35
Nach seinem Spaziergang zurück zum Revier war McLean erwartungsgemäß verschwitzt und genervt wegen der Touristenmassen auf der Royal Mile. Außerdem hatte er etwas Zeit gehabt, um über Dalglieshs Recherchen nachzudenken. Es ärgerte ihn, dass sie ein detailliertes Foto der Wand in Stevensons Wohnung besaß, aber weil er es selbst noch nicht genau unter die Lupe genommen hatte, war wohl nichts dagegen einzuwenden. Die Implikationen waren klar. Stevenson hatte eine Verschwörung aufdecken wollen und schließlich etwas ganz anderes gefunden. Jemand ganz anderes.
Er musste sich die Wand noch einmal ansehen, nicht nur ein hochauflösendes Foto davon. Er hätte sie gleich genauer in Augenschein nehmen müssen, da sie jetzt offenbar für die Lösung des Falls entscheidend war. McLean verstand nicht ganz, warum er das verabsäumt hatte, aber Dalgliesh war bei ihm gewesen und Ritchie in schlechter Verfassung, außerdem hatten sie die tote Krankenschwester, Maureen Shenks, gefunden. Wo, zum Teufel, war die Zeit geblieben? Und wann war er so unkonzentriert geworden? Vielleicht um die Zeit, als er nur ein paar Stunden Schlaf bekommen oder auch als Duguid den Fall übernommen hatte. Er schüttelte den Kopf, um diesen wenig hilfreichen Gedanken loszuwerden, und begab sich zum Einsatzraum. DC MacBride war die erste nützliche Person, die er vorfand.
»Haben Sie zu tun, Constable?«
Eine wirklich dumme Frage. MacBride war umgeben von etlichen Uniformierten sowie mehreren Verwaltungsmitarbeitern und bei Weitem nicht der ranghöchste Beamte im Raum, aber er hatte eindeutig das Sagen.
»Ich muss nur mal eben die Sachen herumreichen, Sir. Ich bin gleich bei Ihnen.«
McLean überließ ihn seiner Aufgabe und ging hinüber zur Wand mit dem Stadtplan, dem Whiteboard und den vergrößerten Fotos. Einige zeigten Stevenson selbst, seine Leiche, wie sie in der feuchten Höhle auf dem Boden lag. Ein Foto des Zimmers in seiner Wohnung, das nicht viel schärfer war als das von Dalgliesh. McLean betrachtete es und versuchte dabei seine Gedanken zu sortieren.
Einmal abgesehen davon, dass Jo Dalgliesh sehr viel mehr über die Details des Falls wusste, als sie hätte wissen dürfen, hatte sie ein gutes Argument vorgebracht. Wer immer Stevenson ermordete, hatte es so aussehen lassen, als steckten Freimaurer dahinter – das war an den mit seinem Blut auf die Höhlenwand gemalten Symbolen deutlich abzulesen. Aber der Hinweis auf das Freimaurertum stellte eigentlich kein Geheimwissen dar, die Aufdeckung nicht wirklich etwas, für das man umgebracht wurde, selbst wenn man ein auf Geheimhaltung eingeschworener Freimaurer war. Und laut Duguid war Ben Stevenson kein Mitglied der Freimaurer, war auch nie Mitglied in irgendeiner Loge gewesen. Je länger McLean darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass die Freimaurerperspektive die Ermittler in die Irre führte, sie dazu verleitete, in die falsche Richtung zu blicken. Aber es gab keine andere Richtung, in die sie blicken konnten. Sie hatten keine kriminaltechnischen Erkenntnisse, keine Bilder von Überwachungskameras, überhaupt keine Spuren.
»Ich musste nur mal eben diese Arbeitsaufträge loswerden. Entschuldigen Sie, Sir.« DC MacBride tauchte neben McLean auf. Er wirkte irgendwie müde, kaputt, was so gar nicht zu seiner üblichen unerschütterlich fröhlichen Art passte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« Wieder eine törichte Frage, aber jemand musste sie stellen.
MacBride seufzte. »Könnte besser sein, Sir. Ich dachte, Dagwood hätte die Aufsicht über diese Ermittlung, aber ich hab ihn noch kein einziges Mal hier unten bei uns gesehen. Sie sind der leitende Ermittler, aber abgesehen von den Besprechungen am Morgen sind Sie meistens mit DS Ritchie unterwegs. Grumpy Bob scheint völlig verschollen zu sein, und alle anderen Kripobeamten scharwenzeln um Brooks herum in der Hoffnung, dass er nett zu ihnen ist, wenn er den Leitungsposten bekommt.«
»Soll heißen, Sie müssen die Arbeit im Einsatzraum ganz allein koordinieren.«
»Das würde mir nichts ausmachen, Sir, nur …«
»… sind Sie ein Detective Constable, und diese Arbeit übersteigt Ihre Gehaltsklasse?«
»Das und die Witze.« Der Detective Constable fasste sich an die Stirn und strich sich unbewusst über die Haare, damit sie seine Narbe verdeckten.
»Nennt man Sie immer noch Potter?«
»Das wär gar nicht schlimm, ehrlich nicht, Sir. Wenn es dabei bleiben würde. Aber verdammt, manchmal sind die Leute echt gemein.«
McLean wusste nur allzu gut, was der Constable meinte. »Und Polizisten sind noch schlimmer, richtig?«
»Manchmal frage ich mich, warum ich mich überhaupt darum kümmere. Ich könnte auch in einem ganz anderen Beruf arbeiten.«
McLean gab MacBride einen, wie er hoffte, aufmunternden Klaps auf die Schulter. »Na, so schlimm ist es nicht, Stuart. Glauben Sie mir, die lassen Sie bestimmt bald wieder in Ruhe und ziehen weiter.«
»Meinen Sie wirklich?« MacBrides Miene ließ darauf schließen, dass er nicht ganz überzeugt war.
»Ja, ganz bestimmt. Und nun schnappen Sie sich mal Ihren Mantel und kommen mit. Wir müssen einen Tatort untersuchen.«
Kaum hatte er den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür gesteckt, ahnte er bereits, dass irgendetwas nicht stimmte, und hielt inne, bevor er die Tür aufschob.
»Wer hat den Tatort gesichert?«
»Äh … Ich weiß nicht so recht, Sir. Sie und DS Ritchie betraten als Letzte das Haus, glaube ich.«
»Die Kriminaltechniker waren nicht da?«
»Ich seh mal nach.« MacBride tippte auf seinem Tablet und hielt ihn nahe ans Fenster, vermutlich, um ein stärkeres Signal zu bekommen. McLean fragte sich, woher der Detective Constable das Tablet hatte. Die Uniformierten nutzten zwar schon seit einiger Zeit Notebooks, aber ein Tablet – das war noch moderner.
»Der Tatort wurde vor vier Tagen fotografiert und auf Fingerabdrücke hin untersucht. Sonst nichts. Dr. Cairns hat die Untersuchungen abgeschlossen. Jemand muss uns den Schlüssel zurückgegeben haben.« Mit einem Nicken deutete MacBride auf McLeans Hand, die immer noch auf dem Türgriff lag.
»Mehr nicht?«
»Nein, mehr steht hier nicht. Soll ich bei der Kriminaltechnik anrufen und nachfragen?«
»Nein. Ich nehme an, die haben getan, worum wir sie gebeten haben. Trotzdem, irgendetwas fühlt sich hier nicht richtig an. Haben Sie Handschuhe dabei?« McLean zog seine aus der Tasche und zwängte seine Hände ins eng sitzende Latex; MacBride tat das Gleiche.
»Los geht’s. Bleiben Sie in meiner Nähe, und fassen Sie nur etwas an, wenn unbedingt nötig.« Das musste er eigentlich nicht sagen, und MacBrides Gesichtsausdruck verriet ihm auch, dass er einen Nerv getroffen hatte. Na ja, es gab Zeiten, da musste man es nehmen, wie es kam.
Als er den Schlüssel drehte, klemmte er ein wenig im Schloss – so, als wollte es niemanden hineinlassen. Hinter der Tür sah der Flur so aus wie in seiner Erinnerung: hell und geräumig. McLean stellte sich die Wohnung als gemütliches Zuhause einer Familie vor, der Lärm der Kinder, die in einem der anderen Zimmer spielten, der Geruch von Essen aus der Küche, um den erschöpften Journalisten bei seiner Rückkehr von der Arbeit willkommen zu heißen. Das war das Bild, das Stevensons Exfrau gemalt hatte, doch inzwischen wusste er, dass es sich um eine Lüge handelte. Und der Geruch, der ihm in die Nase stieg, war alles andere als einladend. Etwas Vergammeltes, daneben ein Geruch, den er nicht gleich zuordnen konnte, der jedoch verschwommene Bilder an seine Kindheit und aufgeschürfte Knie heraufbeschwor. Jod. Oder etwas Ähnliches.
»Bäh. Was ist das?«, fragte DC MacBride.
»Ich bin nicht sicher, ob ich das wirklich wissen möchte.« McLean atmete durch den Mund, in der Hoffnung, dass das helfen würde. Nicht wirklich, aber wegen des leichten Luftzugs vom Treppenabsatz draußen war der Geruch gerade noch erträglich. McLean hatte nicht lange in der Wohnung bleiben, sich lediglich Stevensons Wand genauer ansehen wollen, doch jetzt würde er alles durchsuchen und außerdem ein unangenehmes Gespräch mit Jemima Cairns führen müssen, falls sie als Letzte in der Wohnung gewesen war.
Der Gestank schien aus dem Flur zu kommen. Im Wohnzimmer war er nicht so ausgeprägt, und in Stevensons Arbeitszimmer konnte man gar nichts riechen. Das Zimmer sah genauso aus, wie McLean es nach dem ersten Besuch in Erinnerung hatte. Im Hauptgeschoss der Wohnung hatte sich nichts verändert. Auch gab es keinerlei Hinweise, woher der Gestank kam.
»Das ist … keine Ahnung. Fast wie verfaulte Äpfel oder so was.« DC MacBride ging noch immer langsam im Flur auf und ab, als McLean aus der Küche trat. Der Constable schnüffelte in die Luft, machte ein paar Schritte, schnüffelte noch mal, wobei er den Kopf nach vorn beugte und versuchte, die Quelle ausfindig zu machen. Wie er das schaffte, ohne sich zu übergeben, war McLean ein Rätsel.
»Gut, geben Sie mir Bescheid, wenn Sie den Ursprung des Gestanks gefunden haben. Ich gehe jetzt nach oben.«
Das Schlafzimmer sah nicht anders aus als vor ein paar Tagen, als er, Ritchie und Dalgliesh hier gewesen waren. Der Geruch wurde schwächer, je weiter er sich von der Treppe entfernte, fast so, als wäre er an der Wohnungstür verankert. Doch alles andere verschwand aus McLeans Gedanken, als er in den kleinen Ankleideraum hinter dem Schlafzimmer trat.
Die Wand war leer. Keine Karten, keine Ausdrucke, keine Fotos. Einen Augenblick lang fragte sich McLean, ob die Kriminaltechniker wohl alles abgenommen hatten, um es in ihrem Labor neu aufzuhängen. Darum hätte er sie bitten sollen, aber das Durcheinander der verschiedenfarbigen Bindfäden, die auf der Frisierkommode verstreut lagen, strafte diese Idee Lügen, ebenso die Heftzwecken, die auf dem Teppich herumlagen, wie Fallen für einen unaufmerksamen nackten Fuß. Ausgeschlossen, dass ein Tatortermittler die Fotos abnahm und die Bindfäden liegen ließ. Entweder mussten noch alle Beweismittel hier sein oder keine, was bedeutete, dass jemand im Zimmer gewesen sein musste, nachdem Dr. Cairns die Wohnung versiegelt hatte.
»Ich glaube, ich hab’s gefunden, Sir«, rief DC MacBride von unten im Flur. McLean warf einen letzten Blick in das »entweihte« Zimmer, dann ging er nach unten. Dort hockte der Constable neben der Eingangstür; unter dem zurückgeschlagenen Perserteppich waren polierte Dielenbretter zum Vorschein gekommen. Als er noch näher trat, sah McLean, dass MacBride eines der Bretter hochgehoben und so einen verborgenen Raum darunter freigelegt hatte. Der Geruch war derart überwältigend, dass sich McLean mit dem Jackettrevers Mund und Nase zuhalten musste. MacBride hatte das Gleiche getan. Mit leicht tränenden Augen blickte er auf.
»Als ich herumgegangen bin, habe ich gespürt, dass der Boden schwingt.« Jackett und Taschentuch dämpften seine Stimme. »Ich hab das hier gefunden. Ich bin nicht ganz sicher, was es ist.«
McLean kam noch näher und spähte in den Raum zwischen dem Boden und der Decke der darunter liegenden Wohnung. Der Zwischenraum war mit Alufolie ausgeschlagen – mehr davon war an die Unterseite des Dielenbretts getackert –, und es lag etwas darin, was er nicht gleich erkannte. Rot und glänzend, mit schwarzen und grünen Flecken. Kleine Tierchen schlängelten darin herum. Und während er genauer hinschaute, dämmerte es ihm.
»Decken Sie das zu, Constable.« McLean trat einen Schritt zurück, dann noch einen, zückte sein Handy und ging weg. Die Nummer war im Kurzwahl-Verzeichnis, rasch wurde am anderen Ende abgenommen. Dennoch wusste er, dass ihm die Zeit, die bis zum Eintreffen des Teams vergehen würde, viel zu lang vorkommen würde.