70

Dunkelheit erfüllte das Innere der Kirche wie Torfwasser, Schatten warfen bizarre Formen in dem offenen Raum. Gerüststangen zogen sich die Gänge entlang und verliefen kreuz und quer in einem Durcheinander von Metall; das unordentliche Nest irgendeines riesigen Vogels. Das Echo der sich schließenden Tür brauchte weniger Zeit, um zu verstummen, als McLean erwartet hatte, wurde gedämpft von den schweren Holzbalken über ihm. Er hob Schweigen gebietend die Hand, bevor Ritchie etwas sagen konnte, und bemühte sich anschließend, in der Stille etwas Ungewöhnliches zu hören.

Nichts. Nicht einmal das gedämpfte, ferne Summen der Stadt draußen. In der Kirche war es ungewöhnlich still, als hielte irgendetwas irgendwo erwartungsvoll den Atem an. Mit leisen Schritten betrat McLean den Innenraum der Kirche, wobei er fortwährend auf etwas lauschte, das lauter war als das Blutrauschen in seinen Adern, der Schlag seines Herzens.

Das alte, steinerne Taufbecken stand dort, wo er es wenige Monate zuvor gesehen hatte, aber das restliche Kircheninnere war nicht auszumachen. Stapel nicht benutzter Gerüstbretter lehnten an Kirchenbänken, die wiederum vor den Wänden standen. Als er hinunterschaute, sah er die abgewetzten Steinplatten, einige mit Worten der Erinnerung an die darunterliegenden, zu Staub verfallenen Gebeine. Neben ihm wandte Ritchie sich gerade langsam um, als sie ein leises, grauenerregendes Stöhnen ausstieß.

»Was ist denn?«, flüsterte McLean; aber sie entfernte sich bereits von ihm. Und da entdeckte er selbst, was sie in die Flucht geschlagen hatte.

Am hinteren Ende des Mittelschiffs, dort, wo die niedrigen steinernen Stufen zum Altar hinaufführten, hatte jemand aus Gerüststangen und etwas, das wie Dachbalken aussah, ein provisorisches Kreuz errichtet. Das Erste, was McLean auffiel, war die Größe, so viel größer als die Kreuze, die er von den seltenen Gelegenheiten her kannte, wenn er eine Kirche besucht hatte. Das Zweite, was er bemerkte, war, dass dieses Kreuz, anders als die üblichen christlichen Kreuze, ein krudes X bildete. Es erinnerte ihn an die Schulzeit und die Lektionen über antike Geschichte.

Als Drittes erblickte er den nackten Mann, Arme und Beine gespreizt, dunkle Stellen, wo er ans Kreuz genagelt war.

»Warten Sie!«, wollte McLean rufen, doch der Ausruf blieb ihm in der Kehle stecken. Es wäre ohnehin vergebliche Mühe gewesen, denn Ritchie war schon fast bei dem Mann und streckte die Hand nach ihm aus. In dem Moment erkannte McLean den Mann, der dort hing, als den jungen Geistlichen Daniel. Da wurde ihm alles schlagartig klar.

Er ging einen Schritt weiter in die Kirche und lauschte, um irgendetwas außer Ritchies leisem »Nein, nein, nein« zu hören, die versuchte, zum Kreuz und dem darauf fixierten Mann zu gelangen. McLean hatte die Kirche für leer gehalten, aber ihm war nicht klar, ob das stimmte. Zu viele Schatten, Umrisse, bei denen es sich um in einer Ecke gestapelte Bänke oder um einen Mörder handeln konnte. McLean erreichte den Mittelgang, drehte sich langsam um, wartete, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, und zog schließlich sein Handy aus der Tasche. Strahlend hell leuchtete das Display auf, als er es berührte. Er tippte darauf herum, bis die Schnellwahlnummer für den Einsatzraum erschien, hob das Telefon ans Ohr und ging gleichzeitig Richtung Kreuz.

»McLean«, meldete er sich, sowie jemand dran war. »Wer spricht?«

»Ich bin’s, Sir. Sandy … ich meine, Detective Constable Gregg, Sir.« Na, es hätte schlimmer sein können.

»Constable, ich brauche ein vollständiges Einsatzteam hier draußen, so schnell wie möglich.« Er nannte ihr die Adresse und näherte sich weiter dem Mann am Kreuz. Es war so umgeben von einem Durcheinander aus übereinandergelegten Gerüststangen, dass es fast unmöglich war, nahe genug heranzukommen. Statt die Stangen wegzuräumen, versuchte Ritchie, darüber hinwegzuklettern, doch immer wenn sie einen Fuß aufsetzte, rutschte der Stapel unter ihr weg.

»Ich komme nicht an ihn ran. Wir müssen das hier wegschaffen.« Sie beugte sich hinunter und zog an einer Gerüststange, stieß dann einen Schrei aus, als diese so verrutschte, dass ihre Hand daruntergeriet. McLean gelang es, das Ende der Stange zu fassen und diese so weit anzuheben, dass sich Ritchie befreien konnte. Dann wichen beide eilig zurück, während der Stapel in sich zusammenfiel.

»Was ist da los, Sir? Das hört sich nach einem Autounfall an.« DC Greggs Stimme klang blechern, das Geklapper der Stahlstangen hallte noch in McLeans Ohren nach, aber er sorgte sich mehr um den gekreuzigten Priester. Der Lärm hatte ihn geweckt, er bewegte so leicht den Kopf, dass es auch eine optische Täuschung hätte sein können.

»Ich brauche einen Notarztwagen und ein Feuerwehrteam. Fünf Minuten, Constable.«

»Bin schon auf dem Weg, Sir. Nur, Superintendent Duguid …«

Was immer Duguid wollte, McLean fand es nie heraus. Ritchie hatte sich inzwischen einen Weg durch das Chaos aus Gerüststangen bahnen können. Sie war am Kreuz angelangt und kletterte daran hoch, suchte nach einer Möglichkeit, ihren Freund zu befreien. Als sie ihn berührte, stieß er einen gellenden Schrei aus, als wäre ein furchterregendes Fabelmonster aus dem Schlaf erwacht.

»Ihr dürft euch da nicht einmischen. Dies ist Gottes Werk!«

McLean hatte kaum Zeit zu reagieren, als eine Gestalt durch die Luft auf ihn zugeflogen kam. Er wich einer Hand aus, die, wie er glaubte, seinen Hals packen wollte, stolperte über eine Taurolle und fiel auf den Rücken. Scharfer Stahl glitzerte im Schummerlicht, pfiff durch die Luft, dort, wo sein Hals gewesen war, dann prallte er mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Er sah Sterne vor den Augen, es brauste in den Ohren, als stünde er in einem Tunnel, in den der Zug einfuhr. McLean kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, sein Blick verengte sich auf einen dunkel umrandeten Punkt, der auf den gekreuzigten Priester und Ritchies fieberhafte Versuche gerichtet war, ihn herunterzuholen.

»Seine Seele ist rein. Ihr könnte den Herrn nicht davon abbringen, ihn zu sich zu nehmen.« Seltsam verzerrt klangen die Sätze, als kämen sie aus einem Radio, das in eine Badewanne gefallen war. McLean rappelte sich mühsam auf, seine Hände fühlten sich glitschig an. Er hob eine Hand, sah, dass sie blutverschmiert war, und erst jetzt spürte er den Schmerz. Er hatte eine Schnittwunde in der Handfläche und eine Verletzung am Hinterkopf, mit dem er auf den Boden geprallt war.

Alles bewegte sich in Zeitlupe – nur nicht der Mann im Schatten. Er schien überall zu sein, tauchte mal hier, mal dort auf. Der Haufen aus Gerüststangen stellte für ihn kein Hindernis dar, genauso wenig wie Kreidelinien auf einem Gehsteig. Er kam näher und näher zum Kreuz, zum gekreuzigten Priester und DS Ritchie, die scharfe Klinge blitzte auf, als ein vereinzelter Lichtstrahl durch die Buntglasfenster darauf fiel. In diesem Moment wusste McLean genau, was Maureen Shenks widerfahren war. Und warum.

»Nein!« Das Wort klang hohl in McLeans Ohren, aber es musste eine Dringlichkeit darin gelegen haben. Während er sich aufrappelte, auf wackligen Beinen dastand, wandte sich auch Ritchie schließlich vom Kreuz ab, entdeckte ihren Angreifer im letzten Moment. Sie wich ihm aus, während er ausholte, nahm eine Haltung ein, die ihr half, das Messer abzuwehren. McLean taumelte auf sie zu. Ihm war schwindlig, und er wusste irgendwie, dass er eine Gehirnerschütterung hatte und sich ohne Waffe einem Messerstecher näherte. Es schien, als würde sich das Mittelschiff von ihm entfernen, während er strauchelnd auf den Altar zuhastete und voll Entsetzen sah, wie Ritchie rücklings über einen Arm des provisorischen Kreuzes stürzte. Der Mann, der behauptete, Norman zu sein, sprang darum herum, seine Bewegungen ähnelten denen eines Affen, während er seinen Vorteil suchte. Ritchie lag auf dem Rücken, die Arme nach oben gestreckt, um sich vor dem auf sie gerichteten Messer zu schützen. Und immer noch war McLean zu weit entfernt.

»Norman, hören Sie auf.«

Ob es nun an seiner lauten Stimme lag oder an etwas Grundsätzlicherem – dass er den Namen ausgesprochen hatte: Der Mann blieb abrupt stehen. Vor ihm lag DS Ritchie gekrümmt auf dem Boden, die Arme über dem Gesicht, die Jackettärmel zerfetzt und blutig. Bale richtete sich auf, drehte sich zu seinem Widersacher um, und da wurde McLean klar, dass er sich viel näher am Kreuz befand, als er geglaubt hatte. Er warf einen kurzen Blick auf Daniels blasses, schmerzverzerrtes Gesicht.

»Gefällt dir, was ich getan habe, Tony?«

Die Stimme klang fremd und zugleich auf unheimliche Art vertraut. Älter, gewiss, aber auch völlig gleich. Konnte das wirklich Norman sein? Hatte die Großmutter ihn angelogen, was Normans Tod anging? Hatte er tatsächlich überlebt? Um dann zu diesem Monster zu werden?

Das Messer immer noch in der Hand, entfernte sich Norman mit schnellen Schritten von Ritchie. Während er um das Kreuz herumging, fuhr er mit der freien Hand über Daniels nackten Oberschenkel und verschmierte dadurch das Blut, das von der Hand des Gekreuzigten vom Arm getröpfelt, von der Achselhöhle wie dicker roter Schweiß getropft war. Ein leiser Laut drang aus ihm, Speichel- und Blutbläschen quollen ihm aus Mund und Nase. Er lebte noch. Es gab noch Hoffnung. Und Hilfe war sicher schon auf dem Weg. Er musste nur etwas Zeit gewinnen.

»Ich dachte, du wärst gestorben. Vor all den Jahren. An Leukämie. Das hat man mir erzählt.«

»Oh, ich bin gestorben, Tony. Ich hatte eine Krankheit, die deine kostbare Medizin nicht heilen konnte. Natürlich konnte sie das nicht. Es war Gottes Wille, dass ich sterbe. Er hat mich in seine Arme genommen und mir gesagt, dass ich erwählt bin.«

McLean wusste nicht genau, ob sein Kopf schon wieder klar war, fühlte sich aber etwas sicherer auf den Beinen. Langsam trat er durch den Mittelgang in Richtung Taufbecken den Rückzug an. Der Mann, der Norman sein könnte, folgte ihm, noch immer mit dem mörderischen Messer in der Hand.

»Warum, Norman? Wozu bist du erwählt worden? Was hat Daniel dir bedeutet? Was haben die anderen dir bedeutet?«

»Das weißt du nicht? Das siehst du nicht?« Als Norman einen Schritt näher trat, erkannte McLean den Wahnsinn in Normans Augen. Sein Blick huschte umher wie der eines Vogels. Flitzte hierhin und dorthin und versuchte, alles aufzunehmen, doch er sah etwas ganz anderes als das Alltägliche.

»Sag mir, was ich sehen sollte.« McLean wich noch einen Schritt zurück und hoffte, dass Ritchie nicht schwer verletzt war. Die Kavallerie würde jeden Moment eintreffen. Ganz bestimmt.

»Natürlich kannst du es nicht erkennen. Keiner von ihnen konnte es. Aber ich kann es. Ich sehe es in ihnen. In Daniel hier, in Ben und Jim und all den andern. Und ich erkenne es in dir.«

Norman stürmte vor, die Hand mit dem Messer ausgestreckt. McLean bewegte sich langsam, zu langsam, sein Brummschädel fühlte sich an wie Watte. Ein reißendes Geräusch; er spürte ein Ziehen am Jackett, einen scharfen Schmerz in der Seite, als das Messer über die Rippen glitt. Blitzartig drehte er sich um und versuchte auszuweichen, während Norman in der Dunkelheit tanzte, den Todesstoß ausführen wollte. Aber etwas versperrte ihm den Weg: das uralte steinerne Taufbecken. Er saß in der Falle, hilflos.

»So eine Herrlichkeit in seinem Werk. Zwei vollkommene Seelen werden am heutigen Tag gen Himmel fahren.« Mit erhobenem Messer kam Norman immer näher, bereit zuzustoßen. McLean hob abwehrend die Hände, im Wissen, dass es sinnlos war, und erinnerte sich, was Ben Stevenson und Maureen Shenks widerfahren war.

Und dann ein Durcheinander. Kurz erklang ein dumpfes Geräusch im Kirchenraum. Bale riss den Blick empor, seine Knie knickten ein. Er ließ das Messer fallen, sackte auf dem Steinboden zusammen. Hinter ihm, aus dem Schatten, tauchte eine grinsende Teufelsfratze auf. Jo Dalgliesh hielt eine Gerüststange in der Hand, in den Augen ein böses Glitzern.

»Du hast schon einen meiner Freunde erwischt. Ich wäre verdammt, wenn ich noch einen verlieren würde.«