stevensons Sammlung erinnerte. Was wohl mit ihr geschehen würde?
Mrs McCutcheons Katze sprang ihm auf den Schoß, kaum dass er sich hingesetzt hatte, und beschnüffelte so lange seine freie Hand, bis er sie hinterm Ohr kraulte. Sie hatte die Ankunft von Madame Roses Katzen gut verarbeitet, schien jedoch entschlossen, ihn bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern, dass sie die Nummer eins war.
Er nahm einen ordentlichen Schluck und griff nach dem Stapel Briefe. Früher oder später musste er einen Entschluss fassen, was die Wohnung betraf. Der Verstand sagte ihm, das Geld zu kassieren, aber es gab immer wieder Wichtigeres zu erledigen.
Während er die Briefe zur Hand nahm, glitt aus dem Stapel eine schmale Postkarte, die mit dem Bild nach oben auf seinem Schoß landete. Die Katze schnüffelte daran, dann schlug sie mit einer Pfote darauf, bevor er die Karte aufheben konnte. Das Foto zeigte ein etwas verschwommenes Bild des Taj Mahal; als er die Karte umdrehte, erkannte er Emmas unleserliche Handschrift.
Es sind nicht mehr viele von uns übrig, aber es wird schwieriger, dem Weg zu folgen. Brechen bald Richtung Osten auf. Du fehlst mir. E. XOX
McLean starrte ungläubig auf die Worte, drehte die Postkarte um und spähte erneut auf das Bild, schaute sich die verdreckte Briefmarke an, als könnte sie ihm irgendwelche Hinweise liefern. Er roch an der Karte und meinte, einen Hauch von Emmas Duft wahrnehmen zu können, auch wenn er wusste, dass das nicht möglich war. Mrs McCutcheons Katze stupste seine Hand an, rollte sich auf seinem Schoß zusammen und fing an zu schnurren. Er trank einen zweiten Schluck, stellte das Glas auf den Brief seiner Anwälte.
Und dann saß er einfach nur da in der Stille und stierte auf die Postkarte.