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Wäre ich ein gütiger Mensch, würde ich ihm raten, sein Haus besser zu sichern. Ich bin es aber nicht, zumindest nicht auf diese Weise. Also tue ich es nicht.

Es dauert dreißig Sekunden, um durch die Tür ins Haus zu gelangen, und dabei muss ich nicht einmal alle Klingeln drücken, bis mich jemand ins Haus lässt, ohne zu fragen, wer ich bin. Das Schloss ist alt, der elektromechanische Öffnungsmechanismus so abgenutzt, dass er nach ein paar gut platzierten Stößen aufspringt. Drinnen ist vom Stadtlärm nichts mehr zu hören, ich stehe da, umgeben von einem Geruch fremder Körper um mich herum, von Abfalleimern, die zu lange nicht geleert wurden, von Katzenpisse. Oben kann ich nur wissen, dass ich die richtige Wohnung gefunden habe, weil ich dort einen abgerissenen Streifen Papier mit einem Namen darauf finde, mit Kuli geschrieben und mit Klebeband unter einem Klingelknopf befestigt, der mehrmals übermalt wurde. Hier sind die Sicherheitsvorkehrungen auch nicht besser, es ist bloß ein Yale-Schloss, das sich mithilfe einer Supermarkt-Bonuskarte knacken lässt; und schon bin ich drin.

Ich weiß, dass diese Sozialwohnungen klein sind; damit ich mir den Grundriss ansehen konnte, habe ich mich als Kaufinteressent für die Wohnung ausgegeben, die im Nachbarhaus verkauft wurde. Trotzdem ist das Gefühl, sich in einer Höhle zu befinden, geradezu überwältigend. Nur ein schmales Oberlicht – fast blind aufgrund des Jahre alten Stadtdrecks – spendet ein wenig Licht, das von hoch oben in den winzigen Flur fällt und mich beruhigt. Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um meine Gedanken zu sammeln, und horche, ob sich jemand in der Wohnung aufhält, obwohl ich weiß, dass das nicht der Fall ist. Er hat keine Familie, kein Leben außerhalb seiner Arbeit. Das hier ist seine Höhle, doch sie ist nichts weiter als ein Ort, um zu schlafen, hin und wieder zu essen. Und um seiner Obsession Nahrung zu geben.

Die Küche ist kaum mehr als ein Küchenschrank; der Herd, die Spüle, der Kühlschrank und die Schränke sind erfreulich einfallsreich hineingezwängt. Neben der Spüle stehen ein leerer Teller und ein Becher, nicht abgewaschen. Dem Geruch von saurer Milch nach zu urteilen sind seit seinem letzten Frühstück ein paar Tage vergangen. Der Ein-Personen-Kaffeebereiter ist der einzige Hinweis auf eine gewisse Lebensart. Ich gehe weiter.

Das Duschbad – keine Badewanne – ist zumindest sauber, allerdings haben sich an der Glaskabine Kalkablagerungen und in den Fugen zwischen den gesprungenen weißen Kacheln schwarze Schimmelspuren gebildet. Das Medizinschränkchen über dem Waschbecken birgt keine Überraschungen. Er kann Arzt sein, verschreibt sich aber nicht selber Pillen. Nicht so verzweifelt. Noch nicht. Der Stapel Lesestoff neben der Toilette interessiert mich am meisten. Irgendwelche medizinischen Texte, Ausdrucke aus der Bibliothek des Lehrkrankenhauses, zwischen Ausgaben des Scientific American, des New Scientist und ein paar unbekannteren medizinischen Fachzeitschriften geschoben. Alles ziemlich zerfleddert, die Seiten mit Zahnpasta und Speichel befleckt, weil er sie beim Zähneputzen gelesen hat. Die Zeitschriftenartikel behandeln neue Methoden in der Stammzellentherapie, nicht zugelassene medikamentöse Therapien, alternative Arzneien von einer Sorte, die von Homöopathie weit entfernt sind. Langsam formt sich ein Bild des Mannes in mir.

Das Schlafzimmer ist sauber, was mich verwundert. Ich hatte noch mehr wissenschaftliche Artikel erwartet, Kleidungsstücke, übers Bett geworfen, Anzeichen für den Hunger, der an ihm nagt, der seine Seele so fein geschliffen hat. Stattdessen finde ich sie im Wohnzimmer mit Blick zur Straße, und da wird die Tiefe seiner Obsession offenbar.

Hier lebt er, wenn er nicht im Krankenhaus ist. Die anderen Zimmer dienen Funktionen, die mehr oder weniger umgangen werden; wer muss schon im Bett schlafen, wenn eine Couch vorhanden ist? In der ganzen Wohnung hängt kein einziges Bild, wie mir, unter anderem, gleich aufgefallen ist. Die Einrichtung wirkt, als wäre sie vom vorigen Bewohner übernommen worden. Doch an den Wänden im Wohnzimmer hängen Zeitungen, die aus medizinischen Zeitschriften ausgerissen sind, Ausdrucke von E-Mails von Forschern aus der ganzen Welt, Zeitungsausschnitte und andere Informationshäppchen. Anschließend habe ich gesucht, was ich in ihm gesehen habe, als ich ihm in der Krankenhauskantine begegnet bin. Das hier also treibt ihn an, unter Ausschluss aller irdischen Versuchungen, dies beseelt ihn.

Dies wird der Schlüssel sein, der ihn aufschließt.