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Haben Sie manchmal auch den Eindruck, dass man Sie in allzu viele Richtungen zerrt, Constable?«
DC MacBride warf ihm von der Seite einen Blick zu, während er den Wagen durch den endlosen Rushhour-Verkehr steuerte. »Möchten Sie wirklich meine Antwort darauf hören, Sir?«
»Dumme Frage, tut mir leid«, entgegnete McLean. »Sie arbeiten wahrscheinlich doppelt so viel wie ich, und manchmal überlege ich mir, warum ich überhaupt ein Haus habe, in das ich nach der Arbeit zurückkehren kann.«
MacBride schwieg, aber es war keine peinliche Stille. McLean ließ ihn sich darauf konzentrieren, dass sie ans Ziel gelangten, ein ziemlich neues Gewerbegebiet am hintersten Ende von Sighthill. McClymont Developments’ Büro und Lager waren in einem Ziegel-und-Stahl-Fertiglagerhaus untergebracht, das gleiche wie elf andere, die sich um einen großen Asphaltparkplatz gruppierten. Die meisten Gebäude trugen große, glänzende Schilder mit Namen von Firmen, die McLean noch nie gehört hatte. Ein paar »Zu vermieten«-Tafeln von Immobilienmaklern, die wenigen nach vorn weisenden Fenster mit Brettern vernagelt, schwere eiserne Rolltore, verschlossen mit rostigen Vorhängeschlössern.
»Wissen wir, nach welchem wir suchen?« McLean spähte durch die Windschutzscheibe, während MacBride langsam auf dem Parkplatz herumfuhr. »Ah, da wären wir.«
Es war nicht ganz das heruntergekommenste Gebäude, aber fast. Auf einem kleinen, in die Mauer geschraubten Schild neben dem Eingang stand, beschriftet mit abblätternder Farbe, McClymont and Son. MacBride parkte direkt vor dem großen Lagerhaustor, das wie die meisten der anderen Gebäude hier geschlossen und mit Vorhängeschlössern gesichert war.
»Ob jemand da ist?«, fragte er und beugte sich vor, die Hände aufs Lenkrad gelegt, während er auf das Gebäude starrte.
»Sollte so sein. Ritchie hat bei denen angerufen. Die Sekretärin müsste da sein und uns reinlassen.« McLean stieß die Tür auf, hievte sich vom Sitz und trat in die schwüle Hitze des Nachmittags.
»Was hoffen wir zu finden?« MacBride knallte seine Tür hinter sich zu und betätigte die Fernbedienung, um den Wagen abzuschließen.
»Ich weiß es nicht genau. Ich hoffe, wir erkennen es, wenn wir’s sehen.«
Wenn das Äußere des Gebäudes unscheinbar war, dann ließ sich vom Inneren – mindestens – das Gleiche sagen. Ms Grainger nahm sie in Empfang. McLean erinnerte sich, dass sie ihn einmal auf der Straße angesprochen und gebeten hatte, doch seine Wohnung zu verkaufen, ihn unfreundlich genannt hatte. Ihre grau melierten Haare waren zu einem kegelförmigen Dutt hochgesteckt, und der verkniffene Mund wirkte, als wären ihr die Zitronen zum Lutschen ausgegangen. Sie hatte die Ausstrahlung einer alten Jungfer und einen Morningside-Akzent, weshalb McLean annahm, dass ein Leben hinter ihr lag, das nicht ganz ihre Erwartungen erfüllt hatte.
»Das ist eine furchtbare Sache, eine ganz furchtbare.« Ms Grainger schüttelte den Kopf, als könnte das die Tatsache ungeschehen machen, dass ihre Arbeitgeber umgekommen waren.
»Es ist eine tückische Straße. Es tut mir sehr leid.« McLean ließ sich über einen schmalen Gang führen und in etwas, das das Nervenzentrum von McClymont Developments gewesen sein musste: ein offenes Büro mit zwei großen, einander gegenüberstehenden Schreibtischen an einem Ende und ein kleiner Empfangstresen in der Nähe zur Tür. In der gegenüberliegenden Ecke standen zwei Zeichentische, auf denen Baupläne lagen, deren Ecken sich leicht wellten. Alles roch nach Staub und Schimmel, die Hitze begann erst, den Raum aufzuheizen. Ms Grainger ging quer durch den Raum zu einem kleinen Küchenbereich, füllte einen Wasserkessel und schaltete ihn ein.
»Wissen Sie, warum die McClymonts nach Norden gefahren sind?«, fragte McLean, während sie nach Bechern und Teebeuteln suchte.
»Der alte Mr McClymont ging gern auf Raufußhuhnjagd. Er besaß irgendwo oben an der Westküste eine Jagd. Nahe Ullapool, glaube ich.«
»Und Joe, ist der auch gern auf die Jagd gegangen?«
»Der junge Mr McClymont hat sich nichts aus der Jagd gemacht, nein. Er mochte Tiefseeangeln. Ist oft mit dem Boot von Achiltibuie aus rausgefahren, um Makrelen zu fangen, draußen vor den Summer Isles.«
»Die Geschäfte müssen schlecht gelaufen sein, wenn sie so viel Zeit hatten.«
»Im Sommer herrscht bei uns nie so viel Betrieb, dass man sich nicht zwei Wochen freinehmen kann. Der alte Mr McClymont hat niemals den Beginn der Jagdsaison verpasst, ganz egal, was gerade passierte. Außerdem nehmen die meisten Arbeiter um diese Zeit ihren Urlaub.«
»Dann laufen die Geschäfte also gut?« McLean war zu den Zeichentischen geschlendert und betrachtete die Pläne. Einige davon, erkannte er, waren Entwürfe für die Neuerschließung seines alten Wohnblocks. Die schienen trotz seiner Einwände nicht geändert worden zu sein.
Ms Grainger antwortete nicht umgehend, sondern beschäftigte sich damit, den Tee zu kochen.
»Es wäre besser fürs Geschäft, wenn die Arbeiten am Bau in Newington weitergehen würden.« Sie reichte McLean einen gesprungenen, fleckigen Becher. Die Milch war geronnen. Ms Grainger hatte an keinem Punkt des Gesprächs gefragt, ob er Tee wolle oder was er darin nahm.
»Vielleicht hätten Ihre Chefs mich konsultieren sollen, bevor sie mit den Arbeiten anfangen.« McLean stellte den Becher auf die nächstgelegene verfügbare Oberfläche – wodurch er einen braunen Ring auf einem vergilbten Bauplan hinterließ. »Sagen Sie, Ms Grainger, an wie vielen anderen Projekten arbeiten … entschuldigen Sie, haben die McClymonts gearbeitet?«
Ms Grainger sah ihn kühl an. »Es gab da einige Vorhaben im frühen Stadium, aber der Bau in der East Preston Street war das größte Projekt, das sie je in Angriff genommen haben. Sie haben da wirklich alles reingesteckt.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich einmal hier im Gebäude umschaue?«
»Da werden Sie nichts finden. Zwei Transporter, ein paar Maschinen, Teile für den Gerüstbau. Die meisten Baufahrzeuge werden heutzutage gemietet.« Ms Grainger setzte sich an ihren Schreibtisch – und da begriff McLean: Sie hatte einen kleinen, altmodischen Computermonitor, Tastatur und Mouse, aber auf den anderen Schreibtischen stand gar nichts. Heutzutage benutzten Baufirmen CAD-Software. Sogar die ungepflegten Büroräume von Wendle Stevens wurden von großen Flachbildschirmen dominiert. Bei McClymont Developments dagegen sah es aus, als wäre man in den Siebzigern stehen geblieben.
»Es dauert nicht lange. Dann lassen wir Sie wieder in Ruhe.«
Woraufhin Ms Grainger eine noch mürrischere Miene zog, aber am Schreibtisch verharrte. »Wie Sie wollen. Ich muss die Konten hier für die Banken und Anwälte in Ordnung bringen. Sobald Sie von der Polizei die Leichen freigeben, können wir endlich damit anfangen, die Firma abzuwickeln.« Sie seufzte laut und vernehmlich; die Fassade der Wohlanständigkeit bröckelte.
»Wie lange arbeiten Sie schon für Mr McClymont?«, erkundigte sich McLean. Ms Grainger sah ihn überrascht an.
»Seit ich von der Schule abgegangen bin. Mit sechzehn. Ich habe für den alten Mr McClymont Botengänge erledigt. Das war vielleicht einer. Er hat mir Buchhaltung beigebracht. Ich konnte immer gut mit Zahlen umgehen, hab nur schlecht in den Matheprüfungen abgeschnitten.«
»Es gibt keine Mrs McClymont, nehme ich an. Joes Mutter?«
»Sie ist gestorben, vor etwa zwanzig Jahren. Hat dem alten Mr McClymont damals das Herz gebrochen. Sie hatte Krebs. Hatte wahrscheinlich etwas mit ihrer Vierzig-am-Tag-Gewohnheit zu tun. Catriona, ach. Ich hab seit Jahren nicht mehr an sie gedacht.«
»Irgendwelche anderen Familienangehörigen?«
Ms Grainger zögerte mit der Antwort. McLean nahm an, dass sie nicht wirklich Zeit gehabt hatte, mit der Nachricht fertigzuwerden. Plötzliche Todesfälle neigten dazu, so etwas mit Menschen anzustellen. Sie versuchten, das Ganze mit dem Verstand zu erklären, und sagten sich, dass sich zwar alles geändert habe, ihr Angehöriger, Kollege, Elternteil, wer immer, tot sei und nie mehr wiederkommen werde. Und dennoch machten sie weiter wie bisher, ohne dass sie merkten, dass dort ein Loch klaffte, das nicht gefüllt werden konnte. Oder erst, wenn sie hineinstolperten.
»Der junge Mr McClymont hatte eine Freundin, aber ich hätte sie nicht als Angehörige bezeichnet. Die beiden haben sich andauernd getrennt, sind wieder zusammengekommen, haben sich wieder getrennt. Keine Ahnung, ob sie überhaupt weiß, dass er tot ist.«
»Haben Sie ihre Kontaktdaten? Ich schicke eine Beamtin zu ihr, die es ihr schonend beibringt.«
Etwas wie Erleichterung breitete sich auf Ms Graingers Gesicht aus bei dem Gedanken, dass sie diese Aufgabe nicht selbst übernehmen musste. Sie zog eine Schublade auf, holte ein schwarzes Lederadressbuch hervor und blätterte darin, bis sie das Gesuchte gefunden hatte. Sie schrieb etwas in makelloser Schrift auf einen gelben Notizzettel und reichte ihn McLean. Er las den Namen und hob eine Augenbraue.
»Vielen Dank, Ms Grainger. Sie haben uns sehr geholfen.«
»Suchen wir nach etwas Besonderem, Sir, oder schnüffeln wir nur ein bisschen herum?«
Sie hatten Ms Grainger im Büro zurückgelassen, damit sie ihrer Arbeit nachgehen konnte. McLean fragte sich nicht zum ersten Mal, warum die OK oder die NCA, wie man sich dort heute gern nannte, den Laden nicht geschlossen hatte, um eine gründliche kriminaltechnische Untersuchung durchzuführen. Aber andererseits deutete nichts darauf hin, dass der Autounfall, bei dem die McClymonts ums Leben gekommen waren, etwas anderes gewesen war als ein tragisches Unglück; und trotz aller Verdachtsmomente hatten sie bislang auch nichts gefunden, das die Bauunternehmer unmittelbar mit dem Drogenhandel in Verbindung brachte. Sogar der Wagen war sauber gewesen, jedenfalls laut vorläufigem Untersuchungsergebnis. Der BMW stand immer noch auf dem Hof der Hauptverwaltung und wurde gründlich unter die Lupe genommen, aber wenn er zum Transport von irgendwelchen Drogen eingesetzt worden wäre, hätte man das festgestellt.
»Es ist nichts daran verkehrt herumzuschnüffeln, Constable.« McLean fand eine Leiste mit Lichtschaltern neben der Tür zum Hauptlagerhaus und knipste sie an, dass die Neonröhren knallten. Das Licht durchflutete den großen Raum und verstärkte das fahle Licht, das durch die verdreckten Dachfenster drang.
Wie Ms Grainger gesagt hatte, standen hier, mitten im Lagerhaus, zwei Kastenwagen, Seite an Seite. Weiß und knapp zehn Jahre alt, wenn man den amtlichen Kennzeichen glauben konnte, entsprachen sie genau dem, was Baufirmen im ganzen Land benutzten. Auf dem einen Transporter stand schablonenbeschriftet in verblasster roter Farbe McClymont and Son, doch den anderen zierten lediglich Rostflecken. Die Vorderwand des Lagerhauses wurde von der Schiebetür eingenommen; vor den anderen drei Wänden standen Industrieregale, außer dort, wo eine Treppe zu einem Raum oberhalb des Büros führte. Auf den höheren Regalen lagen, planlos gestapelt, Pappkartons. McLean wanderte im Raum umher, betrachtete die Haufen mit den Teilen für den Gerüstbau, rostig und ungenutzt, Betonmischer mit Rosträndern, Stapel von Handwerkszeug, so ziemlich alles, was man auf dem Betriebshof einer Baufirma zu finden erwartete. Nur eben auf einem aus dem vorigen Jahrhundert.
»Hier oben ist etwas, das Sie interessieren könnte, Sir.« McLean blickte sich um, dann hoch zu der schmalen Treppe, auf der DC MacBride jetzt stand.
»Was ist es?« Er ging zwischen den beiden Kastenwagen hindurch und stieg die wacklige Treppe hinauf. Der Raum war übersät mit noch mehr Schrott, leeren Kisten, schwarzen Müllsäcken voll mit den schweren Tüchern, wie sie Dekorateure benutzten. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt, seit Jahren unberührt. Eine schmale Laufplanke führte durch den Müll zur Rückseite des Gebäudes, wo ein Oberlicht gesprenkeltes Licht auf etwas sehr viel Neueres warf.
»Mir ist gleich aufgefallen, dass unten im Büro keine Computer stehen. Na ja, abgesehen von der alten Kiste, die die Sekretärin benutzt. Die haben da sogar ein Faxgerät, das wahrscheinlich so alt ist wie ich.« MacBride griff in den nächstgelegenen Stapel und zog einen weißen Karton hervor, schüttelte ihn, um festzustellen, ob er leer war. McLean erkannte die Marke; das gleiche Logo wie auf der Rückseite seines Handys.
»Sind das alles neue Sachen?«, fragte er.
»Sieht so aus, Sir. Wir haben hier mindestens ein Dutzend Tablets und Smartphones, vier Oberklassenlaptops, zwei High-End-Desktops.« MacBride trat zwischen die Stapel mit den Kartons, hob diese auf und schüttelte sie, um zu hören, ob sie leer waren. »Die McClymonts müssen echte Apple-Fans gewesen sein.«
»Trotzdem ist unten im Büro nichts von den Dingen zu sehen. Interessant.«
»Könnte sein, dass sie die Sachen hierhergeliefert haben, um sie über die Firma laufen zu lassen. Um die Mehrwertsteuer zurückerstattet zu bekommen, so was in der Art.«
»Aber ein Dutzend Smartphones? Vollzeit sind nur die beiden McClymonts und Ms Grainger angestellt. Ich habe die beiden kennengelernt, Constable. Die kamen mir nicht vor wie Leute, die exklusive Tophandys an die Mitarbeiter verteilen.«
»Dann müssen wir wohl die Wohnungen dieser Leute durchsuchen.« MacBride beendete seinen Satz mit einem tiefen Seufzer, was McLean daran erinnerte, unter welch großem Druck der Constable stand. Ihn aus dem Revier zu holen und auf diese Fahrt mitzunehmen, das sollte ihm eine Pause von den endlosen Verwaltungsaufgaben, der Koordination der vielen Ermittlungen verschaffen, doch die ganze Arbeit würde nach ihrer Rückkehr natürlich noch immer auf sie warten.
»Das Ganze dürfte ein Rätsel bleiben. Es sei denn, die Jungs von der NCA wollen in der Sache ermitteln. Kommen Sie. Wir haben hier sowieso schon genug Zeit verplempert.«
McLean reichte dem Constable einen Karton, drehte sich zur Treppe um – und blieb abrupt stehen. »Diese Kartons, die haben doch Seriennummern, oder? Wie auch die Computer und die Smartphones und die anderen Dinge, die sich darin befinden?«
»Ja, so funktioniert das normalerweise.«
McLean zückte sein Handy und tippte auf dem Display herum, bis ihm einfiel, wie man die Kamerafunktion bediente.
»Lassen Sie uns das alles hier fotografieren, ja? Ich hab den Verdacht, dass mehr hinter der Sache steckt.«
»Sie wollen, dass ich die Sachen hier durch die Datenbank laufen lasse, nehme ich an, Sir.« MacBride versuchte seine Resignation zu verbergen, was ihm aber misslang.
»Ich glaube, Sie können das besser als ich, Stuart. Es ist aber nicht eilig.« McLean zog den Notizzettel ab, den er auf die Kameralinse seines Handys geklebt hatte, und starrte erneut auf den Namen, den man ihm genannt hatte.
»Außerdem gibt es da jemanden, mit dem ich vorher sprechen sollte.«