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Hier war keiner drin. Alles war abgeschlossen.«
Sie hatten die Leihbücherei um die Ecke vom Häuschen mit dem Besucherzentrum in Beschlag genommen, das sich vor dem Höhleneingang befand. In Kürze würde alles zum Revier verfrachtet werden, wo DC MacBride und Grumpy Bob bereits einen Einsatzraum herrichteten. Die wenigen Augenzeugen wollte McLean möglichst schnell befragen.
»Abgeschlossen? Was soll das heißen?« Er saß in einem kleinen Bereich zwischen Bücherregalen. Auf der anderen Seite des wackligen Tischs hatte die Touristenführerin des Besucherzentrums Platz genommen. Sie war nervös und blass, pulte an den Fingernägeln und schob sich hin und wieder die Brille die Nase hoch.
»Wissen Sie irgendetwas über die Höhle?«, fragte sie. McLean schüttelte den Kopf.
»Nun, sie ist alt, mindestens ein paar Jahrhunderte alt, wahrscheinlich noch viel älter. Es gibt Gänge, die vom Hauptkomplex in alle Richtungen abzweigen, aber die sind alle eingestürzt oder voller Geröll. Wir würden die liebend gern alle untersuchen, nur, na ja, für so etwas gibt es kaum Geld. Und da wir abseits vom Touristenrummel liegen, nehmen wir nicht so viel ein, wie wir uns wünschen. Außerdem gibt es da noch das Problem, dass sich einige Gänge direkt unter der Straßenkreuzung befinden. Die Ingenieure werden langsam nervös.«
»Aber Sie haben die Höhle trotzdem geöffnet. Diejenige, in der wir den Leichnam gefunden haben.«
»Eine Zeit lang ist eine Gruppe vom Fachbereich Archäologie der Universität hierhergekommen. Die haben die Höhle für Untersuchungen genutzt, solche Sachen. Haben ein bisschen Geld zusammenbekommen und wollten einen Plan der versperrten Tunnel anfertigen. Vor ein paar Monaten haben sie diesen Höhlenraum geöffnet und die Metalltür eingesetzt, damit er so lange vor der Öffentlichkeit geschützt ist, bis wir herausgefunden haben, ob er sicher begehbar ist.«
»Es konnte also niemand in den Raum gelangen?«
»Nur wenn er den Schlüssel dafür besaß. Zudem benötigt man weitere Schlüssel, um überhaupt in das Höhlensystem hineinzugelangen.«
»Und wer hat diese Schlüssel?«
Wieder schob die Fremdenführerin ihre Brille die Nase hinauf. »Ich besitze einen Bund mit Schlüsseln zum Besucherzentrum und zu den Höhlen. Mein Sohn besitzt auch einen, außerdem habe ich noch einen Ersatzbund zu Hause. Ich weiß nicht, wer aus dem Archäologieteam den Schlüssel besaß, aber ich hatte ihn nie. Sie konnten nur bis zu der Tür gelangen, wenn ich oder mein Sohn sie vorher in die Höhlen hineingelassen hatten.«
McLean blickte zu der Stelle, an der die Archäologiestudenten saßen. Sie sahen nicht aus, als würden sie die Uni besuchen. Als er in ihrem Alter war, hatte er allerdings auch nicht so alt gewirkt, dass man ihn für einen Studenten halten konnte.
»Als Nächstes spreche ich mit denen«, meinte er. »Aber erst einmal möchte ich einen zeitlichen Ablauf in die Sache hineinbringen. Wann hatten Sie zum letzten Mal geöffnet?«
»Das Besucherzentrum? Jetzt ist Hauptsaison. Im Sommer haben wir täglich geöffnet.«
»Und was ist mit der Höhle?«
»Nein, die ist abgeschlossen, und das Archäologieteam ist seit ein paar Monaten nicht mehr hiergewesen. Ich glaube, seit Juni ist da niemand mehr drin gewesen. Na ja, abgesehen von …« Die Fremdenführerin wurde ganz blass.
»Hätte jemand eine Führung mitmachen, sich verstecken und drinbleiben können, nachdem Sie abends abgeschlossen hatten?« Ein etwas weit hergeholter Versuch, aber er musste das fragen.
»Ich glaube, nein. Wir zählen die Besucher ab, die Zahl beim Reingehen und beim Rauskommen muss identisch sein. Außerdem mache ich als Letztes immer einen Rundgang durch die Höhle, bevor wir abschließen und nach Hause gehen. Da unten kann man sich nirgendwo verstecken, wirklich nicht.«
»Außer in dieser verschlossenen Kaverne. Wenn man einen Schlüssel dafür hätte.«
»Ja, vermutlich. Hat er lange dort gelegen? Wissen Sie das?«
McLean stutzte. Das war schließlich die Kernfrage der Ermittlungen. Die Leichenstarre hatte eingesetzt und sich wieder gelöst, und die Kernkörpertemperatur war die gleiche wie in der Höhle, was bedeutete, dass der Tod nicht in den vergangenen Stunden eingetreten war; aber darüber hinaus hatte Angus nur ganz vage Vermutungen angestellt. Angesichts der Temperaturverhältnisse in der Höhle konnte der arme Kerl wochenlang darin gelegen haben.
»Das finden wir schnell heraus. Bis dahin, fürchte ich, müssen wir die Höhle eine Weile schließen. Zumindest so lange, bis die Kriminaltechniker den Tatort vollständig untersucht haben.«
»Das habe ich mir gleich gedacht, als ich hörte, was sie gefunden haben, nachdem sie die Tür geöffnet hatten.« Das Gesicht der Fremdenführerin sprach Bände. Die Höhle stellte eine eher unbedeutende Touristenattraktion dar, momentan war Hauptsaison. Die Einkommenseinbußen würden sie schwer treffen.
»Ich will versuchen, die Kriminaltechniker dazu zu bringen, so rasch wie möglich wieder zu verschwinden«, sagte McLean, auch wenn er wusste, dass er das nicht tun würde. »Nur eine letzte Frage noch: Sie waren doch heute Vormittag als Erste hier – bevor die Archäologen aufgetaucht sind?«
Das beantwortete sie mit einfachem Nicken.
»Ist Ihnen da auf dem Boden Blut aufgefallen? Irgendein Hinweis darauf, dass sich jemand dort aufgehalten hatte, nachdem Sie am Vorabend gegangen waren?«
»Blut?« Wieder wurde die Fremdenführerin blass. »Nein. An Blut erinnere ich mich nicht, nur dass der bedauernswerte junge Mann durch den Gang nach draußen gelaufen ist. Ihm war speiübel, wissen Sie.«
Es dauerte nicht lange, bis McLean dahintergekommen war, wer aus dem Archäologieteam sich übergeben hatte. Er hieß Eric; vorn auf seinem T-Shirt prangte immer noch ein Fleck Erbrochenes. Man hätte ihn wirklich nach Hause schicken sollen, damit er sich sauber machen konnte. Sein blasses Gesicht glänzte vor Schweiß, sodass er kaum gesünder aussah als die Leiche, die jetzt sorgfältig irgendwo unter ihnen aus der Höhle hervorgeholt wurde.
»Sie waren als Erster in der Höhle, richtig?«
Der Student schluckte, sein Adamsapfel ruckte, wie irgendeine außerirdische Lebensform, die durch den Hals zu entkommen versuchte. Hatte jemand daran gedacht, ihm einen Becher Tee anzubieten? McLean schaute sich in der Leihbücherei nach einem Constable um, den er losschicken konnte, um etwas dergleichen zu finden, sah aber niemanden in der Nähe.
»Es war dunkel darin. Hat schlecht gerochen.«
McLean widmete sich wieder dem jungen Mann. »Abgestanden? So, als wäre die Höhle lange Zeit nicht betreten worden?«
»Nein. Wie Müllbeutel. Verrottet. Auch noch nach etwas anderem.«
»Und es gab kein Licht in der Höhle?«
»Nein. Wir haben sie erst vor Kurzem geöffnet. Wir hatten keine Zeit, sie richtig zu erkunden. Wir haben ein paar provisorische Strahler mit reingenommen, die wir aber im Lauf des Sommers wieder rausgeholt haben. Ich hab das Verlängerungskabel ausgerollt, damit wir sie wieder aufstellen konnten.«
»Wann haben Sie die Leiche gesehen?«
»Die Leiche. Ach ja.« Für einen Moment verschwamm der Blick des jungen Mannes, und das Alien versuchte wieder, aus seinem Hals zu entkommen. McLean befürchtete schon, der Student würde sich gleich noch einmal übergeben, und ging auf Abstand. Was aber nicht erforderlich war.
»Zunächst habe ich nicht begriffen, was es war. Ich meine, da sollte schließlich niemand drin sein. Und es war ja auch keiner drin gewesen, als wir die Höhle verließen. Wenn es eine noch unerforschte Höhle gewesen wäre, hätte ich womöglich mit einem Skelett gerechnet. Man munkelt, der alte Paterson sei irgendwo darin begraben worden.«
»Paterson?« McLean schrieb sich den Namen in sein Notizheft.
»Ja, ganz richtig. Sie sind wohl noch nie in der Höhle gewesen.« Eric schien ein wenig von seiner Fassung wiederzugewinnen, sobald er sich auf etwas konzentrieren konnte. »Der Überlieferung zufolge wurde die Höhle im frühen 18. Jahrhundert von einem Schmied namens George Paterson gebaut. Er soll darin gewohnt, sie eine Weile als illegale Kneipe genutzt und behauptet haben, dass sie ganz allein sein Werk sei. Aber die Höhle ist viel älter. Paterson hat sie wahrscheinlich gefunden, ausgeräumt und genutzt. Ausgeschlossen, dass er sie tatsächlich ausgehoben hat.«
»Wer hat sie also gebaut?«
»Na ja, das ist das große Rätsel. Keiner kennt die Lösung. Es kursieren alle möglichen irren Verschwörungstheorien. Deswegen haben wir ja diesen Tunnel gegraben und versucht, ein bisschen wissenschaftliche Objektivität in die Sache reinzubringen.«
»Also, der Leichnam.« McLean brachte die Befragung zurück aufs Thema.
»Ja. Der hat komisch ausgesehen. Außerdem war das Licht nicht gut. Ich hab ihn für eine Felsformation oder so was gehalten. Aber egal: Ali ist hinter mir mit der großen Lampe den Tunnel raufgekommen, also musste ich da ganz reingehen.«
McLean überlegte, ob das wohl eine zulässige Vorgehensweise war: Höhlen zu erkunden, die nur ein, zwei Meter unter Häusern und einer viel befahrenen Straße verliefen, behielt das aber für sich.
»Er hat die Lampe eingestöpselt und damit zuerst die Decke angestrahlt, so wie ich das auch gemacht hatte, dann die Leiche. Inzwischen stand ich etwas näher dran, und als das Licht darauf fiel, konnte ich … o Gott … der Hals.«
McLean sprang zwar auf, aber nicht schnell genug. Offenbar hatte jemand dem Archäologieteam Tee ausgeschenkt und auch Kekse verteilt. Beim zweiten Mal sahen sie gar nicht mehr so appetitlich aus. Und noch weniger, als sie ihm auf die Schuhe spritzten.