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Wohin fahren wir, Sir?« McLean sah in den Rückspiegel und erblickte DC MacBride, der auf dem Rücksitz lümmelte. Die Luft, die durch das offene Fenster strömte, zerzauste seinen Pony, sodass er noch mehr als sonst wie ein Teenager aussah. Hätte er nicht in einem dunklen Anzug gesteckt, würde er als Student durchgehen. Oder als einer der vielen Hoffnungslosen, die gekommen waren, um auf dem Festival ihr Glück zu versuchen.

»Die Kirche?« DS Ritchie spähte durch die Windschutzscheibe, während sie auf die Straße bogen. Die Abendsonne stand tief am Himmel, der steile Kirchturm eine dunkle Silhouette. Die Streben des Gerüsts umgaben ihn, als wäre es der Stacheldraht eines Konzentrationslagers. Um die Gläubigen draußen zu halten oder vielleicht jemand anders drinnen.

»Da ist nichts drin – wenn man denn Mary glauben will.« McLean brachte den Wagen vor dem Pfarrhaus zum Stehen. »Sehen Sie einmal nach, ob sie da ist. Und finden Sie mehr heraus über diesen Mann, der behauptet, Norman zu sein.«

Ritchie löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür. »Und Sie?«

»Ich schaue mir kurz das alte Haus der Bales an. Mal sehen, ob kürzlich jemand dort gewesen ist. Wir treffen uns hier in zwanzig Minuten wieder.«

Ritchie nickte, stieg aus und schloss die Tür. McLean sah ihr nach, während sie durchs Tor ging, dann fuhr er weiter. Es war nicht weit bis zu seinem Haus, aber er fuhr daran vorbei, suchte nach der richtigen Zufahrt und fragte sich, wie er das hier am besten anging. Wie oft war er in diesem Haus gewesen? Es war alles so lang her, dieser letzte unbeschwerte Sommer, bevor seine Großmutter ihn ins Internat nach England schickte. Er hatte das Gebäude düster und still in Erinnerung, gar nicht unähnlich dem Elternhaus. Mit sechs hatte er die Dynamik innerhalb der Familie, die dort wohnte, nicht verstanden; er wusste nur, dass dort ein gleichaltriger Junge wohnte, zu dem er gehen und mit dem er spielen konnte. Und dann war dieser Junge an einer Krankheit gestorben, die er nicht einmal buchstabieren konnte, von aussprechen ganz zu schweigen.

»Wir gehen besser zu Fuß.« Er fuhr an den Bordstein, kurz hinter einem Tor in einen Garten, in dem so viele große Bäume standen, dass es nicht möglich war, das dahinter liegende Haus zu erkennen. Als MacBride und er ausstiegen, schlug ihnen die Hitze eines weiteren langen, sonnigen Tages entgegen, die von der Straße und den steinernen Mauern auf beiden Seiten abstrahlte. Und da bemerkte McLean den Geruch.

»Na – was führt denn Sie hierher?«

Er drehte sich um – und sah, wie eine Frauengestalt keine zwanzig Meter entfernt aus einem unscheinbaren Kleinwagen stieg. Jo Dalgliesh nahm die angezündete Zigarette aus dem Mund, hauchte ihre Worte in einer Qualmwolke aus.

»Ich bin versucht, das Gleiche zu Ihnen zu sagen, Ms Dalgliesh.«

»Ich vermute mal, wir interessieren uns für dieselbe Sache.« Die Reporterin nickte in die Richtung des Hauses. »Norman Bale?«

»Was wissen Sie über ihn?« McLean versuchte, die Frage nicht allzu dringlich klingen zu lassen, doch Dalglieshs Körperhaltung verriet, dass sie irgendetwas wusste, und mit ihm spielte.

»Er ist nicht da drin. Das ist das eine.«

»Waren Sie oben am Haus?«

»Aye, gruseliger Schuppen.« Dalgliesh nahm einen langen Zug an ihrer Zigarette, betrachtete diese eine Zeit lang, so, als könnte sie nicht begreifen, wieso die schon so weit runtergebrannt war. Dann schnippte sie die Kippe auf den Bürgersteig und drückte sie mit der Schuhspitze aus. Dalgliesh war unübersehbar mitteilungsbedürftig.

»Schauen Sie – Sie wissen genau, wie wichtig die Ermittlung ist. Wollen Sie mir nun verraten, warum Sie hier sind, oder muss ich den Constable anweisen, sie wegen Umweltverschmutzung festzunehmen?«

Dalgliesh stieß einen Schwall Rauch in einem langen Atemzug aus und begann, nach irgendetwas in ihrer Tasche zu suchen. »Schon gut, schon gut. Sie waren viel lustiger, als wir zusammengearbeitet haben, wissen Sie.«

»Ich hab gedacht, wir arbeiten immer noch zusammen.«

»Ja, na ja. Wenn Sie ein bisschen freizügiger mit Ihren Mitteilungen gewesen wären, hätte ich Ihnen das hier vielleicht etwas früher gegeben.« Dalgliesh reichte ihm einen dünnen Packen Papiere, überwiegend Fotos von der Recherchewand in Ben Stevensons Wohnung. McLean blätterte darin, aber im schwindenden Licht des ausklingenden Tages fiel es ihm schwer, Details darauf zu erkennen.

»Ich hab es immer etwas seltsam gefunden, dass Ben auf einen irren Verschwörungstheoretiker reinfällt.« Dalgliesh holte eine Zigarettenpackung aus ihrer Handtasche und steckte sich noch eine an. »Er war manchmal etwas begriffsstutzig, aber nicht so sehr. Wenn Sie mir gesagt hätten, dass jemand bei ihm eingebrochen ist und das ganze Zeug, das er besaß, von der Wand genommen hat, hätte ich geahnt, dass es wichtig sein muss.«

»Und das hat Sie hierhergeführt?«, fragte McLean.

»Aye. Hat eine Weile gedauert, bis ich’s rausgefunden habe. Ben war dahintergekommen, dass seine Kontaktperson ihn verfolgte, also hat er sie beschattet. Wahrscheinlich glaubte er, dass an der Geschichte mehr dran ist, als man ihm erzählte. Und hat dann auf die harte Tour gelernt, wie wahr das Ganze ist. Aber jetzt sagen Sie mal, Inspector – wieso wollen Sie mit Norman Bale sprechen?«

»Er ist nicht da, Sir.«

McLean und Dalgliesh zuckten zusammen, als sie die Stimme hörten. Aus dem Dunkel erschien DC MacBride, seine Schritte waren auf dem Kies kaum zu hören gewesen.

»Herrgott, Constable. Sie können einen wirklich erschrecken.« Dalgliesh kicherte.

»Überhaupt niemand zu Hause?«, fragte McLean.

»Sieht nicht danach aus. Die Tür ist abgeschlossen. An den meisten Fenstern im Erdgeschoss sind die Rollläden heruntergelassen.«

McLean spähte die Zufahrt entlang. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er das Haus besser erkennen konnte. Es sah ganz genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte, doch es ging irgendetwas Seltsames davon aus. Etwas sehr Seltsames.

»Wollen wir es uns einmal genauer ansehen?«

Das Haus lag im Dunkel, umgeben von Bäumen, die das schwache Licht der Straßenlaternen und das abendliche Dämmerlicht fernhielten. McLean stand vor der Haustür und fühlte sich um Jahrzehnte zurückversetzt. Ihm stand dieser letzte Sommer so klar vor Augen, wie das nur Kindheitserinnerungen vermochten. Je älter man wurde, desto mehr Ablenkungen gab es im Leben.

»Suchen wir nach etwas Besonderem, Sir?« DC MacBride stand vielleicht etwas zu nahe neben ihm, und an seiner Körpersprache war abzulesen, dass ihm unbehaglich zumute war. Drüben bei dem großen Wohnzimmerfenster schlich Jo Dalgliesh im Dunkeln herum wie eine Einbrecherin.

»Unter einem kleinen Topf. Er stand früher neben dem Stiefelabtreter auf der Veranda. Ist heute wahrscheinlich etwas besser versteckt.« McLean zückte seine kleine Stabtaschenlampe, leuchtete damit herum. Und tatsächlich, unter einem umgedrehten Terrakottatopf im Blumenbeet, ein, zwei Meter entfernt, lag ein Schlüssel. So viel zum Thema Sicherheit.

»Nichts anfassen.« Er reichte Dalgliesh ein Paar Latexhandschuhe, streifte sich selbst welche über. Es gab so viele Gründe, warum er das hier nicht tun sollte, und doch musste er wissen, welche Geheimnisse dieses Haus barg. In der Dunkelheit war das zustimmende Nicken seiner Mitstreiter kaum zu erkennen. Er richtete die Taschenlampe aufs Schlüsselloch, steckte den Schlüssel hinein und drehte ihn um.

Im Haus herrschte ein Geruch, den er nicht zuordnen konnte. Kein Schimmel, keine Fäulnis, sondern ein älterer, undeutlicher. Der Geruch machte McLean nervös, das Gleiche galt für Dalgliesh und MacBride, jedenfalls danach zu urteilen, wie vorsichtig sie das Haus betraten. McLean streckte den Arm aus und fand den Schalter, niedriger an der Wand als in der Erinnerung, aber genau dort, wo er ihn vermutet hatte. Er machte Licht, und es wurde hell im Flur.

»Warnen Sie mich, bevor Sie das noch mal machen.« Dalgliesh entfernte sich einen Schritt, ihre Hand ging reflexartig an seine Seite. Ob sie wohl seine Hand hatte nehmen wollen? Er hätte es ihr nicht verdenken können. Das Zimmer, in dem sie standen, hatte nichts offensichtlich Ungewöhnliches an sich, aber McLean sträubten sich trotzdem die Nackenhaare.

»Zur Küche geht’s da lang, wenn ich mich recht entsinne.« Er deutete zu einer Tür neben der Treppe. »Dort hat die Familie die meiste Zeit verbracht.«

»Sie kennen also diesen Irren?«, fragte Dalgliesh.

»Kannte ihn einen Sommer lang. Vor langer Zeit ist Norman Bale mein Freund gewesen. Egal, nach wem wir suchen, was immer er sagt, er ist nicht Norman Bale.« McLean ging voran, über einen Flur, der ihm viel kürzer vorkam als früher, durch eine viel kleinere Tür, die seltsamerweise immer noch mit grünem Filz bespannt war, in die Küche.

»Sieht für mich wie eine ganz normale Küche aus.« MacBride umrundete langsam den Tisch in der Mitte des Raums, fuhr mit seiner behandschuhten Hand über die absolut saubere Tischplatte aus Holz. McLean erinnerte sich an einen Raum voller Leben, diesen Ort, an dem sich alles abspielte, Mahlzeiten zubereitet, Pläne geschmiedet und Gebete gesprochen wurden. Er ging hinüber zum Herd, legte eine Hand auf die Abdeckung einer der Herdplatten, hob sie an, berührte kurz die Platte. Kalt, oder zumindest so kalt, wie es die Sommerhitze zuließ. Mit Sicherheit nicht angeschaltet.

»Nicht hier drin«, erklärte er. »Vielleicht hier entlang.«

Dalgliesh folgte ihm zurück auf den Flur, dann durch eine andere Tür ins Wohnzimmer. Es war nicht belebter als die Küche, die Luft schal, dicker Staub auf allen Oberflächen. Wenn der Mann, der behauptete, Norman Bale zu sein, im Haus gewesen war, dann hatte er diesen Raum nicht betreten.

Und auch nicht das Arbeitszimmer des alten Mr Bale oder die Bibliothek. Mit jeder Tür, die geöffnet, jedem Licht, das angeschaltet wurde, fühlte McLean sich weiter in die Vergangenheit zurückversetzt. Und mit jeder Tür wurde ihm immer stärker bewusst, dass die Zeit im Haus stehen geblieben war, dass sich seit jenem Sommer vor langer Zeit nichts darin verändert hatte.

Und dann gingen sie ins Esszimmer.

Vielleicht hatte er damit gerechnet und unterschwellige Signale ausgesandt. Vielleicht verströmte das Haus auch etwas, das einen gruseln ließ. So oder so, als er die letzte Tür im Erdgeschoss aufschob und nach dem Lichtschalter tastete, spürte McLean, dass Dalgliesh und MacBride sich dicht hinter ihm hielten. Der Geruch, der ihn beunruhigt hatte, als er die Haustür öffnete, war hier drin stärker, irgendwie anders, ohne dass er wusste, warum. Bis er das Licht anschaltete.

Als unschuldiger kleiner Junge hatte McLean an diesem Tisch zu Mittag gegessen. Hatte Teller voll Wackelpeter, Instanteiscreme und all diesen schrecklichen Dingen verputzt, die man in den 1970er-Jahren für Essen hielt. Er erinnerte sich an eine polierte Oberfläche, auf der man sein Glas mit Squash nicht abstellen durfte, an einen etwas gruseligen Raum, in dem die Erwachsenen mit einem sprachen, als wäre man eines Tages auch erwachsen.

»O mein Gott.« Diesmal umfasste Dalgliesh seine Hand, drückte sie fest und drängte sich enger an ihn. Hinter sich hörte McLean, dass DC MacBride tief Luft holte – was er dem Constable durchaus nicht verdenken konnte. Er und die Reporterin hatten Colin und Ina Bale ja schließlich nicht gekannt.

Mr und Mrs Bale saßen da, wie sie es immer getan hatten, zwar viel älter als in seiner Erinnerung, aber immer noch gut zu erkennen. Mr Bale saß am Kopfende des Tischs, seine Frau rechts von ihm an der Seite. Im künstlichen Licht war nicht auszumachen, wie lange sie schon tot waren, aber es musste schon eine ganze Weile her sein. Sie sahen aus wie Wachsfiguren, die Haare dünn und strähnig, die Gesichter zu grinsenden Fratzen erstarrt, die Augen eingetrocknet, die Linsen trüb. Vor ihnen lagen Gedecke, leere Teller, auf Essen wartend, das nie serviert werden würde. Und auf der anderen Seite des Tischs befand sich ein dritter Platz, an dem jemand kürzlich gesessen und eine Mahlzeit zu sich genommen hatte.