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O Gott. Sie würden nicht glauben, wie viele Leute mich das schon gefragt haben.«
Basil Temperly war das genaue Gegenteil von Jonathan Wendle, obwohl beide denselben Beruf ausübten. Wo Wendle jung und begeisterungsfähig wirkte, ging Temperly gebeugt, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf ihm. Die wenige Haare, die er noch besaß, waren grau und dünn, die Kopfhaut hier und da braun gefleckt. Er sah aus, als hätte er zu viel Zeit unter den Flugrouten von Edinburghs Seemöwen verbracht und vergessen, einen Hut aufzusetzen.
»Ist irgendjemand besonders beharrlich gewesen? Wurden Sie bedroht?«
»Bedroht?« Temperly kratzte sich am Kinn und lehnte sich auf dem wackligen Stuhl auf der anderen Seite des Tischs im Vernehmungsraum zurück. McLean hatte den Mann eigentlich so wie Wendle in dessen Büroräumen befragen wollen, aber Ritchies Anruf hatte ergeben, dass Temperly eine seiner anderen Baustellen ganz in der Nähe des Reviers besuchte. Zehn Minuten Vorbereitungszeit für eine Befragung war vielleicht nicht ideal, aber man konnte nicht alles haben.
»Es kursiert ein Gerücht, dass jemand den ganzen Block aufkaufen wollte, die Hausnummern zehn, zwölf und vierzehn. Alle Häuser abreißen und billigen Wohnraum an ihrer Stelle errichten. Ich stelle mir vor, Sie könnten die Quadratmeterzahl verdoppeln, wenn Sie das täten.«
Auf ihre Frage hin drehte Temperly den Kopf langsam in Richtung DS Ritchie. Nicht dass er sie nicht schon bemerkt hätte; sie hatte ihn schließlich vom Empfangstresen abgeholt. Doch der Abscheu in seiner Miene war nicht zu übersehen. Einen Augenblick lang glaubte McLean, dass sie auf irgendetwas gestoßen, womöglich der Wahrheit nahegekommen war. Vielleicht hatte er ja versucht, den gesamten Block zu übernehmen, und ihn abgefackelt, als man ihm Steine in den Weg legte. Dann aber wurde McLean klar, dass es sich hier wohl eher um Frauenverachtung handelte. Ein Mann wie Temperly mochte sich einverstanden erklären, von einer Frau durchs Haus geführt zu werden, aber dass sie Fragen stellte, das ging dann doch zu weit.
»Haben Sie mit diesem fürchterlichen Mann, diesem Sanderson, gesprochen?«
»Wir haben mit allen gesprochen, die mit den Häusern zu tun haben. Es handelt sich hier um einen schweren Fall von Brandstiftung, Mr Temperly.«
»Na ja, Sanderson ist eine Plage und hat nichts zu tun mit meiner Baustelle, auch nicht mit diesen Upstart-Teenagern auf der anderen Seite. Mit diesem Sexverbrecher in Nummer zwölf haben Sie vermutlich auch schon gesprochen. Der würde nicht verkaufen, selbst wenn alle anderen das täten.« Temperly richtete den Blick wieder auf McLean, bei dem er sich offenbar wohler fühlte. »Und nein, ich habe nicht vor zu verkaufen. In so einer Toplage? Ja, klar, mit dem Weiterverkauf könnte ich ein bisschen Geld verdienen, aber echten Profit erzielt man heute mit Vermietung.«
»Und jetzt? Was wäre, wenn Ihnen jemand eine hohe Summe für das Haus bieten würde?«
»Sie meinen, mich erst weichklopfen und dann ein Angebot machen?« Temperly kniff die Augen zusammen. »Raffiniert.«
»Sehr. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Was haben Sie mit dem Haus vor, nun, da es eine ausgebrannte Hülle ist? Jetzt ist sehr viel mehr Arbeit erforderlich. Könnte doch viel leichter sein zu verkaufen. Das Geld von der Versicherung kassieren und die harte Arbeit jemand anderem überlassen.«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Inspector. Und es ist eine durchaus verführerische Aussicht. Aber nein, ich will jetzt nicht verkaufen. Wer weiß, die Arbeiten könnten sogar problemloser ablaufen ohne die Planungsvorgaben, die alles schwieriger machen.«
»Was natürlich ein gutes Motiv wäre, das Haus abzufackeln. Das und das Geld von der Versicherung.«
»Ach, kommen Sie!« Diesmal drehte sich Temperly blitzartig zu Ritchie um. »Ich bin aus freien Stücken hier. Würde ich das tun, wenn ich mein eigenes Haus angezündet hätte? Bin ich ein Tatverdächtiger? Sollte das nämlich der Fall sein, rufe ich meinen Anwalt an.« Er griff in die Tasche und zückte sein Handy, nur für den Fall, dass sie nicht wussten, auf welchem Wege er das tun würde.
»Sie sind nicht tatverdächtig, Mr Temperly, nein«, ging McLean dazwischen, um die heikle Situation zu entschärfen. Auf der anderen Tischseite steckte Temperly sein Handy langsam wieder ein. »Sie helfen uns bei unseren Nachforschungen. Nichts mehr. Wenn ich glaubte, Sie hätten etwas mit den Bränden zu tun, stünden Sie unter Anklage, und Sie hätten, wie schon von Ihnen darauf hingewiesen, das gute Recht, Ihren Anwalt bei allen Vernehmungen dabeizuhaben. Ich gehe aber davon aus, dass weder Ihre Firma noch Wendle Stevens es auf diesen Brand abgesehen hatte. Das Feuer wurde von einer dritten Partei gelegt, und ich versuche, die Gründe dafür zu eruieren. Dann kann ich hoffentlich auch herausfinden, wer’s gewesen ist.«
»McLean. In mein Büro. Sofort.«
McLean hatte eben den Vernehmungsraum verlassen und noch verfolgt, wie DS Ritchie Basil Temperly aus dem Revier hinausbegleitete, als auf dem Flur eine nur allzu vertraute Stimme erschallte. Als er sich umdrehte, ahnte er bereits, wer ihn angeschrien hatte.
»Ist es dringend, Sir? Ich wollte mir eigentlich was zum Essen aus der Kantine holen, bevor es da nichts mehr gibt.«
»Ja, es ist verdammt dringend. Und jetzt setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung, und kommen Sie in mein Büro. Da ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte und den Sie wirklich nicht warten lassen sollten.«
McLean bemühte sich, seinen Seufzer zu unterdrücken, schloss die Tür zum Einsatzraum und ging auf Duguid zu.
»Sie wollen mit mir sprechen, Sir? Warum?«
»Nicht hier«, sagte Duguid schroff, während sie die Treppe hinaufstiegen. Soweit McLean erkennen konnte, war keine Menschenseele in Hörweite, aber er hatte es längst aufgegeben, Duguids Stimmungen verstehen zu wollen. Er würde noch früh genug dahinterkommen, worum es ging.
Drei Stockwerke höher kamen sie zur Tür von Duguids Büro. Sie war geschlossen, der Schreibtisch davor unbesetzt. Duguid legte die Hand auf die Türklinke und erklärte: »Ich hoffe, dass es sich hier um ein Riesenmissverständnis handelt, McLean. Andernfalls werde ich Ihnen keine Rückendeckung geben.«
Amüsiert wollte McLean fragen, wovon er rede, aber da öffnete Duguid bereits wortlos die Tür und führte ihn ins Zimmer.
Zwei Männer warteten auf ihn, der eine, in Uniform, saß in Duguids teurem Lederchefsessel, der andere, im dunklen Anzug, stand mit dem Rücken zur Tür und blickte aus dem Fenster. McLean war dem Deputy Chief Constable schon ein paarmal begegnet, meistens, wenn er irgendetwas ausgefressen hatte. Den anderen Mann erkannte er nicht, jedenfalls nicht von hinten.
»Ah, Detective Inspector McLean.« Der DCC lehnte sich zurück im Sessel und schaukelte leicht vor und zurück. »Wie schön, dass Sie sich zu uns gesellen.«
»Sir. Gibt es etwas, wobei ich Ihnen helfen kann?«
»Das könnte durchaus sein, Detective Inspector. Das könnte durchaus sein.« Der Mann im Anzug wandte sich vom Fenster ab. McLean erkannte ihn noch immer nicht, aber der englische Akzent, der billige Anzug und das allgemeine Gebaren sprachen Bände. Er war genügend Detectives von der Abteilung Organisierte Kriminalität, oder wie immer die sich heutzutage nannten, über den Weg gelaufen, um einen zu erkennen, wenn er vor ihm stand.
»Sagen Sie mal, wie geht’s eigentlich unseren Freunden, den McClymonts, dieser Tage?«
»Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Name?«, fragte McLean.
»Beantworten Sie die Frage, McLean«, warf der DCC schroff ein.
»Gerne, Sir. Sobald ich weiß, von wem ich vernommen werden soll.«
Der DCC zog eine noch finsterere Miene und wollte gerade etwas antworten, als der andere Mann sich zu Wort meldete. »Also gut, Tim Chambers.« Er streckte seine Hand aus. »Ich leite die Task Force Drogenhandel. NCA. Wir beobachten Ihre Freunde, die McClymonts, schon eine ganze Weile.«
McLean ergriff die ausgestreckte Hand und sah Chambers dabei ins Gesicht. Den Falten nach zu urteilen war Chambers Anfang fünfzig, aber fit, nur ein paar graue Haare im Dunkelbraun. Wenn er für die National Crime Agency arbeitete und vom Deputy Chief Constable begleitet wurde, war er höchstwahrscheinlich mindestens Chief Superintendent, was die unausgesprochene Anschuldigung umso schwerwiegender machte.
»Entschuldigen Sie, dass ich mich so unfreundlich verhalten habe, Sir. Aber Sie haben zweimal von Leuten, die ich nicht kenne, als meinen Freunden gesprochen. So etwas stößt mich irgendwie ab.«
»Ah ja. Sie wollen mir also weismachen, dass Sie Joe und Jock McClymont nicht kennen? Aber sie hatten erst vor ein paar Wochen ein Treffen mit ihnen. Sie sind als Partner in ihren neuesten Bauvorhaben hier in Edinburgh aufgeführt.«
»Ich bin … was?« McLean sah erst zum DCC und dann zu Duguid, der immer noch neben der Tür stand. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wovon Chambers sprach. Dann aber fiel der Groschen.
»Der Wohnblock in Newington.«
»Ah, jetzt erinnert er sich.«
»Aber das ist verrückt. Ich bin kein Partner. Nun, abgesehen von der Tatsache, dass mir ein Anteil an dem Gebäude gehört. Und was die McClymonts betrifft, nun ja, ich habe sie getroffen. Aber nur einmal. Mir haben die Pläne, die sie für das Gebäude entworfen haben, nicht gefallen, was ich ihnen auch sagte. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Allerdings war ich ziemlich beschäftigt, weil ich in zwei ziemlich unangenehmen Mordfällen ermitteln musste.«
Chambers hob eine Braue, à la Roger Moore. Zog ein flaches Smartphone aus der Tasche, wischte darüber, tippte einmal aufs Display und hob das Telefon ans Ohr.
»Die Akte über McLean. Wie viele Treffen?« Pause, in der er sichtbar rot wurde. McLean war nicht zum ersten Mal Duguids Zorn ausgesetzt, aber wer immer Chambers informiert hatte, dürfte es nach dessen Rückkehr ins Hauptquartier weitaus schlimmer treffen.
»Eines? Mehr nicht? Und die Bauplanungsanträge. Die sind unterzeichnet?« Wieder Pause. Dann beendete Chambers, wortlos, das Telefonat und steckte das Handy wieder ein.
»Meine Herren, ich schulde Ihnen allen eine Entschuldigung, insbesondere Ihnen, Detective Inspector. Man hat mich glauben gemacht, Sie unterhielten eine lang bestehende Beziehung zu den McClymonts. Allem Anschein nach ist dies nicht der Fall.«
»Sie hätten doch fragen können.«
Chambers lächelte gequält. »Sie wissen genau, dass wir das nicht so machen.«
»Also, fürs Protokoll: Ich habe die McClymonts einmal getroffen, mochte weder sie noch das, was sie mit meinem alten Haus vorhatten. Was wirft man ihnen vor, dass Sie auf sie aufmerksam geworden sind?«
Chambers schwieg. McLean wusste, er sollte glauben, dass der ranghöchste Beamte darüber befand, ob er operative Geheimnisse preisgeben durfte oder nicht, aber er wusste auch, dass das nur Show war. Er stand da und wartete; manche Leute konnten nicht anders, sie mussten einfach eine Stille füllen.
»Wir haben die McClymonts schon eine ganze Weile im Visier. Wir vermuten, dass sie Kokain und andere Drogen ins Land schmuggeln, wobei sie ihre Baufirma zur Geldwäsche nutzen. Allerdings sind sie ein gewieftes Duo, fast so, als wüssten sie, was wir tun und wann. Deshalb wurden wir aufmerksam, als Ihr Name auf einem Bauplanungsänderungsantrag aufgetaucht ist, den sie vor einigen Monaten eingereicht haben.«
»Was haben die?« McLean ballte die Fäuste, versuchte, sich wieder zu entspannen. »Dann haben die also eine Planungsgenehmigung erhalten. Was für eine Frechheit. Wenn ich die Leute in die Finger bekomme …«
»Das dürfte schwierig sein«, sagte Chambers.
»Sie haben die beiden festgenommen? Das genügt mir. Fürs Erste.«
»Nein, wir haben sie nicht festgenommen. Und leider werden wir sie auch künftig nicht festnehmen. Das wird nie passieren. Sie sind nämlich beide tot.«