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Hat man Ihnen diesen Fall auch noch aufs Auge gedrückt?«

McLean hatte sich nach einem Streifenwagen umgesehen, der ihn aufs Revier bringen konnte. Es war zwar nicht weit, aber die Hitze machte ihm zu schaffen. Das Stadtzentrum war übervoll mit Touristen, die zum Festival Fringe gekommen waren, was die Freude am Spazierengehen jedes Mal beeinträchtigte. Als er einen Blick über den abgesperrten Teil der Straße warf, entdeckte er eine kleine Reporterin in einem Ledermantel, der mit Sicherheit zu warm war.

»Ms Dalgliesh, auch mal wieder vor Ort? Ich hätte gedacht, Sie würden einen Volontär zu einer Sache wie dieser schicken.«

»Sie sind ziemlich verspannt, Tony. Wissen Sie das eigentlich? Manch einer würde vielleicht sogar sagen: gestört. Privatschulausbildung, schätze ich mal.«

Das saß. Vielleicht hatte Dalgliesh nur geraten oder aber so tief in seiner Vergangenheit gegraben, dass sie die Namen der beiden teuren und exklusiven Schulen kannte, auf die ihn seine Großmutter geschickt hatte.

»Ich nehme an, Sie schreiben an einem Artikel.« Das war zwar geheucheltes Interesse – aber die Frage brachte Dalgliesh davon ab, über ihn zu sprechen.

»Wird nur eine kleine Meldung, wirklich. Abgesehen vom Verkehrschaos gestern Abend ergibt das keine gute Geschichte. Dieses Viertel sehnt sich seit Ewigkeiten nach ein bisschen Erneuerung. Vielleicht bringt das hier etwas Schwung in die Sache. Damit die Stadträte in die Gänge kommen.«

McLeans Hand ging automatisch zu seiner Jacketttasche, zum »Stoppt die Erschliesung!«-Flyer, den er aus Madame Roses Briefkasten gezogen hatte. Er hielt inne, bevor Dalgliesh darauf aufmerksam wurde, ballte die Hand zur Faust und öffnete sie wieder, als wollte er einen arthritischen Schmerz loswerden.

»Ich hätte Sie übrigens noch angerufen.«

»Ach ja?« Die Gesichtszüge der Journalistin spiegelten echte Verblüffung.

»Ben Stevenson. Ein Update wäre wirklich nützlich. Haben Sie schon herausgefunden, woran er gearbeitet hat?«

»Dann ist heute Ihr Glückstag.« Dalgliesh schenkte ihm ein so breites Grinsen, dass sie wie eine Art wahnsinniger, verhutzelter Hai aussah. »Aber Sie müssen mir einen Kaffee ausgeben.«

Der Kaffee wurde in einem lächerlich großen Becher serviert, eher eine Frühstücksschüssel mit Henkel als etwas, aus dem man trinken konnte. Positiv war, dass das Café auch große Stücke eines äußerst schmackhaften Schokoladenkuchens anbot. McLean hatte vor lauter Eile, das Haus zu verlassen, nicht gefrühstückt und fand deshalb eine kleine Stärkung gerechtfertigt.

»Zunächst einmal war Ben Stevenson ein guter Journalist.« Jo Dalgliesh wischte sich die Krümel eines Ingwerkekses vom Mund, trank einen Schluck Kaffee beim Kauen und schluckte glücklicherweise alles hinunter, bevor sie weitersprach. McLean war so fasziniert von ihren skandalösen Manieren und völligem Mangel an Befangenheit, dass es ihm die Sprache verschlug.

»Oh, ich weiß, ihr Polizisten haltet uns alle für fiese Schreiberlinge, die irgendwelchen Mist unter die Leute bringen, um euch das Leben schwer zu machen, aber in Wahrheit steckt da manchmal ziemlich viel Arbeit dahinter.«

»Das Leben schwer machen? Und ich habe gedacht, dass Ihnen das im Blut liegt.«

»Für jemanden, der meine Hilfe will, benehmen Sie sich wie ein echter Mistkerl.«

McLean biss ein kleines Stück von seinem Kuchen ab, damit er nicht allzu schnell darauf antworten konnte. Dalgliesh hatte natürlich recht. Er brauchte ihre Hilfe. Es war nur eben schwierig, den über Jahre gewachsenen Abscheu beiseitezuschieben, noch schwerer, mit dieser Frau an einem Tisch zu sitzen und nicht an den journalistischen Anschlag zu denken, den sie gegen ihn und die Familien der anderen Opfer von Donald Anderson verübt hatte.

»Okay. Schon gut. Tut mir leid.« Er hob beide Hände – das gespielte Eingeständnis der Niederlage. »Ich werde nicht so tun, als würde ich Sie sympathisch finden, Dalgliesh, aber ich will versuchen, höflich zu sein.«

»Ja, na immerhin.« Dalgliesh musterte ihn, als wollte sie dahinterkommen, ob er sie veralberte. Er musste die Prüfung bestanden haben, denn sie zog ihr Notizbuch hervor und legte es zwischen sie beide auf den Tisch.

»Es hat zwar ein bisschen gedauert, alles zusammenzustellen, aber ich bin ziemlich sicher, an welchem Thema Ben gearbeitet hat, als er … na, Sie wissen schon.«

»Ging es um die ›Bruderschaft‹?«

Dalgliesh hob eine Braue. »Ja, genau. Ein Haufen düsterer Gestalten zieht an den Strippen. Die geheime Weltregierung steht hinter allem Bösen, das sich jemals in der Geschichte ereignet hat. Hat die Finger überall drin. Besitzt alles. Daneben wirken die Illuminati wie Amateure.«

»Und Stevenson war diesen Leuten auf der Spur?«

»Oh, er hat’s geglaubt. Kontakte hier, Geheimtreffen dort. Aber das ist alles Schwachsinn.«

»Tatsächlich?«

»Ja, totaler Schwachsinn. Sie haben bestimmt mit Dougie Ballantyne gesprochen. Diesem miesen kleinen Dreckskerl.«

McLean nickte; er erinnerte sich an die Fahrt nach Borders. Tee und Geplapper.

»Und – wie fanden Sie ihn?« Dalgliesh griff nach ihrem Kaffeebecher, nahm einen Schluck und wartete auf McLeans Antwort.

»Verblendung in großem Stil. Aber er ist intelligent. Sehr gut darin, Muster zu erkennen, Verbindungen zwischen Dingen, von denen man glaubt, dass sie nicht verknüpft sind, herzustellen. Meistens sind sie es auch nicht, aber auf den ersten Blick wirken seine Argumente durchaus plausibel.«

»Wenn man nur seine Nachweise betrachtet und die Art, wie er sie vorträgt, ja. Aber mein Job, und Ihrer auch, besteht darin, alle Seiten eines Arguments zu betrachten. Die Fakten zu überprüfen. Nach Verifizierungen zu suchen, einer zweiten Meinung. Wenn man das mit Ballantynes Theorien macht, fallen sie ziemlich schnell in sich zusammen.«

»Aber Stevenson hat ihm geglaubt. Ich dachte, Sie schätzten ihn als Journalisten.«

»Ja, das habe ich auch. Ben war einer der Besten, wenn er sich anstrengte.«

»Und …?«

»Wissen Sie, was Ballantyne über sich selbst sagt? Wie er seinen Quatsch rechtfertigt?«

McLean dachte an das Gespräch zurück. Es hatte erst vor zwei Tagen stattgefunden, aber in der Zwischenzeit war mehr vorgefallen, als ihm lieb war. »Irgendetwas dem Sinn nach, dass er ein Bote ist?«

»Ganz genau.« Dalgliesh trank noch einen Schluck, sah mit so etwas wie Bedauern auf ihren Keksteller, fuhr mit ihren nikotinverfärbten Fingern zwischen den Krümeln herum und steckte sie sich in den Mund. »Er meint, er kommt damit durch, wenn er die Geheimnisse verrät, die man ihm zugespielt hat. Das gehört alles zu irgendeiner Strategie, um aus dem Schatten rauszukommen. Er glaubt tatsächlich, dass der ›Kopf‹ mit ihm spricht und ihm befiehlt, was er schreiben soll.«

»Ritchie hat ihn ›total durchgeknallt‹ genannt. Das dürfte den Geisteszustand von Douglas Ballantyne III. ziemlich gut auf den Punkt bringen.«

»Und doch, obwohl wir wissen, was für ein Irrer er ist, hat Ben geglaubt, dass er irgendeiner Sache auf der Spur ist.« Dalgliesh tippte auf das geschlossene Notizbuch, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Er hat wirklich geglaubt, dass es diese ›Bruderschaft‹ gibt. Vielleicht sogar diesen körperlosen Schädel, der sie alle beherrscht.«

»Nach allem, was ich gehört habe, stand Stevenson unter ziemlich großem Druck. Beruflich hatte er seit Jahren an keiner guten Geschichte mehr gearbeitet. Und sein Privatleben war auch alles andere als stabil.«

»Ah. Ihr habt also mit Charlie geredet.« Dalglieshs Miene war seltsam verschlossen, aber die darin aufblitzende Wut überraschte McLean.

»Die Exfrau des Ermordeten? Ja, sie ist eine der Personen, die wir befragt haben.«

»Aye, na ja. Hat sie Ihnen auch verraten, was sie an der Scheidung verdient hat? Hat sie Ihnen gesagt, dass sie fremdgegangen ist?«

Das hatte sie natürlich nicht, was aber auch nichts zur Sache tat. »Umso mehr Grund haben wir zu der Annahme, dass sich Stevenson vielleicht nicht so sehr auf seinen Beruf konzentriert hat, wie er das hätte tun sollen.«

Dalgliesh schüttelte den Kopf. »Sie kennen Ben nicht. Das ist nicht seine Art. Wenn überhaupt, hätte ihn der Druck vorsichtiger, wie sagt man – gewissenhafter gemacht.«

McLean staunte, dass Dalgliesh das Wort überhaupt kannte. »Sie haben sein Geheimzimmer gesehen. Diese Wand. Gewissenhaft hat das in meinen Augen nicht ausgesehen. Eher wie das Endstadium einer Geisteskrankheit.«

»Im Grunde bin ich froh, dass Sie das erwähnen.« Dalgliesh kramte in ihrer Schultertasche und holte eine Handvoll DIN-A4-Farbausdrucke hervor. Beim ersten handelte es sich um ein Foto des Zimmers neben Ben Stevensons Schlafzimmer, die Wand mit den Fotos, Zeitschriftenausschnitten und Merkzetteln. Alles verknüpft mit endlosen Reihen farbiger Bindfäden. In diesem Maßstab war es fast unmöglich, das Ganze für etwas anderes als ein Stück moderner abstrakter Kunst zu halten.

»Die Auflösung ist nicht besonders gut.« Dalgliesh strich die Falten glatt, legte zwei weitere Fotos neben das erste, um eine Art Montage zu kreieren. »Aber ich habe alles auf meinem Computer, und ich kann nahe genug heranzoomen, um zu erkennen, was was ist. Interessant finde ich, dass sich nichts speziell auf das Freimaurertum bezieht. Schauen Sie, hier ist etwas über den Hellfire Club, Beggar’s Benison, diesen ganzen Quatsch. Die Guild of Strangers wird erwähnt, auch einige Schriften der Tempelritter. Sogar ein paar Sachen über die schottische Polizei sind dabei, die ich noch recherchieren muss. Aber da ist kein Freimaurersymbol, kein Verweis auf irgendeine Große Loge oder Hohe Versammlung. Es scheint fast so, als hätte er die Freimaurer ganz bewusst aus seinen Recherchen ausgeschlossen.«

McLean zog das erste Foto zu sich heran, um es genauer zu betrachten. Was aber nicht wirklich half, denn alle Details waren zu klein, als dass man sie richtig erkennen konnte. Das Original befand sich noch unter Verschluss, nachdem die Kriminaltechniker Stevensons Wohnung durchsucht hatten. Er würde hinübergehen müssen und sie sich noch einmal anschauen, aber bis dahin konnte er Dalgliesh ja erst einmal glauben.

»Demnach hat er nicht wirklich über die Freimaurer recherchiert«, sagte er.

»Oh, er hat bei denen angefangen. Das macht jeder. Aber dann wurde er auf Ballantynes Buch aufmerksam und ist in eine andere Richtung gegangen. Schauen Sie mal.« Dalgliesh zeigte auf die Fotos, schob sie übereinander, sodass das eine zur Hälfte verdeckt war.

»Nicht wirklich, nein. Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ballantyne sei verrückt. Das muss Stevenson doch auch erkannt haben.«

»O ja. Das wusste er genau. Aber dann ist ihm etwas anderes eingefallen. Jemand anders.«

»Und wer?« McLean zog eines der Fotos näher zu sich heran, spähte auf die verschwommenen Linien – als könnte er das Bild auf wundersame Weise deutlicher werden lassen.

»Genau das versuche ich ja herauszufinden.« Dalgliesh legte ein letztes Foto auf den Tisch. Bei dem handelte es sich um eine Nahaufnahme der Wand, das verschwommene Bild eines Mannes, der im Dunkeln unter einer Straßenlaterne stand. Unmöglich, irgendwelche Gesichtszüge zu erkennen, aber Stevenson hatte mit rotem Marker etwas darübergeschrieben. »Und wer ist das?«