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Wahrscheinlich hätte McLean von der Niederlassung der Kriminaltechnik direkt nach Hause fahren sollen, aber die Entdeckung, dass McClymonts Wagen gestohlen war, eröffnete zu viele Möglichkeiten. Bestimmt würde er Einschlafstörungen haben, wenn er nicht wenigstens anfing, das Puzzle zusammenzusetzen. Also fuhr er langsam zur Wache zurück und wälzte die wenigen Fakten, die er hatte, hin und her, allerdings ohne dass ihm irgendeine befriedigende Erklärung einfiel.

Er musste mit anderen Leuten, die mit dem Fall vertraut waren, reden, aber DC MacBride war schließlich nach Haus gegangen und Grumpy Bob nirgends zu sehen. In seiner Verzweiflung machte sich McLean auf die Suche nach Duguid, doch der Detective Superintendent war nicht da, was angesichts der Uhrzeit kaum überraschte. Nur DS Ritchie saß noch an ihrem Platz und starrte auf ihren Computer.

»’n Abend, Sergeant. Ist sonst noch wer da?«

Ritchie hob den Kopf. Ihr heller Teint wirkte im Schein des Bildschirms noch blasser. Mit einer müden Handbewegung fuhr sie sich übers Gesicht und antwortete: »Carter ist hier irgendwo, und DC Gregg hat ein Auge auf den Einsatzraum … Ist heute aber ruhig. Warum fragen Sie?«

»Ich habe eben eine interessante Information über die McClymonts bekommen und wollte mit jemandem darüber sprechen, bevor ich die Organisierte Kriminalität davon in Kenntnis setze.«

Während er Ritchie den Fall erklärte, fügten sich die ersten Puzzleteile zusammen, aber das Ganze blieb trotzdem ein Rätsel.

»Hört sich so an, als brauchten Sie eine Liste aller Baustellen, auf denen die gearbeitet haben. Sie können eine nach der anderen besuchen und sehen, was dabei herauskommt.« Ritchie widmete sich kurzzeitig wieder ihrem Bildschirm, schloss ihn dann aber. »Oder Sie überlassen die Sache der NCA, soll die sich doch darum kümmern.«

»Sie haben recht. Es ist deren Fall, nicht meiner. Ich bin denen schon oft genug gefällig gewesen.« McLean schaute sich im leeren Raum der Kripo um und stellte sich vor, was ihn erwartete, wenn er nach oben in den Einsatzraum ging: der Papierstapel in seinem Büro sowie DC Greggs Endloskommentar zu ihrem Privatleben.

»Fahren Sie demnächst nach Hause, Sir?« Ritchie hatte sich ihre Tasche geschnappt und über die Schulter gehängt.

»Ich denke, ja. Es bringt wahrscheinlich nichts, sich noch länger hier herumzutreiben. Warum fragen Sie?«

»Nehmen Sie mich mit? Mary veranstaltet heute Abend wieder eines ihrer kleinen zwanglosen Treffen. Ich komme sowieso schon zu spät, und wenn ich auf ein Taxi warte, wird’s noch später.«

Nur wegen des Lichts, das auf Ritchies Gesicht fiel, als sie die Tür zum Pfarrhaus öffnete und eintrat, stellte McLean fest, dass es bereits dunkel wurde. Die Sommernächte waren so kurz, dass es oft später als gedacht war, doch die Uhr am Armaturenbrett zeigte erst halb zehn an.

Er blieb im Wagen vor der Kirche sitzen und blickte auf die Straße. Sein Zuhause lag nur eine Minute entfernt, aber er wollte trotzdem nicht heimfahren. Madame Rose würde in der Küche mit einem herzhaften Essen auf ihn warten, doch er hatte keine Lust, sie zu sehen. Dabei stellte sie gar keine unangenehme Gesellschaft dar. Er war es eben gewohnt, allein zu sein. Allein mit sich selbst, der Katze und ab und zu mit einer Postkarte von Emma – was ihn daran erinnerte, warum er so viel arbeitete. Warum er sich den ganzen Mist antat, die geselligkeitsfeindlichen Arbeitszeiten und die noch ungeselligeren Kollegen, das tägliche Wühlen im Dreck der Menschheit.

Er sah noch mal auf die Uhr. 21 Uhr 35. An der Peripherie der Stadt war das eine ruhige Zeit. Später am Abend würden Leute unterwegs sein, die vom Pub oder von irgendeiner Show des Edinburgh Festivals kamen. Früher am Abend waren die Menschen aus den Büros und Fabriken auf dem Weg nach Hause gewesen. Jetzt aber herrschte eine Pause im nächtlichen Treiben. Was ihm gelegen kam.

Er ließ den Motor an, wendete auf der leeren Straße und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war.

An der Vorderseite des Gebäudes standen immer noch die Baugerüste, plumpe Metallstangen, die in alle Himmelsrichtungen wiesen. Wie gebrochene Knochen vor dem sich verdunkelnden Himmel. Die erste Gerüstebene war zu hoch, um sich mit einem Sprung an den Bohlen festklammern zu können. Die senkrechten Ständer – wie sie im Geheimjargon des Bauunternehmers hießen – waren extrem glatt und mit glänzendem Tape umwickelt, um sie noch rutschiger zu machen. Trotzdem gab es immer wieder Idioten, die da hinaufkletterten, angespornt vom Alkohol und von Freunden, die es nicht besser wussten. Als McLean noch Streife gegangen war, hatte er mehr als genügend Leute gesehen, die Baustellen mit Kinderspielplätzen verwechselten – massenweise gebrochene Arme und Beine, Wirbelsäulen und Hälse.

Für ihn stellte das Ganze jedoch kein Problem dar. Die Eingangstür zum alten Gebäude, in dem er früher gewohnt hatte, war zwar abgeschlossen, doch der Schlüssel, den er damals benutzt hatte, hing noch immer am Schlüsselring. Erstaunlicherweise passte er noch. Er warf einen Blick die Straße entlang. Aber selbst wenn da jemand gewesen wäre, hätte man ihn im Schatten des Baugerüsts nicht sehen können.

Als er durch die vertraute Haustür eintrat, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, verstummten die leisen Verkehrsgeräusche. Er blieb im Dunkeln stehen und stellte sich vor, dass es die vergangenen zwei Jahre nie gegeben hätte. Oder die letzten zwölf. Er würde diese Treppe hochsteigen, wie er das unzählige Male zuvor getan hatte. Kirsty würde ihn erwarten. Seine Kirsty mit den langen schwarzen Haaren und ihrer Art, ihn zu durchschauen – was ihn durchaus auf die Palme bringen konnte. Sie würden eine Flasche Wein trinken, sich bei der von ihm ausgewählten Musik unterhalten und dann zusammen ins Bett fallen.

Eine Sirene auf der Clerk Street riss ihn aus seinen Träumereien. McLean schüttelte den Kopf, wenn auch widerstrebend. Denn eigentlich wollte er diesen kleinen Augenblick des Glücks festhalten, auch wenn er wusste, dass es irrwitzig war, sich solchen Gedanken hinzugeben. Es gab schließlich einen Grund, warum er hier stand. Also war es am besten, die Sache durchzuziehen.

Was den Bau anging, gab es keine großen Fortschritte. Nicht gerade überraschend angesichts seiner Einwände gegen die Pläne und seiner Weigerung zu verkaufen. Was würde wohl aus der Baustelle werden, jetzt, da es McClymont Developments nicht mehr gab? Keine Frage, das war eine Sache für die Anwälte. McLean ging leise durch die Eingangstür zu Mrs McCutcheons Wohnung, dann die neuen Betonstufen hinunter in den Gemeinschaftsgarten.

Der Hof war eine Oase der Stille und Dunkelheit. Zu beiden Seiten fiel das Licht aus den benachbarten Wohnblöcken auf Wäscheleinen, Gartenmöbel und ungepflegte Pflanzen, doch hier in der Mitte war nichts. Nach hinten hinaus lagen die großen Bürocontainer, die irgendwie einem außerirdischen Raumschiff ähnelten. Der Minibagger, der daneben stand, wirkte im Zwielicht seltsam fehl am Platz. Der Rest des Gartens war erst aufgegraben und dann wieder mit Erde aufgefüllt worden, weshalb die Abflussstellen der Drainage aus dem frischen Beton ragten. Vorsichtig stieg er die Treppe bis zum Keller hinab und testete den Beton dort mit der Fußspitze. Er sah aus, als wäre er noch flüssig, doch das lag nur am Licht. Der Untergrund war fest, der Beton hart wie Stein, darin die Umrisse der geplanten Kellerwohnungen eingeritzt.

Leise näherte sich McLean den Bürocontainern. Soweit er das beurteilen konnte, war niemand hier. Gleichwohl war ihm klar, dass er eigentlich nicht hier sein durfte. Bis jetzt hatte er noch gegen keine Regeln verstoßen. Er besaß einen Schlüssel und hatte das Recht, sich an diesem Ort aufzuhalten. Die Container allerdings waren in juristischer Hinsicht so etwas wie eine Grauzone. Nein, wem wollte er etwas vormachen? Es handelte sich hier schlicht und ergreifend um einen Einbruch.

Wie vieles auf dem Betriebshof der McClymonts hatten auch die Bürocontainer schon bessere Zeiten erlebt. Die Eingangstür war abgeschlossen, aber die Fenster waren es nicht, und als er ein wenig an einem davon rüttelte, schwang es auf.

Hineinzuklettern war schwieriger als gedacht, doch schließlich gelang es McLean, ohne dabei allzu viel von den Dingen, die auf dem nahe stehenden Schreibtisch lagen, hinunterzufegen. Wenigstens hatte er daran gedacht, Handschuhe anzuziehen.

Er befand sich im Raum, in dem er die Pläne für den Umbau zuerst gesehen hatte. Da sie an die Hinterwand gepinnt waren, ließen sie sich im Schein der Straßenbeleuchtung kaum lesen. Die Schreibtische zwischen ihm und den Plänen waren im Grunde nichts als Resopalplatten auf Metallbeinen. Es gab weder Telefone noch Computer, nichts Hochwertigeres als ein Mikrowellengerät oben auf einem Kühlschrank, daneben ein schmutziger Wasserkessel. Nichts, das einen misstrauisch machen konnte.

Die Tür führte hinaus auf einen schmalen Flur, der an zwei Büroräumen entlangführte. Auf der einen Seite hingen Schutzhelme und reflektierende Jacken an Haken. Auf der anderen Seite befand sich eine Ansammlung verschiedener Plakate mit Sicherheitswarnungen, die die Arbeiter daran erinnern sollten, wie lebensgefährlich es auf Baustellen zugehen konnte. Gegenüber war eine zweite Tür, die ein Zugang zum nächsten Bürocontainer hätte sein sollen, doch als McLean sie öffnen wollte, musste er feststellen, dass sie abgeschlossen war. Er ging zurück in den ersten Raum und kramte so lange in den Schubladen herum, bis er einen Schlüsselbund gefunden hatte. Er machte sich nicht allzu viel Hoffnung, dass einer davon passen würde, aber einen Versuch war es wert.

Im Flur herrschte jetzt fast vollständige Dunkelheit. Trotzdem wollte McLean seine Taschenlampe nicht einschalten, denn er befürchtete, jemand aus den zum Hof hin liegenden Wohnungen könnte ihn entdecken. Er probierte die Schlüssel am Bund nach Gefühl aus, einer nach dem anderen glitt ins Schlüsselloch, wurde gedreht und stieß auf Widerstand. Schließlich aber ein Klicken. Die Tür ging auf; er spähte in den Raum.

Ein hohes Fenster ließ das wenige Licht ein, das es noch gab. Auch als sich McLeans Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, konnte er nur die vagen Umrisse von Schreibtischen und sonstigen Ablageflächen erkennen. Doch hier roch es anders als im übrigen Container. Elektrisch, aufgeladen. Gegenüber flackerten rote und grüne LED-Lämpchen an der Frontseite irgendwelcher Computer. An der einen Seitenwand reihten sich Bildschirme aneinander. McLean wollte schon den Raum betreten, als sein gesunder Menschenverstand sich doch noch meldete. Nein, das hier war nicht sein Fall, nur ein Rätsel, von dem er nicht die Finger lassen konnte. Und sollte sich tatsächlich ein Verbrechen ereignet haben, so befanden sich die beiden Täter inzwischen außer Reichweite des Gesetzes.

Er zog die Tür wieder zu, schloss hinter sich ab und legte die Schlüssel zurück in die Schublade. Dann sammelte er die Unterlagen wieder auf, die beim Einsteigen auf den Boden gefallen waren. Er betrachtete das Fenster, fand es dann aber doch zu riskant, auf diesem Weg nach draußen zu gelangen. Weil es sich beim vorderen Schloss um ein Yale-Schloss handelte, konnte er wieder hinauskommen, ohne dass man merkte, dass überhaupt jemand drin gewesen war.

Als er endlich in seinem Wagen saß – überzeugt, dass er die ganze Zeit beobachtet worden war –, zückte McLean sein Handy und drückte die Tasten, bis die Nummer auf dem Display erschien, die man ihm gegeben hatte. Eine Zeit lang ließ er den Finger über dem Wählsymbol schweben, wohl wissend, dass ihn die Sache nichts anging. Aber man hatte es zu seiner Sache gemacht, oder! Nämlich dadurch, dass sein Name auf den Bauplänen stand. Und weil die NCA ihm die Hölle heißgemacht hatte wegen etwas, das ihn nicht betraf. Dieses windige Vorgehen aufzuklären war vielleicht nicht seine Aufgabe, aber angesichts der Tatsache, dass die McClymonts tot waren, bestand die Gefahr, dass niemand sonst es tat.

Ein kurzer Blick auf die Uhr. Es war spät, aber noch nicht so spät, dass man einen Polizeibeamten nicht anrufen durfte. Insbesondere einen Detective Chief Superintendent.