17

Aus den wenigen Informationen, die McLean über den Toten besaß, hatte er geschlossen, dass Ben Stevensons Wohnung unordentlich sein würde, vollgestellt mit Krimskrams, vermutlich leicht nach Essen zum Mitnehmen und nicht abgewaschenen Tellern riechend. Doch die Wohnung war der krasse Gegensatz zum etwas ungepflegten beruflichen Ich des Reporters.

Sie standen im Türrahmen und blickten in einen großen, breiten Flur. Mehrere Türen zweigten in verschiedene, noch unbekannte Zimmer ab, und eine eiserne Wendeltreppe führte hinauf ins Dachgeschoss. Alles war sauber, die Einrichtung, die er sehen konnte, bestand aus einer Mischung antiker Möbel, dazu ein modernes Sideboard.

»Am besten, Sie ziehen die hier an, bevor sie irgendetwas anfassen.« McLean zückte ein Paar Latexhandschuhe und reichte sie Dalgliesh. »Und nichts berühren, ohne mich vorher zu fragen, ja?«

Sie nickte und streifte die Handschuhe so geschickt über, dass man annehmen konnte, sie würde das nicht zum ersten Mal tun. McLean zwängte die Hände ebenfalls in ein Paar und ließ die Handschuhe um die Finger schnappen. Hinter ihnen war Ritchie mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung an der Wohnungstür angelangt.

»Möchten Sie hinten in der Wohnung anfangen, Sergeant?«, fragte McLean.

»Ja, aber ich muss erst etwas verschnaufen.« Ritchie lehnte sich ans Treppengeländer. Ihr normalerweise blasses Gesicht war weiß wie die Wand, nur die Sommersprossen brachten ein wenig Farbe hinein.

»Lassen Sie sich Zeit. Sie hätten heute ja sowieso noch nicht arbeiten sollen.«

Dalgliesh hob eine Braue, sagte aber nichts, sondern folgte McLean wie ein gehorsamer Spaniel in den Flur. McLean ging nicht weit, drehte sich nur auf der Stelle langsam im Kreis, um ein Gefühl für die Wohnung und den Mann zu bekommen, der hier gewohnt hatte. Selbst von dieser Warte aus war zu erkennen, dass es sich um eine große, helle Wohnung handelte. Nur der Himmel wusste, wie viel sie wert war, zumal es noch ein Geschoss gab.

»Suchen wir nach etwas Besonderem?«, fragte Dalgliesh.

»Nach allem, was darauf hinweist, woran er gearbeitet hat. Hatte er ein Arbeitszimmer?«

»Hier entlang.« Dalgliesh ging ihm voran über den breiten Flur und durch das Wohnzimmer. Vor einer Wand mit Regalen voller Langspielplatten sah McLean einen vertraut wirkenden Linn-Plattenspieler. Er glaubte, eine recht große Sammlung zusammengekauft zu haben, bevor der Brand in seiner Wohnung die Platten in Pfützen schwarzer Flüssigkeit verwandelt hatte, doch gegen Stevensons Plattensammlung wirkte seine ausgesprochen amateurhaft.

»Wenn ich gewusst hätte, dass man so viel mit Journalismus verdienen kann, wäre ich vielleicht auch in die Branche eingestiegen.«

Dalgliesh lachte auf. »Bens Eltern waren vermögend. Er war gut, aber nicht so gut.«

Hinter einer Tür am Ende des Wohnzimmers befand sich ein Raum, der früher vermutlich das Hausmädchenzimmer gewesen war. Er war relativ klein, aber geräumig genug für einen großen Schreibtisch mit einem riesigen Computerbildschirm. Bücherregale und Aktenschränke an drei Wänden. Die vierte, mit Blick auf die Straße, wurde größtenteils von einem Schiebefenster eingenommen.

»Sieh mal an, das Allerheiligste.« Dalgliesh hob beide Arme und wandte sich um. »Hier hat Ben also gearbeitet, wenn er nicht in der Redaktion war.«

McLean ging um den Schreibtisch herum und ließ den Blick über die Bücher im Regal schweifen. Stevensons Lesegeschmack war eklektisch, die Archivierung planlos. Autobiografien berühmter Fußballspieler, daneben Krimis; politische Tagebücher neben naturwissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern. Auch ziemlich viele Verschwörungstheoriebücher, wenngleich zu einer Vielzahl von Themen.

»Sie haben doch mit Stevenson bei einigen großen Storys zusammengearbeitet. Wenn ich mich recht entsinne, auch vor ein paar Monaten über das Referendum.«

»O ja, Ben und ich sind durch Dick und Dünn gegangen, Inspector.« Dalgliesh versuchte erst gar nicht, den sarkastischen Ton aus ihrer Stimme zu verbannen.

»Aber Sie haben mit ihm zusammengearbeitet. Waren Sie hier in der Wohnung? Haben Sie über die Geschichten gesprochen, an denen sie gearbeitet haben?«

»Ich habe genau dort gesessen.« Dalgliesh wies auf einen Sessel in der Ecke am Fenster. »Ich mit meinem Laptop, Ben an seinem Mac. Wenn wir die richtige Geschichte am Wickel hatten, konnten wir ein richtig gutes Team sein.«

»Die richtige Geschichte?«

»Ja, na ja. Manchmal ist es gut zu kooperieren. Dann wieder will man nicht, dass ein Kollege in dem herumschnüffelt, woran man gerade schreibt.«

»Und Stevensons letzte Geschichte, das war eine von diesen Fällen?«

»Ich habe ihn gefragt, ja, klar. Bei Ben wusste man immer, wenn er an etwas dran war. Aber in dieser Geschichte ging es um Persönliches. Er wollte mich nicht einweihen.«

McLean zog den Stuhl zu sich heran und setzte sich an Stevensons Schreibtisch. Er war geradezu unheimlich aufgeräumt, nur der Computer, die Tastatur. Touchpad statt einer Mouse. Auf der einen Seite lagen ein paar Kladden mit festem Einband, aber als er die erste öffnete, war sie leer. Der Schreibtisch selbst hatte eine dicke Rauchglasplatte auf zwei Chromstützen. Keine Schubladen, in denen man etwas verstecken konnte. Rechts von ihm stand ein niedriger Rollschrank in Reichweite. Von der Art, in denen Künstler im Atelier Farben und Pinsel verstauten, mit ein paar kleinen Schubladen und einem großen Klappfach obendrauf. Als er die Schubfächer öffnete, kamen eine Ansammlung von Bleistiften und Stiften zum Vorschein, einige weitere Notizbücher, in denen nicht viel stand, sowie eine Tafel teurer Zartbitterschokolade.

McLean schwang im Stuhl herum und streckte die Hand nach dem nächstgelegenen Regal aus, das sich so eben in Reichweite für einen Mann mit langen Armen befand. Bei den Büchern hier handelte es sich um die gleiche kunterbunte Mischung aus Romanen, Biografien und historischen Texten, doch es schien eine Ordnung darin zu geben. Zwei dicke Hardcoverbände hatten die Freimaurer zum Thema. Daneben behaupteten zwei Taschenbücher, die Geheimnisse der Tempelritter zu enthüllen. Ein drittes Buch trug den schlichten Titel Head; als er es aus dem Regal zog und einen Blick auf die Titelseite warf, sah er den Untertitel: »Baphomet, die Bruderschaft und der Tempel«. McLean runzelte die Stirn: »Bruderschaft«. Ein zu großer Zufall, als dass er darüber hinweggehen konnte. Zwar hatte er den Namen des Autors noch nie gehört, aber als er den Buchdeckel aufschlug, stellte er fest, dass das Buch signiert war. Die Widmung lautete: »Für Ben, einen echten Gläubigen«.

»Wissen Sie irgendetwas hierüber?« Er hielt Dalgliesh das Buch hin, damit sie sich die Widmung ansehen konnte, überlegte, ob sie wohl wusste, was mit Stevensons Blut an die Höhlenwand geschrieben war. Sie beugte sich über den Schreibtisch, nahm das Buch und betrachtete mit kurzsichtigem Blick die Widmung.

»Ach ja. Ich erinnere mich.« Sie lachte und reichte ihm dann das Buch zurück. »Dougie Ballantyne. Dieser Irre. Hat diese Theorie über die Tempelritter und die Freimaurer und Rosslyn Chapel und das ganze Zeug. Dass die da einen abgetrennten Schädel anbeten oder so was. Sollte angeblich die ultimative Geheimgesellschaft werden. Völlig durchgedrehtes Zeug.«

»Stevenson hat es anscheinend ziemlich ernst genommen.« McLean klappte das Buch erneut auf und schaute sich die Widmung genauer an. Blätterte kurz durch die Seiten, stellte fest, dass der Text hier und da markiert war. Verdammt, das hieß ja, dass er dieses beknackte Buch lesen musste.

»Das könnte es also gewesen sein. Das, woran er gearbeitet hat«, sagte Dalgliesh. »Ist schließlich das Regal für das aktuelle Projekt.«

McLean lehnte sich im Stuhl zurück, wog das Buch ein paarmal in der Hand. Kein dickes Buch, aber vermutlich würde ihm der Inhalt mehr Kopfschmerzen bereiten als der Whisky, der nötig wäre, um die Lektüre zu ertragen. »Sie wollen also mithelfen, Bens Mörder zu finden, richtig?«, fragte er Dalgliesh.

»Ja, unbedingt.« Sie nickte.

»Ich bringe den Computer zu unseren IT-Experten. Es hat keinen Sinn, wenn ich hier daran herumfummle. Aber wenn Sie wirklich helfen wollen, dann können Sie das tun – nämlich indem Sie versuchen, alles hierüber zu erfahren.« McLean hielt das Buch hoch. »Finden Sie heraus, was er damit anfangen wollte, vielleicht erhalten wir dann ja einen Hinweis darauf, warum jemand wollte, dass er nicht weiter recherchierte.«

Sie gingen gerade zur Tür, McLean mit dem Buch in einer Hand, als DS Ritchies Stimme die Stille durchbrach.

»Sir? Das müssen Sie sich einmal anschauen.«

McLean drehte sich um – und hätte Dalgliesh fast über den Haufen gerannt. Er blickte sich um, konnte aber nicht erkennen, woher Ritchie ihn gerufen hatte.

»Hier oben.« Ritchie erschien oben an der Wendeltreppe und beugte den Kopf, damit sie die beiden sehen konnte, ohne allzu viele Stufen nach unten kommen zu müssen. McLean betrat die Treppe und merkte dann, dass Dalgliesh ihm folgte.

»Sie bleiben hier, okay?«

Sie sah ihn böse an, blieb aber stehen, während er die Treppe hinaufstieg. Am Ende bot sich ihm der Blick auf ein überraschend geräumiges Dachgeschoss, das in ein hübsches Schlafzimmer umgewandelt worden war.

»Ich dachte eigentlich, diese Wohnungen hätten Gemeinschaftsdachböden«, sagte Ritchie, während sie McLean Platz machte.

»Normalerweise schon. Hängt davon ab, wie die Eigentumsanteile vergeben wurden, als man das Haus gebaut hatte. Dalgliesh sagte, dass Stevensons Eltern vermögend sind. Wahrscheinlich gehört die Wohnung der Familie.«

»Na ja, jedenfalls ist sie vor Kurzem renoviert worden. Hier, sehen Sie mal.«

Ritchie ging durch das Zimmer, dicht gefolgt von McLean. Es war schwierig einzuschätzen, wie groß die Wohnung unten war, wo sich die Zwischenwände befanden. Das Schlafzimmer unterm Dach war jedoch riesig, die Decke etwa fünf Meter hoch. Zur Straße hin gab es zwei kleine Fenster, die aussahen wie die originalen Gaubenfenster, aber auf der Rückseite gab es sehr viel größere Dachfenster, die auf einen schmalen Balkon hinausgingen und eine atemberaubende Aussicht auf die Meadows in der Altstadt boten.

»Hier durch, Sir.« Ritchie stand neben etwas, was ein Einbaukleiderschrank sein konnte, der das Bett umgab und die hintere Wand des Gebäudes bildete. Ritchie riss sich von dem Ausblick los.

»Worum geht’s denn?«

Anstatt zu antworten, zog Ritchie die Tür auf. Anstelle einer Reihe von Anzügen über Schubläden mit Socken und Hemden kam dort ein schmaler Durchlass zum Vorschein, der in ein kleines, verstecktes Ankleidezimmer führte.

»Hier hat er vermutlich in letzter Zeit den Großteil seiner Arbeit erledigt.« Mit einem Nicken deutete Ritchie auf einen antiken Frisiertisch vor einer Wand. Er war von den üblichen Utensilien befreit worden, stattdessen stapelten sich jetzt Bücher, Kladden und Karten darauf. Die Notizbücher waren von der gleichen Art wie diejenigen, die sie in Stevensons Jacke gefunden hatten, nur trocken. Der Spiegel, der eigentlich am Tisch hätte befestigt sein müssen, war sorgsam entfernt und in einer Ecke abgestellt worden. An die Wand dahinter waren Zeitungsausschnitte, herausgerissene Seiten aus Büchern, Fotos und alle möglichen anderen Papiere gepinnt. Hinzu kamen verschiedenfarbige Bindfäden, die kreuz und quer darüber verliefen, ungefähr so, als hätte sich eine drogenumnebelte Riesenspinne in dem Zimmer einquartiert.

»Ja, manchmal war Ben echt ein bisschen besessen.«

McLean und Ritchie wandten sich um – und erblickten Jo Dalgliesh, die vor dem Ankleidezimmer stand und hineinschaute.

»Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, Sie sollen unten bleiben.«

»Und ich den ganzen Spaß verpasse? Auf gar keinen Fall.« Die Reporterin ging mitten durch den Raum, spähte auf die Wand und die scheinbar willkürliche Ansammlung von Fotos. Sie zeigte auf ein Foto in der Mitte: ein älterer Mann mit dichtem Vollbart. »Sehen Sie den? Ist das nicht der Kerl, der das Buch geschrieben hat?«

McLean hielt das Buch immer noch in der Hand. Er warf einen kurzen Blick auf den Einband, dann drehte er es um, um sich die Rückseite anzuschauen. Richtig, da war ein kleines Foto des Autors abgedruckt. Es war zwar möglich, dass es zwei Menschen mit einem derart auffälligen Rauschebart gab. Zur entsprechenden Zeit des Jahres tauchten Hunderte von ihnen in Kaufhäusern und Einkaufszentren im ganzen Land auf. Allerdings war auf Ben Stevensons Wand nur ein Doppelgänger des Weihnachtsmanns zu erkennen.

»Douglas Ballantyne III.«, las er den Namen, dann folgte er einem langen roten Wollfaden bis zu einer aus einer Zeitschrift herausgerissenen Seite: ein Interview mit ebendiesem Mann. »Ich finde, wir sollten uns mal mit ihm unterhalten.« Er tippte mit dem Finger auf den dünnen Karton des Einbands. »Das heißt, wenn er noch lebt.«