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Also, so etwas sieht man auch nicht alle Tage.«

Angus Cadwallader kniete im Flur von Ben Stevensons Wohnung und beugte sich über die Höhlung, die durch die Entfernung des Dielenbretts entstanden war. Die Tatortermittler, die zurückgekehrt waren, hatten Scheinwerfer aufgestellt, die die Höhlung in gleißendes Licht tauchten, sodass kaum ein Zweifel daran bestand, was jemand darin versteckt hatte.

»Das ist ein Herz, oder?« McLean hatte das Pech gehabt, schon einmal eines außerhalb des menschlichen Körpers gesehen zu haben. »Ein menschliches Herz.«

»Das in der Mitte, ja. Ich bin aber nicht sicher, was dieses ganze Grünzeug drumherum ist. Da bin ich überfragt. Irgendeine Art Nest, nehme ich an. Ich glaube auch, dass der übelste Geruch von dort stammt.«

McLean trat zurück auf den Treppenabsatz und holte tief Luft, nachdem er zu lange versucht hatte, überhaupt nicht zu atmen. Selbst nachdem man die Fenster geöffnet hatte, roch es noch stark im Flur. Aber er hatte keine Vorstellung davon, was genau das für ein Geruch war. Jedenfalls kein Leichengeruch – der ihm leider nicht fremd war. Nein, DC MacBride war näher dran gewesen, als er auf verfaulte Äpfel tippte. Der Geruch hatte etwas Süßliches, neben etwas Durchdringenderem, Ätzenderem, wie Essig vielleicht, oder sogar …

»Balsamierflüssigkeit.« Cadwallader schloss sich ihm auf dem Treppenabsatz an und streifte sich die langen Latexhandschuhe ab. »Altmodisches Zeug. Bin ich schon sehr lange nicht mehr begegnet. Wir benutzen es nicht mehr im Leichenschauhaus. Ich glaube, es hat mit dem Grün reagiert, vielleicht auch der Zinnfolie. Zinnfolie wird nicht aus Zinn hergestellt, wie du weißt.«

»Ja, das weiß ich, Angus. Kannst du uns sonst noch etwas über unseren makabren Fund sagen?«

»Ich kann hier nicht viel ausrichten und muss zurück ins Leichenschauhaus, um einige Untersuchungen vorzunehmen. Aber es handelt sich um ein männliches Herz. Eines Erwachsenen.«

Blitzlichtgewitter, während die Tatortfotografen jeden Moment der Untersuchung dokumentierten und zwei Techniker herauszufinden versuchten, wie man das Herz, das Grün und die Zinnfolie am besten in einem Stück herausbekam. Das Ganze rief McLean in Erinnerung, warum er und MacBride überhaupt Stevensons Wohnung aufgesucht hatten.

»Sag mir bitte Bescheid, wenn du etwas herausgefunden hast.« Er gab seinem Freund einen sanften Klaps auf den Arm und ging Richtung Treppe.

»Willst du nicht zusehen, wie man das Herz herausholt?«, fragte Cadwallader.

»Dafür sind meine Untergebenen da.« McLean deutete auf den blassen DC MacBride, der sich immer noch im Flur mit dem üblen Geruch aufhielt. »Ich muss den leitenden Tatortermittler finden.«

Draußen auf der Straße fand er die Frau, nach der er gesucht hatte. Jemima Cairns überwachte die Rückkehr des kriminaltechnischen Teams, ihre normalerweise mürrische Miene wutentbrannt. Das besserte sich auch nicht, als sie ihn kommen sah, stattdessen wurde sie noch wütender – wenn das überhaupt möglich war.

»Konnten Sie nicht die Finger davon lassen?«

»Ich habe es nicht selbst dort hingelegt, wissen Sie.«

»Ja, na ja …« Dr. Cairns murmelte etwas, das er nicht verstand. McLean war sich nur allzu bewusst, dass sie mitunter regelrecht ätzend sein konnte, was die Frage, die er gleich stellen wollte, nicht unbedingt leichter machte. Trotzdem: Spring mit beiden Füßen in die Tiefe, wie seine Großmutter immer gesagt hatte.

»Sie hatten den Tatort doch versiegelt, oder?«

Der Blick hätte jemanden töten können, der nicht darauf vorbereitet war. »Wenn Sie glauben …«

»… dass Sie so etwas übersehen haben? Natürlich nicht. Mag sein, dass ich manchmal nicht der Hellste bin, aber so blöd bin sogar ich nicht.«

Dr. Cairns sah ihn zwar immer noch wütend an, aber McLean las in ihrer Miene auch eine widerwillige Zustimmung.

»Warum also mussten Sie das dann fragen?«

»Irgendwer ist hier eingebrochen, nachdem Sie die Wohnung verlassen hatten, aber Sie waren die letzte Person, die die Wohnung vor dem Einbruch gesehen hat. Das heißt, ich muss mit Ihnen darüber sprechen, wie die Wohnung ausgesehen hat. Beispielsweise die Wand im oberen Schlafzimmer. War die unversehrt, als Sie gingen?«

»Ja, wir haben die gar nicht angerührt. Dabei hätte ich sie gern vorsichtig abgenommen, um herauszufinden, in welcher Reihenfolge das alles angepinnt wurde. An der Art, wie etwas getan wird, lässt sich genauso viel erkennen wie daraus, woraus es besteht.«

»Warum haben Sie die Sachen dann nicht abgenommen?«

Wieder verfinsterte sich Dr. Cairns Miene. »Das ist Ihre Aufgabe: das Puzzle aus den zurückgelassenen Hinweisen zusammenzusetzen. Ich bin Forensikerin, keine Psychiaterin. Außerdem hatten wir weder die Zeit noch das Geld. Ich habe darum gebeten, aber man hat mich abgewiesen.« Dann ging ihr ein Licht auf. »Die Sachen von der Wand sind weg, nicht wahr?«

»So ist es.« McLean kickte mit dem Fuß auf den Boden, es widerstrebte ihm zuzugeben, was passiert war. Plötzlich hörte er die Forensikerin sagen: »Moment mal. Ihre Anfrage wurde abgewiesen? Von wem?«

»Von wem wohl, Inspector?« Dr. Cairns konnte sich die kleine Spitze offenbar nicht verkneifen. Sie zauberte ein kleines Lächeln in ihr Gesicht, was hübscher anzusehen war als ihre finstere Miene. »Die Anfrage befindet sich sicher irgendwo in den Akten. Und die Antwort auch, allerdings glaube ich, dass die von einem Detective Sergeant kam, wenn ich mich recht entsinne. Keine Ahnung, wer die eigentliche Entscheidung getroffen hat. Ich dachte, Sie wären das gewesen, weil Sie der leitende Ermittler in diesem Fall sind. Die kann natürlich auch von Detective Superintendent Duguid gekommen sein. Oder von jemand anders weiter oben.«

McLean bemühte sich, seine Wut zu unterdrücken, und kickte die Schuhspitze fester auf den Bürgersteig, was zu einem leichten Schmerz in der Hüfte führte: Die letzten Nachwirkungen seines Knochenbruchs erinnerten ihn daran, dass er noch nicht wieder ganz so fit war wie zu der Zeit vor dem Sturz vom kippeligen Stuhl auf dem Dachboden. Wäre vielleicht besser gewesen, wenn er sich erhängt hätte. Dann müsste er sich wenigstens nicht mehr über diese unsägliche Inkompetenz ärgern.

»Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hören Sie zum ersten Mal davon.« Inzwischen zog Dr. Cairns keine mürrische Miene mehr, statt Freude über sein Unbehagen spiegelte sich Sorge darin.

»Ganz genau. Wenn Sie mich gefragt hätten, wäre ich ja darauf eingegangen. Diese Wand ist für den Fall entscheidend. Und jetzt hat jemand sämtliche darin enthaltenen Beweismittel vernichtet.«

Dr. Cairns tätschelte ihm freundlich den Arm. Endlich lächelte sie. »Dann ist es doch gut, dass wir jede Menge Fotos gemacht haben, oder?«

Das Büro war eine Oase relativer Kühle nach der stickigen Hitze, in der er von Ben Stevensons Wohnung zurückmarschiert war. McLean hätte sich fahren lassen können – es standen genügend Streifenwagen herum –, aber er brauchte Zeit zum Nachdenken, einen inneren Raum, in dem er von den gegensätzlichen Forderungen nicht mehr hierhin und dorthin gezerrt wurde. Und so hatte er die Tatortermittler, die die Wohnung untersuchen sollten, sowie die DCs MacBride und Gregg, die die anderen Bewohner des Wohnblocks zu befragen hatten, zurückgelassen und war allein zum Revier gegangen.

Was ihm aber nicht gutgetan hatte. Die Schmerzen in der Hüfte machten ihm zu schaffen, und er konnte nicht aufhören, über die Dummheit nachzugrübeln, aufgrund derer an wertvollen Beweismitteln herumgepfuscht worden war. Was die Frage anging, warum das Herz unter den Dielenbrettern lag, stand er vor einem Rätsel. Hatte es sich die ganze Zeit dort befunden? Nicht, wenn man Dr. Cairns glaubte, außerdem war sie keine, von der er erwartet hätte, dass sie so etwas übersah. Was bedeutete, dass jemand in die Wohnung eingedrungen war, die Wand mit den Indizien geplündert und anschließend ein einbalsamiertes menschliches Herz unter die Dielenbretter gelegt hatte.

Wessen Herz war es? Woher bekam man ein menschliches Herz? Warum lag es dort? Immer wieder wirbelten ihm die Fragen im Kopf herum – bis ihm bewusst wurde, dass er bereits auf seinem Bürostuhl saß. An seinen Spaziergang erinnerte er sich kaum.

Er musste Papierkram erledigen. Wann war das jemals anders gewesen? Im Augenblick hatte die Vorstellung, etwas so Langweiliges zu tun, wie Überstundenzettel zu überprüfen, durchaus seinen Reiz. Wenn er sich in etwas völlig Hirnloses vertiefte, könnte sich sein Unbewusstes vielleicht an die Arbeit machen und die ganze komplizierte Angelegenheit auseinanderdividieren. Als er den braunen Aktendeckel aufklappte, sah McLean jedoch, dass es sich hier nicht um den neuesten Dienstplan eines Mitarbeiters handelte, sondern um etwas ganz anderes.

Jemand hatte die Akten verwechselt und ihm den Obduktionsbericht zu der toten Krankenschwester, Maureen Shenks, auf den Tisch gelegt. McLean wollte gerade aufstehen und mit der Akte zum Einsatzraum gehen, wo DI Spence die entsprechenden Ermittlungen leitete. Er hatte keine Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie sie vorankam, und es war immer sinnvoll, darüber auf dem Laufenden zu sein. Und ein Plausch mit den Kollegen konnte auch von Nutzen und erhellend sein. Andererseits war er bei der Obduktion zugegen gewesen. Es hatte Ähnlichkeiten zwischen den Tötungsmethoden gegeben, die sowohl bei der Krankenschwester als auch bei Ben Stevenson angewendet worden waren. Aber wenn er Spence bat, den Bericht einsehen zu dürfen, würde er Ärger mit Brooks kriegen und bestenfalls zu hören bekommen, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern, schlimmstenfalls sich eine Beschwerde seitens Duguid einhandeln, dass er sich nicht auf seine eigenen Fälle konzentrierte. Vielleicht bot ihm das Gespräch ja die Gelegenheit, bei dem Spiel zu gewinnen.

Und außerdem gab’s ja immer noch die ganz natürliche Wissbegierde … McLean rollte das Gummiband, das die Aktenmappe verschlossen hielt, herunter, lehnte sich zurück und fing an zu lesen.