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Die Vorderfassade bleibt erhalten, aber hinten wollen wir das Gebäude auf den ersten vier Stockwerken um drei Meter verlängern. Der fünfte Stock bekommt einen Balkon mit Blick auf die Salisbury Crags, und in die obersten beiden Etagen bauen wir zwei Maisonette-Wohnungen.«
Im Mietcontainer hatte Joe McClymont auf einem großen Tisch die Baupläne im A1-Format ausgebreitet, in einer Ecke stand ein Modell der Umbaumaßnahmen. Wie sich herausstellte, war der ältere Mann Joes Vater, Jock. Er ließ seinen Sohn reden, hatte aber ganz offensichtlich das Sagen. McLean konnte nicht gerade behaupten, dass ihm die beiden Männer sympathisch waren. Trotz ihrer professionellen äußeren Erscheinung, den blank geputzten Schuhen, den Anzügen und dem teuren Auto machten sie auf ihn einen unseriösen Eindruck. Im hinteren Bereich hielt sich eine dritte Person auf, eine Frau mittleren Alters, die McLean nicht vorgestellt worden war. Sie arbeitete an einem Laptop, blickte aber hin und wieder auf und musterte ihn mit kaum verhohlener Feindseligkeit.
»Moment mal. Balkon im fünften Stock und zwei Geschosse obendrauf?« McLean zählte an den Fingern ab. Er hatte nicht wirklich aufgepasst, aber plötzlich wurde ihm dieses Detail bewusst. »Sie wollen hier ein sechsstöckiges Gebäude errichten?«
»Ganz richtig. Sechs Geschosse, ja. Drei Wohnungen in den ersten vier Geschossen und zwei große Wohnungen, die sich über die obersten beiden Stockwerke erstrecken.«
»Wie soll das funktionieren? Das Gebäude hat nur vier Stockwerke.« McLean warf einen Blick auf das Modell in der Ecke, dann schaute er es sich etwas genauer an. Von vorne sah es genauso aus wie das alte Gebäude, aber das musste natürlich auch so sein. Ausgeschlossen, dass die Gemeinde den Abriss gestattete, da machte sie eher jemandem das Leben schwer, indem sie auf den Erhalt bestand. Auch wenn die Hälfte der Häuser in der Straße nicht zueinanderpassten.
»Sehen Sie die Treppe dort, die Sie aus dem Erdgeschoss heruntergekommen sind?« Joe McClymont deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Überreste von Mrs McCutcheons Wohnung. »Wir mussten die ganzen alten Wände, vorne und an der Seite, untermauern. Was bedeutete, fast drei Meter tief zu graben. Sie können sich übrigens gar nicht vorstellen, wie teuer das war. Dadurch haben wir jedoch unter dem ursprünglichen Bau Platz für zwei Souterrainwohnungen bekommen. Die sind zwar recht dunkel, aber die Rückseite geht hinaus zum Garten. Das ist toll für Kinder.«
»Aber das Gebäude bleibt im Besitz der Gemeinde? Und der Garten auch?«
McLean musste kein Detective sein, um den heimlichen Blick wahrzunehmen, den die beiden Bauleute austauschten. »In gewisser Weise, ja«, sagte Joe schließlich.
McLean blickte erneut auf die Bauzeichnungen, jetzt ein wenig aufmerksamer. Das Gebäude sah wirklich beeindruckend aus, aber die Zimmer waren doch eher klein, die Decken niedrig. Er drehte sich ganz um, betrachtete das Modell etwas genauer. Die Vorderseite sah aus wie immer, aber die Geschosse waren versetzt worden. Die Fassade war nur Fassade, und die Wohnungen dahinter würden sehr viel beengter sein als vorher.
»Mir scheint, Sie haben hier schon ziemlich viel Arbeit investiert.«
»Ein Gebäude wie dieses kommt nicht oft auf den Markt«, sagte Jock McClymont. »Bei diesem Spiel darf man nicht still herumsitzen.«
»Was uns zum eigentlichen Grund unseres Treffens bringt.« Diesmal meldete sich Joe McClymont zu Wort, doch es war offensichtlich, dass sich die beiden abgesprochen hatten.
»Ich soll Ihnen meinen Eigentumsanteil an dem Gebäude verkaufen, das ist mir klar.« McLean hielt kurz inne und beobachtete die Mienen der beiden Männer. Jetzt, wo er Bescheid wusste, sah er, dass es sich um Vater und Sohn handelte. Im Gegensatz zum alten Jock McClymont mit seinem onkelhaften Aussehen und einem Gesicht, das mit den Jahren voller geworden war, wirkte Joe mager und gierig. Und auch wenn Joe gefährlicher zu sein schien, so hatte McLean doch Erfahrung genug, um zu wissen, dass es der Alte war, der ihm Ärger bereiten würde. Hinter ihnen murmelte die Frau irgendwelche unverständlichen Sätze, so, als spräche sie mit einem Ausländer.
»Und wenn ich das nicht möchte?«
In der Ferne unterstrich eine Sirene das lange Schweigen, das folgte. Sogar die Frau hörte auf zu reden.
»Ich verstehe nicht.« In Joes Miene zeigte sich aufrichtige Verwirrung, so, als hätte sich noch nie jemand geweigert zu verkaufen. »Wieso nicht? Ich meine, was ist die Alternative?«
»Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie mir das sagen können. Ich meine, es ist doch ein wenig anmaßend, mit den Bauarbeiten zu beginnen, obwohl einem das Gebäude noch gar nicht gehört, oder?«
»Uns gehört eine Mehrheitsbeteiligung, mein Junge.« Jock McClymonts schroffer, aber freundlicher Ton hatte sich gewandelt. »Wir haben uns bislang nicht mit Ihnen gestritten, weil es ja Ihre Wohnung ist. Aber wir können Ihnen nur bis zu einem gewissen Grad entgegenkommen.«
Interessante Wortwahl. McLean brauchte wirklich nicht den ganzen Ärger, der daraus entstehen konnte, aber er war auch nicht so töricht, entgegen seinen Grundsätzen zu handeln. »Und wenn ich ganz einfach meine Wohnung zurückhaben möchte?«
Joes Blick verengte sich. »Sie wollen eine der Wohnungen kaufen?«
»Nein. Ich will meine Wohnung. Oberste Etage links. Die hellblaue Tür. Drei Zimmer, Vollbad und ein halbes Zimmer, in dem jeder Student gern wohnen würde. Ich will eine Küche, von der ich über den Garten hinwegschauen und Arthur’s Seat sehen kann, wenn ich ein wenig den Hals recke. Das rostige Fahrrad, das ans Treppengeländer gekettet ist, verschenke ich, und wenn es keinen nachhaltigen Geruch von Katzenpisse im Eingangsbereich gibt, wäre das ein Plus.«
Beide McClymonts starrten ihn entgeistert an, mit fast identischen Mienen. Joe fand als Erster seine Sprache wieder.
»Aber die Pläne …«
»… sind ein bisschen schrottig, oder?«, unterbrach ihn McLean. »Sechs Geschosse? Im Ernst? Wie haben Sie das denn beim Bauamt durchbekommen? Sie lassen nur die Vorderfassade stehen und bauen dahinter eine billige moderne Investorenkiste: Glauben Sie wirklich, dass die Stadt so etwas braucht?«
»Was die Stadt braucht, spielt keine Rolle.« Jock McClymonts Stimme klang bedrohlich. »Wir haben einen Haufen Geld in das Haus gesteckt. Und wir haben nicht vor, das Ihretwegen in den Wind zu schreiben. Die Penthouse-Wohnungen werden viel mehr kosten, als Ihr Anteil wert ist. Wenn Sie nicht das Geld nehmen, das wir Ihnen angeboten haben …«
»Ich glaube, Sie haben mich missverstanden, meine Herren. Ich weiß es zwar zu schätzen, wie viel Zeit und Mühe Sie in das alles hier investiert haben«, McLean machte eine umschreibende Armbewegung, »aber was Sie vorschlagen … Ich kann mir auch nicht ansatzweise …« Er griff nach dem obersten Blatt der Baupläne, rollte es auf dem Tisch aus. »Sie müssen schon mit etwas viel Besserem kommen als dem hier, wenn ich Ihnen bei der Realisierung helfen soll. Und wenn Sie mich nun bitte entschuldigen, ich muss zurück an die Arbeit.«
McLean stand vor der Haustür, atmete einmal tief durch und schaute sich auf der Straße um. Sie war ihm so vertraut wie seine Haut, ein Ort, an dem er mehr als fünfzehn Jahre gewohnt hatte, bis zu jenem schrecklichen Brand. Aber das war damals, und dies war jetzt. Er besaß noch ein – viel zu großes – Haus, von dem er sich genauso wenig trennen konnte. Dabei wäre eine Wohnung, die näher am Arbeitsplatz lag, durchaus sinnvoll, und er könnte auch eine kaufen, wenn er es gewollt hätte. Nein, es war etwas weniger Rationales – das Gefühl, dass die Menschen, die in dem Haus gelebt hatten und gestorben waren, es irgendwie besser verdienten. Zudem waren ihm McClymont senior und junior im Lauf des Gesprächs immer unsympathischer geworden. Und schließlich, der Kern der ganzen Sache: Es war über ihn verfügt worden. Die McClymonts wollten, dass er verkaufte, und meinten, das Problem würde verschwinden, wenn sie mit etwas mehr Geld um sich warfen. Sie hätten sich erst die Mühe machen sollen, ihn ein wenig besser kennenzulernen.
Mit gesenktem Kopf, um keinen Augenkontakt mit den anderen Fußgängern herzustellen, machte er sich auf den Rückweg zum Revier, in der Hoffnung, seine Gedanken sammeln zu können. Als sein Telefon in seiner Tasche vibrierte, hörte er keinen der Klingeltöne, die DC MacBride einprogrammiert hatte, damit er wusste, dass er den Anruf beantworten musste, aber das Gedudel hatte trotzdem etwas Dringliches, das er nicht ignorieren konnte. Er zückte das Handy und blickte auf das Display. Eine internationale Nummer. Vielleicht versuchte da jemand, ihm ein betrügerisches Finanzprodukt zu verkaufen oder ihn dazu zu verleiten, sensible Passwörter seines Computers mitzuteilen. Fasziniert drückte er das Icon für Rufannahme und hielt sich das Handy ans Ohr.
»Hallo?«
»Das ist ja gar nicht Gordon. Mist, da habe ich mich wohl verwählt.« McLean erkannte die Stimme, auch wenn es viel zu lange her war, dass er sie gehört hatte, und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Sieht so aus, Phil. Wie geht’s denn so?«
»Warte … warte. Tony? Mann, Kumpel. Wie geht’s dir?«
»Ach, wie immer. Viel zu tun. Du weißt ja, wie es ist.«
»Das musst du mir nicht sagen. Das Leben an der Uni macht mich total fertig. Diese amerikanischen Studenten. Die sind ja so … wie sagt man?«
»Engagiert?«
»Jaja, ganz richtig.« Phil lachte. »Oder sollten es wenigstens sein.«
»Wie geht’s Rae? Ihr beide wollt mich hoffentlich nicht schon wieder bitten, in nächster Zeit Pate zu werden.«
»Rae ist …« Phil machte eine etwas zu lange Pause, er war aus der Übung, sich mit seinem alten Freund, dem Detective, zu unterhalten. »Rae geht’s gut.«
»Du wirst also mit Kalifornien nicht recht warm?« McLean verlangsamte seine Schritte, um die Zeit hinauszuzögern, bevor er im Revier ankam und den Anruf beenden musste. Dann merkte er, dass er sich in der falschen Straße befand, blieb stehen, sah sich um. Er war unwissentlich nach Hause gegangen.
»Verdammt, ich hab ganz vergessen, mit wem ich rede. Aber es stimmt: Sie genießt es auch nicht besonders. Und um ehrlich zu sein: Sie will wirklich Kinder. Ich bin mir bloß nicht sicher, ob ich die hier großziehen möchte, verstehst du?«
McLean sagte nicht: »Und du glaubst, hier drüben ist alles besser?« Obwohl er es gern getan hätte. Es erstaunte ihn, dass Phil überhaupt Kinder in Erwähnung zog, aber es hatte ihn ja auch überrascht, als sein alter WG-Mitbewohner geheiratet hatte. Menschen ändern sich.
»Könnte vielleicht besser sein, nach Hause zu kommen. Wer weiß? In ein paar Monaten ist Schottland ja vielleicht unabhängig.«
»Mach keine Witze darüber, Phil. Die ganze Sache nervt total.«
»Du glaubst nicht, dass Schottland es allein schaffen kann?«
»Kann? Doch, natürlich. Aber sollte? Das ist eine Frage für einen langen Abend mit Bier und Pizza. Und einer Flasche Whisky, um die Sache abzurunden.«
»Klingt wie eine Verabredung. Beim nächsten Mal, wenn ich wieder drüben bin. Hör zu, Tony, es war super, mit dir zu plaudern, aber …«
»Du musst noch Gordon anrufen. Wer immer das ist. Ja, es ist gut, deine Stimme zu hören, Phil. Du solltest dich öfter mal melden. Und du weißt, du kannst mich immer anrufen, jederzeit, ja?«
»Ja, klar. Wird gemacht. Also, bis bald vielleicht.« Und damit war das Gespräch zu Ende.
McLean stand am Rand der Meadows und betrachtete die nachmittäglichen Spaziergänger, die Studenten, die auf den Rasenflächen lagen oder Fußball spielten. Ein Pärchen ging vorbei, es hielt das Töchterchen jeweils an einer Hand. Bei jedem dritten, vierten Schritt verlor die Kleine das Gleichgewicht; doch es vertraute dem festen Griff der Eltern, überzeugt, dass ihm keinerlei Gefahr drohte. Eine solche Unschuld war ebenso berührend wie beunruhigend. Bittere Erfahrungen hatten McLean zynisch gemacht, aber das hieß ja nicht, dass es allen so ergehen musste. Er schüttelte den Kopf über seine merkwürdigen Gedanken und den noch seltsameren Umstand, der diese ausgelöst hatte. Ein Blick auf die Uhr an der Ecke des alten Dick-Vet-Gebäudes verriet ihm, dass es schon spät war und er nicht zurück aufs Revier gehen, sondern lieber einen wohlverdienten freien Abend zu Hause verbringen sollte.
Der aber vermutlich doch nicht stattfinden würde …