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Das Haus sieht so aus, wie es immer ausgesehen hat, aber es fühlt sich anders an. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer, Orte, an denen ich früher gespielt habe, Orte, an denen ich mich versteckt und dahinterzukommen versucht habe, was hier nicht stimmt. Und plötzlich begreife ich es: Das Haus ist genau so, wie es immer war. Ich bin es, der sich verändert hat. In den zwölf Wochen in jenem schrecklichen Internat, in denen ich mich bemüht habe herauszufinden, warum die anderen Jungen meinen Akzent so amüsant fanden, in denen ich mich zu integrieren versuchte. Drei Monate, in denen ich mich gefragt habe, wie ich derart in die Irre geführt werden konnte, warum man mich an so einem furchtbaren Ort allein gelassen hatte. Ich war nicht mehr der unbedarfte Sechsjährige, der ganz allein mit dem Zug gen Süden fuhr.

»Möchtest du etwas zu essen, Tony?«

Großmutter war gekommen, um mich am Bahnhof abzuholen, und wir sind zu Jenners zum Tee gegangen. Ich fühlte mich erwachsen, umgeben von alten Damen im Sonntagsstaat, ich im Schulblazer und kurzen Hosen im Dezember. Aber ich erinnere mich auch an den dunklen holzgetäfelten Speisesaal mit den Reihen von Tischen und Bänken. Verkochtes Gemüse und etwas, was einmal Fleisch gewesen sein könnte, in einer pampigen braunen Sauce schwimmend, die nach Salz und wenig sonst schmeckte. Wenn ich eine dauerhafte Erinnerung an diese Schule hatte, über die willkürlichen Prügelstrafen hinaus, den endlosen langweiligen Lateinstunden und dem überwältigenden Gefühl der Verwirrung, dann an den ständig nagenden Hunger. Ich verdrückte zwei Stück Kuchen zum Tee, ein seltener Luxus, doch jetzt, nur wenige Stunden später, habe ich schon wieder einen Mordshunger.

»Ja, bitte, Grandma.« Ich werfe einen letzten Blick ins Wohnzimmer, in dem ich sowieso nie viel Zeit verbracht habe, dann gehe ich hinter ihr in die warme, gemütliche Küche. Die alte Mrs Johnson kocht einen kräftigen Eintopf, mit Klößen und Karotten und Fleisch, der richtig gut schmeckt. Es gibt Kartoffelpüree, in dem keine Stückchen mehr sind, und hellgrüne Erbsen, die ich da hineindrücke, um sie zu zermusen. Und was das Beste ist: Es gibt eine Sauce, die so köstlich riecht, dass ich mich endlich wie zu Hause fühle.

»Zum Nachtisch ist noch Schokoladeneis im Kühlschrank.« Großmutter schenkt mir ein Glas Orange-Squash aus dem Krug in der Mitte des Tischs ein und schiebt es mir hin. Manchmal isst sie mit mir, aber nicht heute Abend. Mich stört das nicht, denn ich bin so fixiert auf das Essen, dass ich nicht einmal Konversation machen kann. Ich weiß, ich muss alles aufessen, wenn ich die Eiscreme bekommen möchte, und es ist lang, lang her, seit ich so was gegessen habe.

Erst als ich den letzten Rest des Kartoffelpürees auf dem Teller verteilt, den letzten Rest der Sauce damit aufgesogen habe, fällt mir auf, dass Großmutter die ganze Zeit dagesessen und mir zugesehen hat. Sie hat kein Wort gesagt, mich nur beim Essen beobachtet.

»Was ist denn?«, frage ich und halte inne vor dem letzten Bissen.

»Du hast dich verändert, Tony. Du bist in die Höhe geschossen.« Großmutter lächelt mich an, aber irgendetwas stimmt nicht. Ich erinnere mich nur allzu gut an dieses Lächeln. Es ist das gleiche Lächeln, das sie hatte, als sie mir gesagt hat, dass Mama und Papa doch nicht nach Hause kommen. Obwohl sie es versprochen hatten.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, frage ich, und sie lässt die Schultern hängen.

»Ach, Tony. Du musst schon mit so vielem fertigwerden. Da scheint es kaum fair, noch mehr hinzuzufügen.« Sie schweigt eine Weile, ich auch.

»Es geht um deinen kleinen Freund oben an der Straße. Norman.«

An den Rest erinnere ich mich kaum, während Großmutter mir etwas schildert, das nicht passiert sein kann. Norman war krank geworden, fing an zu bluten, und es hat nicht mehr aufgehört. Die Ärzte taten alles, was sie konnten, aber er litt unter einer Krankheit. Etwas, das fremdartig klingt und scheußlich, aber alles, woran ich denken kann, ist der Anblick seiner verletzten Hand, aus der dunkelrotes Blut herausströmt, das sich mit der staubigen Erde unter der Zeder vermischt. War dies das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe? Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass er tot ist. Wie Mama und Papa. Für immer weg. Und er ist verblutet, durch eine Wunde, die einfach nicht wieder heilen wollte. Eine Schnittwunde, die allein meine Schuld war.