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Behauptet er immer noch, Norman Bale zu sein?«

McLean stand im Beobachtungsraum für Verhörraum eins. Hinter der Einwegscheibe saß der Mann, der Norman Bale sein könnte, stumm am Tisch und starrte vor sich hin. Detective Superintendent Duguid hielt seine langfingrige Hand an die Scheibe, als wollte er dem Mann den Kopf abreißen.

»Das sagt er jedenfalls, und er bleibt dabei. Wir haben keinen Ausweis bei ihm gefunden, aber die Kriminaltechnik hat seine Fingerabdrücke überall in Bales Haus gefunden. Er wohnt dort schon eine ganze Weile. Mary … die Pastorin kennt ihn seit mindestens fünf Jahren unter dem Namen Norman Bale. Er ist regelmäßiger Kirchgänger, besucht jeden Sonntag den Gottesdienst.«

»Also könnte er es sein«, sagte Duguid.

McLean spähte durch die Glasscheibe auf das schmale, blasse Gesicht. Versuchte, es mit dem Jungen in Verbindung zu bringen, den er vor all den Jahren gekannt hatte. Er konnte es sein, dachte er. Aber wie war das möglich?

»Wir haben die Krankenhausunterlagen überprüft. Norman wurde im Alter von sechs Jahren mit Leukämie ins Königliche Kinderkrankenhaus eingeliefert. Laut Totenschein ist er kurz danach gestorben.«

»Und trotzdem sitzt er hier.« Duguid lehnte sich an die Glasscheibe und wich zurück, als der Mann am Verhörtisch zu ihm hochschaute.

»Seine Eltern haben ihre Sachen gepackt und sind kurz nach seinem Tod nach Afrika ausgewandert. Nach Normans Tod. Dem echten Norman. Haben das alte Haus etliche Jahre leer stehen lassen, wegen irgendeiner Art Missionarsarbeit. Meine Großmutter hat das sehr skeptisch betrachtet.«

»Sie hat praktisch alles mit Skepsis betrachtet, wenn ich mich recht entsinne. Religion mehr als alles andere.«

McLean sah Duguid verwundert an. Natürlich musste der Detective Superintendent seine Großmutter gekannt haben; sie hatte noch lange nach ihrer Pensionierung als beratende Rechtsmedizinerin am städtischen Leichenschauhaus gearbeitet. Wurde zu den eher bizarren Fällen hinzugezogen, die es hin und wieder in der Stadt gab. Er konnte sich nur nicht daran erinnern, dass Duguid sie schon mal erwähnt hatte.

»Komisch, dass Sie sie jetzt erwähnen. Sie hat mir gegenüber nie über Norman gesprochen. Auch nicht über seine Eltern, aber sie hätte gewusst, wenn sie nach Edinburgh zurückgekehrt wären.«

»Na ja, es spielt im Grunde keine Rolle, ob er Norman Bale ist oder jemand anders. Wahrscheinlich hat er sie umgebracht, dieser miese kleine Dreckskerl. Und die anderen drei auch.«

»Ich habe das unangenehme Gefühl, dass das nur der Anfang ist.«

»Wie bitte?« Duguids Gesicht verlor alle Farbe.

»Bales Eltern sind seit mindestens fünf Jahren tot. Zu dem Zeitpunkt wurden sie angeblich beerdigt. Ben Stevenson wurde erst vor acht Wochen ermordet. Glauben Sie wirklich, dass Bale die ganze Zeit untätig gewesen ist? Ich würde die ungelösten Fallakten ausgraben, als vermisst gemeldete Personen, solche Sachen.«

Wenn überhaupt möglich, wurde Duguid noch blasser. »Hören Sie auf, die Dinge zu verkomplizieren, McLean. Überlassen Sie das den Jungs für die ungelösten Fälle. Holen Sie einfach ein Geständnis aus ihm raus.«

McLean wandte sich vom Detective Superintendent ab und blickte erneut durch die Glasscheibe in den Verhörraum. Norman oder nicht Norman starrte ihm jetzt mitten ins Gesicht, mit leichtem Stirnrunzeln, sodass es McLean kalt den Rücken hinunterlief.

»Irgendwie glaube ich nicht, dass das ein Problem ist, Sir.«

Seine Ruhe hatte etwas Enervierendes. Die Ruhe war es auch, die McLean am meisten auffiel, als er im Verhörraum Platz nahm. Ein Pflichtverteidiger saß neben dem Mann, der behauptete, Norman Bale zu sein. Er hatte seinen Stuhl etwas weiter vom Beschuldigten weggerückt, als vielleicht höflich war. Ein weiterer – leerer – Stuhl stand unter dem Tisch, weil Grumpy Bob beschlossen hatte, lieber neben der Tür zu stehen. Bislang hatte sich noch niemand beschwert.

»Sie sagen, Ihr Name ist Norman Bale. Dass Sie das einzige Kind von Colin und Ina Bale sind. Und doch zeigen unsere Unterlagen, dass der echte Norman Bale im Alter von sechs Jahren verstorben ist.«

»Unterlagen. Du weißt so gut wie ich, wie leicht es ist, die zu fälschen, Tony.«

McLean erwiderte den starrenden Blick; er versuchte immer noch, den Mann mit dem Jungen von damals in Zusammenhang zu bringen. Norman hatte ihn, auf genau diese Weise, Tony genannt, aber McLean konnte immer noch nicht akzeptieren, dass es sich tatsächlich um seinen alten Freund handelte. Sollte er es sein, dann hatte seine Großmutter ihn angelogen. Das warf ganz neue, üblere Probleme auf.

»Dann sagen Sie mir also, dass Ihr Tod vorgetäuscht war?«

»O nein. Ich bin gestorben. Gott hat mich in seine Arme geschlossen. Die medizinische Wissenschaft hat versagt. Doch der Herr hatte Pläne mit mir, und so wurde ich wiedergeboren.«

»Gleich danach? Oder haben Sie etwas Zeit im Himmel verbracht, ehe Sie an diesen Ort der Sterblichen zurückkehrten?«

»Die Zeit hat dort keine Bedeutung. Sie ist nur ein endloser Augenblick vollkommener Glückseligkeit. Das müsstest du doch wissen, Tony. Wenn du nur den Glauben hättest.«

Bales, oder nicht Bales, Augen huschten nach rechts, und er blickte kurz auf, als Grumpy Bob den Stuhl unter dem Tisch hervorzog und sich setzte. McLean nahm keine Notiz vom Detective Sergeant, sondern ließ sich Zeit, den ihm gegenüber sitzenden Mann zu mustern. Einen Moment lang war er unsicher gewesen, doch schließlich kam er zu dem Schluss, dass dies nicht Norman Bale war. Wer er war, wäre eine Frage für eine weitere Ermittlung, einen anderen Detective und vielleicht ein Team von Psychologen. Bei dem Mann handelte es sich vermutlich um jemanden, den die Bales bei sich aufgenommen hatten, ein Mieter oder einfach nur ein Bedürftiger. Die Bales waren in dieser Hinsicht stets gute Menschen gewesen. Wer immer dieser Mann war, er hatte sich in ihr Leben geschlichen, vielleicht hatten sie ihn auch dazu ermutigt oder etwas von ihrem toten Sohn in ihm gesehen. Hatten sich eingeredet, dass er zurückgekehrt sei.

»Okay. Gehen wir einmal davon aus, dass das, was Sie erzählen, stimmt. Jedenfalls fürs Erste. Dann sagen Sie mir: Haben Sie Ihre Eltern ermordet, Norman?«

Grumpy Bob klappte sein Notizbuch auf und tat so, als würde er sich Notizen machen, auch wenn das ganze Verhör aufgezeichnet wurde. DS Ritchie hatte daran teilnehmen wollen, aber sie war noch nicht lange aus dem Krankenhaus raus, nahm immer noch Antibiotika wegen ihrer Schnittverletzungen. Und wegen ihrer Beziehung mit Daniel hatte man sie vom Fall abgezogen. McLean wünschte, er könnte um den gleichen Gefallen bitten.

»Ich würde Ihnen raten, das nicht zu beantworten, Norman.« Die Begeisterung des Pflichtverteidigers war so gering, dass sie kaum messbar war. Offenbar hatte er seinen Mandanten bereits als unzurechnungsfähig abgeschrieben.

»Die waren die Ersten. Es war das erste Mal, dass Gott mir gezeigt hat, was mein Zweck im Leben sein würde. Nachdem er mich zu ihnen zurückgeschickt hatte.« Normans Stimme klang ruhig, sachlich. So, als verstünde er die Lage, in der er sich befand, vollkommen, so, als akzeptierte er sie wie den nächsten Tag.

»Warum haben Sie sie getötet?«

»Sie waren so gute Menschen. Du kanntest sie, du musst es gewusst haben. Sie haben jeden Tag gebetet, sind am Sonntag in die Kirche gegangen, haben für die Armen gespendet und hin und wieder für Wohltätigkeitsorganisationen. Ihr ganzes Leben haben sie dem Dienst an Ihm gewidmet. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor ihre Seelen rein wurden. Und als sie rein waren, wusste ich sofort, was getan werden musste. Eine reine Seele kann schließlich nicht lange in dieser Welt überleben, ohne verdorben zu werden.«

»Also haben Sie sie getötet, um ihre Seelen zu erlösen?« McLean versucht erst gar nicht, den Zweifel aus seiner Stimme zu verbannen.

»Es ist wirklich seltsam.« Norman lächelte sein Haifischlächeln und wandte sich zu seinem Pflichtverteidiger um. »Du hast keine Hoffnung. Deine Seele ist etwas Schmutziges. Sie wird im ewigen Höllenfeuer brennen. Du«, er nickte Grumpy Bob zu, »du wirst am Ende gerichtet werden. Der heilige Petrus wird seine Waage für dich bereithalten. Ich hoffe aufrichtig, du wirst nicht für allzu leicht befunden werden. Aber du«, und jetzt wandte er den Blick wieder zu McLean, »du bist so nahe, auch wenn du es nicht weißt. Du willst nicht zugeben, dass du überhaupt eine Seele hast. Du bist wie Ben und Jim, Daniel und all die andern, du brauchst nur einen kleinen Schubs. Du solltest mein nächstes Projekt sein.«

»Solltest?« McLean unterdrückte den Schauder, der ihn überlaufen wollte. So, wie Bale sprach, so, wie er sich benahm, ließ darauf schließen, dass er seine aktuelle Situation nur für eine kleine Unannehmlichkeit hielt.

»Gott hat andere Pläne mit mir.« Er zuckte die Achseln. »Und mit dir.«

Das elektronische Getriller seines Telefons bot eine willkommene Ablenkung vom riesigen Stapel Papierkram, der ihn unter sich zu begraben drohte. Zwar hatte man Bale, oder wer er auch war, gefasst, aber noch immer mussten drei große Ermittlungen zu Ende geführt, Überstunden eingetragen und Dienstpläne neu organisiert werden. Die Aufräumarbeiten verliefen stets chaotisch.

»McLean.« Er klemmte sich das Telefon unters Kinn, weil er beide Hände brauchte, um einen besonders kippligen Stapel mit Berichtmappen zu stabilisieren.

»Ich möchte mich entschuldigen, Inspector.«

»Wer spricht … ah, Chief Superintendent.« McLean brauchte einen Moment, um Tim Chambers’ Stimme zu erkennen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Oh, das haben Sie bereits. Mit Ms Violet Grainger, um genau zu sein.«

»Sie haben sie gefunden?«

»In London, ja. Sie hat sich versteckt gehalten, ausgerechnet im Savoy. Ich wollte Sie nur darüber informieren. Und Ihnen dafür danken, dass Sie uns auf ihre Fährte gebracht haben. All die Monate und Jahre haben wir damit vergeudet, bei den beiden McClymonts nachzuhaken, immer vergebens. Aber sobald wir angefangen hatten, die Sekretärin unter die Lupe zu nehmen, ist die ganze Sache klar geworden.«

»Die ganze Sache? Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Sir.«

»Wirklich nicht?« Chambers war skeptisch. »Na ja. Es wird alles im Prozess ans Licht kommen. Eine gekonnte Irreführung, wenn ich denn je eine erlebt habe. Kein Wunder, dass wir Vater und Sohn nichts anhängen konnten. Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn die selber nicht die Hälfte von dem wussten, was da vor sich ging. Außer dass der junge Joe das Genie war, was die Autos betraf. Aber sein alter Herr hatte wahrscheinlich keinen Schimmer, was da ablief.«

»Was haben die dann also verbrochen?« McLean stabilisierte die Aktenmappen, griff nach einem Kuli und schrieb etwas auf einen Notizblock, um zu prüfen, ob er funktionierte.

»Oberklassen-Autos stehlen. Ihnen eine neue Identität geben. Ein paar davon nach Übersee verschiffen. Das war die eine Hälfte. Die andere Hälfte war eine sehr gewiefte Drogen-Operation. Alle Gewinne sind durch die Immobilienentwicklungsfirma geschleust worden. Unsere Wirtschaftskriminalisten sind im Moment völlig begeistert von den Details, und glauben Sie mir, es braucht viel, damit die aus dem Häuschen sind.«

Das bezweifelte McLean nicht. Allein schon bei dem Gedanken an Wirtschaftskriminalitätsprüfung bekam er Durst.

»Ich wollte mich eigentlich nur bei Ihnen entschuldigen«, fuhr Chambers fort. »Wenn Sie uns nicht auf die Sekretärin gebracht hätten, hätten wir den Fall als unaufgeklärt ad acta legen müssen. Ich hasse so etwas.«

»Na, es freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.« McLean war sich nicht sicher, ob das stimmte, aber das Kompliment nahm er trotzdem gerne an.

»Ja, na ja. Wenn Ihnen Edinburgh jemals langweilig wird, sagen Sie uns Bescheid. Ich könnte ein paar mehr Detectives brauchen, die unkonventionell denken.«

»Hm … danke. Ich werd’s mir merken«, sagte McLean, aber da hatte Chambers schon aufgelegt.

Das Gerüst klammerte sich an die Fassade des Gebäudes wie metallener Efeu, gelb-schwarze Absperrbänder rankten sich um die Stangen. Die Überreste der ausgebrannten Läden hatte man planiert, nur die Tür zur Straße mit der Treppe zu Madame Roses Haus war stehen geblieben. Sie wirkte seltsam fehl am Platz, wie eine Hinzufügung zum Gebäude, jetzt, da die Häuser links und rechts verschwunden waren.

Ein Monat war vergangen, seit sie mit ihren Katzen das Haus verlassen hatte, und McLean hatte seitdem von seinem Hausgast nichts mehr gesehen und gehört. Er besaß noch immer ihren Brief mit dem seltsam kryptischen Schluss, und er konnte gar nicht aufhören, sich über die unwahrscheinlichen Zufälle zu wundern, die zur Entdeckung von Jim Whitelys Leiche und zur Festnahme des Mannes geführt hatten, der behauptete, Norman Bale zu sein. Wenn man nicht gegen die McClymonts ermittelt hätte, würde man sich immer noch damit abmühen, irgendwelche Fortschritte im Fall Ben Stevenson zu erzielen und tief im unglücklichen Leben von Maureen Shenks zu graben. Es waren alles tragische Todesfälle, aber ihrer war am tragischsten. Einfach nur deshalb ermordet, weil sie im Weg stand. Entsorgt wie Müll.

Er – Norman, oder nicht Norman, war jetzt beim Psychologen. Glücklich und zufrieden, mit allen reden zu können, wie es schien. Ein paar der ranghohen Detectives machten sich Sorgen, er würde im Prozess auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren, aber McLean sah das gelassener. Es genügte, dass man ihn gefasst hatte. Im Grunde bestand kein Zweifel daran, dass der Mann geisteskrank war und es vielleicht das Beste für ihn war, wenn er den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbrachte.

McLean schüttelte den Kopf bei dem Gedanken und drückte die Klinke herunter. Die Tür war abgeschlossen, auf einem Schild im Fenster stand: Während der Bauarbeiten geschlossen. Stammkunden bitte vorher anrufen. Er zückte sein Handy, um sich die Nummer zu notieren, doch aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, die seine Aufmerksamkeit erregte. Zunächst konnte er nicht erkennen, worum es sich handelte, aber da entdeckte er eine einzelne Katze in einem der Fenster im ersten Stock. Sie schaute ihn an, zwinkerte träge, sprang dann von ihrem Platz und verschwand im dunklen Zimmer dahinter. McLean wartete eine Weile, um zu sehen, ob sie zurückkam.

»So ein Quatsch, diese Wahrsagerei. Verschwenden Sie ja nicht Ihr Geld dafür, mein Junge.«

Er drehte sich um und erblickte eine kleine alte Frau, die einen schottengemusterten Einkaufswagen hinter sich herzog. Sie nickte ihm im Vorübergehen zu, und noch ehe er etwas sagen konnte, war sie verschwunden. Er hielt noch immer sein Handy in der Hand, bereit, sich die Nummer zu notieren. Aber das musste er gar nicht. Und es war auch nichts gewonnen, wenn er die Fragen stellte, die er eigentlich gar nicht stellen wollte. Er schaltete das Handy aus, steckte es wieder ein und machte sich auf den langen Weg zurück zum Revier.