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Er saß auf dem Rand eines steinernen Sarkophags, unsicher, ob es überhaupt die richtige Bezeichnung war, während ihm ein Sanitäter die Hand verband. McLean war sich nicht sicher, ob er unter Schock stand oder einfach nur unter einer leichten Gehirnerschütterung litt. Wie auch immer: Alles um ihn herum kam ihm irgendwie surreal vor. Inzwischen war es völlig dunkel, die Straßenlaternen brannten und wurden von ihren jeweiligen Insektenstämmen umschwirrt. Die Bäume raschelten im lauen Wind, der frische Gerüche heranwehte.

»Hier, trinken Sie das.« Ein lächelndes, sorgenvolles Gesicht tauchte vor ihm auf, und ein Becher dampfenden Tees wurde ihm angeboten. McLean nahm ihn und nickte dankbar, bis ihm bewusst wurde, dass Madame Currie ihm den Becher gereicht hatte.

»Wie geht es DS … Kirsty?«, fragte er.

»Sie wird wieder ganz gesund – sobald die Schnittwunden verheilt sind. Die sind nur oberflächlich. Aber Sie werden ein neues Jackett brauchen.« Die Pastorin ließ sich neben ihm auf den Steinboden sinken. Sie roch nach alten Klassenräumen. Nicht jenen, in denen er von unfähigen Lehrern vor den Mitschülern gedemütigt worden war, sondern den warmen, staubigen, sonnendurchfluteten Klassenzimmern, in denen er gedöst und den herrlichen Geschichten aus der römischen Geschichte, von keltischen Kriegern und abenteuerlustigen alten Griechen gelauscht hatte. Den Klassenzimmern, in denen er Gedichte entdeckt und erkannt hatte, dass Gott eine Lüge war. Der Gedanke ließ ihn ironisch lächeln.

»Norman. Wie schrecklich. Und Daniel.« Mary Curries Stimme klang, als stünde sie selbst unter Schock. Was vermutlich stimmte, und doch hatte sie Tee gekocht für die immer größer werdende Anzahl von Polizisten, die sich in ihrer Kirche versammelten: dem Tatort.

»Er ist nicht Norman. Norman ist im Alter von sechs Jahren gestorben.«

Mary machte ein verwirrtes Gesicht. »Aber er wohnt in dem Haus. Seine Eltern …«

McLean schüttelte den Kopf – zuckte zusammen vor Schmerzen. »Ich weiß nicht. Ich hab mir den Schädel auf einer der Bänke da drin angeschlagen. Morgen früh dürfte das Ganze mehr Sinn ergeben.«

Eine Weile schwieg die Pastorin. Dann deutete sie mit einem Nicken zur Kirchentür. Sie stand weit offen, davor hielt ein junger uniformierter Constable Wache.

»Ist er … Daniel?«

Wie zur Antwort auf seine Frage hörte er von der Kirchentür her Geräusche, und mehrere Sanitäter und zwei uniformierte Polizisten eilten, eine Trage rollend, heraus. Einer der Sanitäter hielt einen Kochsalzbeutel hoch. Nicht etwas, das man für einen Toten brauchte.

»Er hat noch gelebt, als wir ihn gefunden haben. Armer Kerl. Es wird eine Weile dauern, bis er wieder gesund ist. Seelisch und körperlich.«

»Ich gehe besser mit ihm. Ins Krankenhaus.« Mary Currie stand hastig auf, taumelte leicht und legte McLean die Hand auf die Schulter, um nicht zu stürzen. Die Berührung wirkte beruhigend und vertrieb den letzten Nebel aus McLeans Hirn.

»Ich sorge dafür, dass ein Constable vor der Tür zum Pfarrhaus postiert wird.« Er schaute sich um in dem Gewimmel. »Nicht dass ich glaube, dass jemand versuchen wird einzubrechen, bei den vielen Leuten, die hier sind.«

»Danke, Tony. Sie sind ein guter Mensch.« Sie lächelte müde und trottete hinter den Sanitätern davon.

»Das behaupten alle«, sagte er, aber keiner hörte ihn.

Detective Superintendent Duguid traf ein, als sich der Trubel längst gelegt hatte. Sein dünnes Haar war völlig zerzaust, und er sah aus wie jemand am Rand des Nervenzusammenbruchs. McLean entdeckte Duguid, als der aus seinem Wagen stieg, um mit DCI Brooks zu sprechen, was bedeutete, dass McLean sich hinter einem kunstvoll gemeißelten Grabstein verziehen konnte, bevor man ihn entdeckte.

»Wohin des Weges, Inspector?«

Jo Dalgliesh lehnte an einem Grabstein, eine nicht angezündete Zigarette im Mundwinkel. Als Reporterin hätte sie eigentlich hinter das Tatort-Absperrband verbannt werden müssen, das die Kirche und den Friedhof sicherte. DC MacBride musste irgendetwas gesagt haben, denn alle Polizisten, die in der Gegend herumliefen, nahmen bewusst keine Notiz von ihr.

»Ich halte mich fern vom Chef, ehrlich gesagt. Ich bezweifle, dass ich momentan mit einer Nachbesprechung klarkommen würde.«

»Das Gefühl kenne ich. Wird interessant sein, die Geschichte hier in der Redaktion zu erzählen.«

»Damit müssten Sie doch ein, zwei Preise einheimsen, denke ich mir.«

»Aye. Möglich. Aber Ben ist während seiner Recherchen gestorben. Das fühlt sich ein bisschen an … ich weiß nicht.«

»Kann es sein, dass sich hier ein Gewissen entwickelt?«

»Halten Sie den Mund, ja?«

McLean riskierte einen Blick hinter dem Grabstein hervor, sah Duguid und Brooks, die sich unterhielten. DI Spence hielt sich wie ein bedürftiger Spaniel in ihrer Nähe. Offenbar suchten sie nicht nach ihm – mehr Ermutigung brauchte es nicht.

»Kommen Sie mit«, sagte er zu Dalgliesh und ging mit langen Schritten Richtung Kirche. Dalgliesh brauchte einen Augenblick, um ihn einzuholen, war überrascht. »Wohin gehen wir?«

»Wir suchen MacBride, oder Ritchie, falls sie nicht mit ihrem Freund ins Krankenhaus gefahren ist.«

Dalgliesh hob eine Braue. »Hab’s doch gleich gewusst, dass da mehr dahintersteckt als nur Pflichteifer. Warum benötigen Sie meine Hilfe? Ich dachte, Sie können meinen Anblick nicht ertragen.«

»Mein Haus liegt schräg gegenüber.« McLean nickte in die Richtung und zuckte zusammen, als die Beule am Hinterkopf schmerzhaft pochte. »Ich bin völlig durcheinander, aber ich könnte einen ordentlichen Schluck gebrauchen. Und Ihnen schulde ich wohl auch einen. Wahrscheinlich haben Sie mir das Leben gerettet, auch wenn ich Sie gebeten hatte, mit der Pastorin im Haus zu bleiben.«

»Wahrscheinlich?« Dalgliesh nahm die Zigarette aus dem Mund, blieb einen Augenblick stehen, als wäre sie beleidigt, schüttelte dann den Kopf. »Aye, das trifft es ganz gut. Wahrscheinlich.«