18
Wie ich höre, haben Sie diese Reporterin in Stevensons Wohnung mitgenommen. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«
McLean blieb abrupt stehen – allerdings nicht so sehr wegen der Frage, die der Detective Chief Inspector ihm gestellt hatte, sondern wegen der plumpen Hand, die ihn am Arm packte. Er hatte gehofft, sich durch die Hintertür hinauf zu seinem Büro stehlen zu können, doch das Glück hatte ihn heute allem Anschein nach verlassen.
»Ich hätte gedacht, dass das offensichtlich ist, Sir.« Er schüttelte Brooks’ Griff ab und rückte dann etwas zu betont sein Jackett zurecht. Der DCI schaute ihn wütend an, wie üblich.
»Es handelt sich um einen potenziellen Tatort, und Sie schlendern mit einer Zivilistin da rein. Ich kann daran nichts Offensichtliches erkennen. Das ist verdammt ungewöhnlich, wenn Sie mich fragen.«
McLean bemühte sich, nicht den Kopf zu schütteln, was ihm aber nicht ganz gelang. »Ben Stevenson ist in der Höhle ums Leben gekommen, in der wir ihn gefunden haben. Seine Wohnung war kein Tatort, aber sie hätte Hinweise liefern können. Dalgliesh ging regelmäßig dorthin; sie kannte die Wohnung besser als irgendwer sonst. Kannte Stevenson besser als irgendjemand. Ohne sie hätte ich nicht erfahren, woran er vor seinem Tod gearbeitet hat.«
»Das beantwortet aber nicht meine Frage. Seit wann haben Sie angefangen, mit Angehörigen der Presse zu fraternisieren?«
»Ich kenne viele Leute, mit denen ich lieber verkehren würde als mit dieser Dalgliesh. Sie hat sich an mich gewandt, bevor ihr Kollege tot aufgefunden wurde.«
»Und Sie finden das nicht verdächtig? Sie halten es für eine gute Idee, diese Frau zu den Ermittlungen hinzuzuziehen, obwohl sie tatverdächtig sein könnte? Verdammt, da ist es doch kein Wunder, dass Sie die Stelle als DCI nicht bekommen haben. Es erstaunt mich, dass Sie es überhaupt bis zum Inspector gebracht haben.«
»Wenn Sie wirklich glauben, dass Dalgliesh hinsichtlich des gewalttätigen Ritualmords an ihrem Kollegen tatverdächtig ist, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen, Sir. Wie Ihnen sehr wohl bewusst ist, habe ich weniger Grund, sie sympathisch zu finden als viele andere Leute in diesem Kommissariat, nach dem Buch, das sie über die Entführung und den Mord an meiner Verlobten geschrieben hat. Erinnern Sie sich?«
McLean hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne, gerade lang genug, dass Brooks etwas darauf erwidern konnte, doch dann sagte er: »Ich würde übrigens lieber in dem Fall ermitteln, ohne dass Ms Dalgliesh mir in die Quere kommt, aber sie kennt Stevenson, kennt seine Arbeit und, was noch wichtiger ist: Sie hat eingewilligt, nur das zu veröffentlichen, was wir freigegeben haben.«
»Wer’s glaubt. Sie wird schreiben, wie nutzlos wir sind, und ihren Mist ausbreiten, so wie sie das immer tut. Sie stellt eine Bedrohung dar, und gerade Sie sollten das wissen. Ich möchte sie aus diesen Ermittlungen raushaben. Verstehen Sie?«
McLean musterte Brooks. Er war fett; man konnte es nicht anders sagen. Er aß gern und bewegte sich ungern. Er war kein schlechter Detective, wenn er sich anstrengte, doch in letzter Zeit schienen seine Bemühungen größtenteils auf die Beförderung abzuzielen. Wenn man der Gerüchteküche Glauben schenken wollte, würde er auf dem Sessel in Detective Superintendent Duguids Büro sitzen, sobald dieser in den Ruhestand gegangen war. Die Aussicht erfüllte McLean mit düsteren Gedanken. Sicher, damit wäre er Dagwood los, aber er hatte im Lauf der Jahre gelernt, wie man mit ihm umgehen musste. Brooks war da ein ganz anderes Kaliber.
»Als leitender Ermittler in diesem Fall glaube ich, dass mir diese Entscheidung obliegt, Sir. Und der Vorschlag, mit Dalgliesh zusammenzuarbeiten, kam vom Superintendent, es ist also nicht etwas, was ich ohne Rücksprache veranlasst habe.«
Brooks wurde rot, seine Kinnbacken wabbelten, sein Zorn entbrannte. Normalerweise ließ sich abschätzen, wann er in die Luft ging, denn dann traten ihm jedes Mal Schweißperlen auf die Stirn. Das war jetzt zwar noch nicht der Fall, konnte aber jederzeit passieren.
»Gut«, sagte er nach vielleicht zehn Sekunden, in denen die Spannung wuchs. »Beziehen Sie sie mit ein. Oder versuchen Sie’s. Aber sie wird Ihnen ein Messer in den Rücken stoßen. Solche Leute können gar nichts anders. Denen ist nichts heilig. Denken Sie an meine Worte.«
Und damit drehte er sich um und marschierte mit schlenkernden Bewegungen davon wie ein Seemann, der erst kurz wieder an Land war. McLean sah ihm hinterher und musste sich eingestehen, dass Brooks, missgelaunter Trottel, der er war, vermutlich recht hatte. Na ja, bislang hatte Dalgliesh ihren Teil der Vereinbarung eingehalten. Es würde sich herausstellen, wie lange die Sache gut ging. Müde und resigniert schüttelte er den Kopf und stieg die Treppe hinauf zum Einsatzraum.
»In mein Büro. Jetzt sofort.«
McLean blickte von dem Bericht auf, den er gemeinsam mit DC Gregg gegengelesen hatte, und sah Detective Superintendent Duguid in der Tür stehen. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass Duguid seit der ersten Besprechung zu diesem Fall vor ein paar Tagen den Einsatzraum betreten hatte.
»Bringen Sie das rüber zur Kriminaltechnik. Fragen Sie, ob die schon irgendwas in dem Notizbuch gefunden haben.« Er schickte Gregg los, dann drehte er sich zu Duguid um.
»Ist das wichtig, Sir? Ich habe noch bergeweise Akten durchzuarbeiten.«
»Natürlich ist es wichtig. Glauben Sie etwa, ich würde hier runterkommen und nach Ihnen suchen, wenn’s nicht wichtig wäre?« Duguid wandte sich von der Tür ab – und zwang McLean damit, ihm zu folgen. Auf dem Weg die Treppe hoch und in den Flur zu seinem Büro sagte Duguid kein Wort, sondern wartete, bis er saß und die Tür geschlossen war. Schließlich begann er: »Sie haben mich gefragt, ob Ben Stevenson Mitglied einer Freimaurerloge war. Die schlichte Antwort lautet: Nein.«
Wie üblich stand McLean vor dem Schreibtisch, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er wippte leicht auf den Zehenspitzen und wartete, dass der Detective Superintendent zum Thema kam. Es sei denn, Duguid hatte ihn aus keinem besonderen Grund hier herauf zitiert.
»Machen Sie es sich da nicht zu einfach?«, fragte McLean nach einem Moment der Stille.
»Sie sind kein Freimaurer, McLean. Da kann ich nicht erwarten, dass Sie das verstehen. Es wird viel Unsinn über uns geschrieben. Reißerische Spekulationen seitens der Skandalpresse, Verachtung seitens der großen Zeitungen. Sie wären überrascht, wie viel Gutes wir tun. Wie viel Geld wir für wohltätige Zwecke sammeln.«
»Ich bin sicher, dass das Ganze ein harmloser Scherz ist, Sir. Doch jemand hat Ben Stevenson die Kehle durchgeschnitten und anschließend das am eindeutigsten erkennbare Bild von Ihnen auf die Wand gemalt. Wer immer das getan hat, ist sicherlich kein Freimaurer, oder, falls doch, hat er es aus nur ihm bekannten kranken Gründen getan – aber trotzdem handelt es sich hier um eine gerechtfertigte Ermittlungsmaßnahme, finden Sie nicht auch?«
Einen Augenblick lang sah Duguid ihn finster an, und McLean fragte sich schon, ob er vielleicht etwas zu weit gegangen war. Der Detective Superintendent war bekanntermaßen empfindlich, was seine geliebte Freimaurerloge anging, und auch geheimniskrämerisch. Außerdem keiner von den Reformern, die den ganzen Verein modernisieren wollten.
»Wenn Sie mich bitte ausreden lassen würden. Ich habe mich umgehört – Stevenson war nicht Mitglied des Ordens. Sein Vater war es, aber Stevenson galt als …«, Duguid hielt kurz inne, als suchte er nach dem richtigen Wort, »… unzuverlässig.«
»Sie haben geglaubt, dass er alles ausplaudert, sobald er irgendwas Wichtiges erfährt.«
»Ja, damit haben wir alle gerechnet. Das geschieht öfter, als man für möglich hält. Nein, deswegen haben wir uns keine Sorgen gemacht, sondern eher wegen des Schadens, den er anrichten konnte, weil er nach Geheimnissen suchte, die gar nicht existierten. So wie Ihr Verweis auf diese Bruderschaft und Baphomet.«
»Sie wissen von diesen Dingen?«
»Ja. Dumme Verschwörungstheorien, die jeder Grundlage entbehren. Zu den idiotischeren Anschuldigungen, die gegen die Tempelritter erhoben werden, gehört, dass sie einen Dämon in der Gestalt eines körperlosen Schädels anbeteten. Ebendiesen Baphomet. Natürlich gibt es keinen Baphomet, keine Verschwörung. Die Tempelritter waren reich, und der König von Frankreich schuldete ihnen viel Geld. Er hat den Papst dazu überredet, sie der Hexerei und der Teufelsanbetung anzuklagen. Das war, schlicht und ergreifend, ein massiver Griff nach der Macht und hat sich vor siebenhundert Jahren ereignet. Die Freimaurer gibt es erst seit knapp dreihundert Jahren. Rechnen Sie nach.«
»Aber warum kommt dann dieses Thema immer wieder auf? Wieso der Verweis auf diesen Baphomet in der Gilmerton-Höhle?«
»Fragen Sie mich was Leichteres. Das Thema kommt dann immer mal wieder auf, wenn man das am wenigsten braucht. Aber so viel kann ich Ihnen sagen: Dieses Gefasel, dass da jemand in die Höhle runtergestiegen ist, hat nichts, aber auch rein gar nichts mit dem Freimaurertum zu tun.«
»Dann handelte es sich also um einen raffinierten Scherz.« McLean fiel das Buch ein, das er in Stevensons Wohnung gefunden hatte. »Oder vielleicht eine Falle.«
Jetzt war Duguid überrascht. »Eine Falle?«
»Kennen Sie einen Mann namens Douglas Ballantyne?« McLean musste gar nicht auf die Antwort warten; Duguids Gesicht sprach Bände. »Stevenson besaß sein Buch. Es trug die Widmung ›Für Ben, einen wahren Gläubigen‹.«
»Ballantyne ist ein Irrer. Ein Verschwörungstheoretiker von der schlimmsten Sorte. Lassen Sie sich von dem, was er sagt, nur nicht ins Bockshorn jagen.«
»Oh, das habe ich auch nicht vor. Da machen Sie sich nur keine Sorgen. Aber was, wenn Stevenson ihm nun wirklich geglaubt hat, was, wenn er Nachforschungen über Ballantynes Behauptungen angestellt hat? Vielleicht ist er ja davon ausgegangen, dass er dessen Thesen mit der Unvoreingenommenheit eines Journalisten zu betrachten hat?«
»Erzählen Sie mir doch nicht, dass er irgendwas herausgefunden hat und deswegen ermordet wurde. Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass an diesem Quatsch kein Fünkchen Wahrheit ist.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Aber jemand könnte diesen Unsinn dazu genutzt haben, um Stevenson anzulocken. Schließlich ist der Mord penibel geplant worden. Diese Leute mussten einen Grund haben, selbst wenn der Mord nichts mit dem Freimaurertum oder dieser nicht existenten Bruderschaft zu tun hatte.«
Duguid schwieg, er überlegte, was das alles bedeuten konnte. McLean sah, wie es dem Detective Superintendent langsam dämmerte.
»Wer hätte ein Interesse an Stevensons Tod?«, fragte er schließlich.
»Das ist die falsche Frage. Stevensons Feinde zur Strecke zu bringen, das wird diesen Fall nicht lösen.«
»Wieso nicht?« Duguid strich sich mit den langen Fingern durchs strähnige, grau melierte Haar.
»Weil es zu raffiniert ist. Zu ausgedacht. Nein, wir sollten nicht fragen, wer an Stevensons Tod Interesse hatte, sondern warum.«