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Nach seinem Haus zu urteilen, war es ziemlich lukrativ, Dinge aus der Luft zu greifen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Zumindest dann, wenn man so überzeugend kreativ war wie Douglas Ballantyne. McLean hatte versucht, das ganze Buch zu lesen, das er aus Ben Stevensons Wohnung mitgenommen und in das Ballantyne seine irren Ideen mittels einer plausiblen Präsentation sorgfältig ausgewählter Fakten verpackt hatte. Wie so viele andere war auch Ballantyne von den Freimaurern, den Tempelrittern und all dem damit einhergehenden Unsinn, der an ihnen haftete wie Körpergeruch an einem männlichen Teenager, wie besessen. Der große Markt des Wahns brauchte Futter.
Ballantynes House lag in einem engen, ruhigen Tal, rund eine halbe Stunde Autofahrt vom Stadtzentrum entfernt, umgeben von mehreren Hektar Parkland. Zottelige Schafe suchten Schutz unter uralten Bäumen, um der sengenden Sommersonne zu entkommen. Eine kleine Herde Damwild spähte ängstlich zum Wagen herüber, während McLean eine schmale Zufahrt entlangfuhr, die von einer Nebenstraße abzweigte und auf der er und Ritchie schließlich bis vors Haus fuhren.
»Erinnern Sie mich daran, dass ich diese rührseligen Memoiren in die Ecke werfe, wenn wir wieder zurück in der Stadt sind, Sir.« Ritchie blickte weiter auf das Gebäude, während sie aus dem Wagen stieg und die Tür hinter sich schloss. Sogar McLean musste zugeben, dass es eindrucksvoll war, wie so viele schottische Herrenhäuser. Drei Geschosse roter Sandstein und heller Putz erstrahlten im Licht des heißen Nachmittags. Ein fast perfektes Bild, auch wenn McLean annahm, dass der alte Kasten im Winter verdammt schwer warm zu kriegen war.
»Irgendein Hinweis auf unseren Mann? Er weiß doch, dass wir kommen?« Als McLean sich umschaute, rechnete er fast damit, einen stämmigen, bärtigen Kerl begleitet von zwei umhertollenden Spanieln zu sehen, der über die Felder schreitet, um seine Gäste zu begrüßen. Stattdessen hörte er ein derart leises, bedrohliches Knurren, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten.
»Ist ja toll.« Ritchie griff ganz langsam nach der Wagentür, zog sie wieder auf. »Ich mag keine Hunde.«
»Sie – und Grumpy Bob auch nicht.« McLean versuchte, die Quelle des verhaltenen Knurrens ausfindig zu machen, bis er schließlich zwei Rhodesian Ridgebacks um die Ecke des Hauses biegen sah. Sie bellten nicht, und sie liefen auch nicht knurrend und sabbernd auf sie zu. In gewisser Hinsicht war das noch furchterregender: dass jemand die Hunde im Griff hatte, obwohl sie es eindeutig darauf abgesehen hatten zu töten.
»Aubrey! Campion! Sitz!« Eine seltsam hohe Stimme; einen Moment lang hielt McLean sie für die einer Frau. Wer immer es war, die Hunde gehorchten mit geradezu maschinenartiger Präzision und setzten sich auf eine Weise, die ganz deutlich verriet, dass sie noch immer für die Jagd bereit waren. Gezüchtet, um in der afrikanischen Steppe Löwen zu jagen, erinnerte sich McLean irgendwo gelesen zu haben. Er war kein großer Fan von Hunden, er war in einem Haus mit Katzen aufgewachsen.
»Sie brauchen keine Angst vor meinen Jungs haben. Die beißen nur, wenn ich es ihnen befehle.« Wieder diese hohe Stimme, aber mit einem männlichen Unterton darin. Und dann erschien der Hausherr. Er ging an den Hunden vorbei und tätschelte dabei einem den Kopf.
Douglas Ballantyne war etwas älter als zu dem Zeitpunkt, als er für das Buch fotografiert worden war, aber es handelte sich unverkennbar um denselben Mann. Sein Vollbart, ein rötlich-grauer Wust, hätte kleinen Singvögeln ein Nest bieten können. Er trug eine locker sitzende Jogginghose, dazu einen dunklen Samtsmoking über einem verblichenen Rock-Band-Tour-T-Shirt, was ein ziemlich geschmackloses Ensemble ergab. Die dickrandige Brille und der Gehstock mit verziertem Knauf machten das Ganze auch nicht besser.
»Was für ein schönes Chassis.« Ballantyne blickte an McLean vorbei, dann schaute er noch mal hin, als er DS Ritchie bemerkte. »Das Auto, meine ich.«
»Natürlich, das Auto. Mr. Ballantyne, nehme ich an.« McLean streckte die Hand aus, worauf der Autor ihn komisch ansah.
»Ja, ja. Und Sie sind dieser Polizist. McLean. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Ach ja? Hoffentlich nur Gutes.«
»Zumindest nichts Schlechtes.« Ballantyne ergriff McLeans Hand und wandte dabei einen dieser Freimaurergriffe an. Eine Prüfung, die McLean bestanden haben musste, ohne dass er es bemerkte. »Kommen Sie ins Haus. Ich koche uns einen Tee.«
Im Haus war es angenehm kühl nach der sengenden Hitze draußen. Ballantyne hatte McLean und MacBride um die Rückseite geführt; McLean vermutete, dass der Vordereingang abgeschlossen war, und zwar seit Jahren. Einige kleine Zimmer öffneten sich zu einer Küche, die man wohl am besten als »gemütlich« bezeichnete. Auf eine Mrs Ballantyne wies nichts hin, wobei McLean bezweifelte, dass es eine gab. Auch waren keinerlei Hinweise auf Hausangestellte zu erkennen. Keine Assistentin, keine Putzfrau, nur der Hausherr und seine beiden Hunde. Diese verhielten sich ruhig, nachdem sie erkannt hatten, dass weder er noch Ritchie eine Bedrohung darstellten, und schlichen zu den schmuddelig wirkenden Körbchen in der gegenüberliegenden Ecke, sobald sie den Raum betraten.
»Tee?« Ballantyne griff nach einem schweren eisernen Wasserkessel, schüttelte ihn, um festzustellen, ob er Wasser enthielt, und stellte ihn dann klappernd auf die Warmhalteplatte des riesigen Herds. Er schaute zehn Sekunden auf den Wasserkessel, dann hob er ihn wieder an. »Ich Idiot! Andauernd vergesse ich, dass der Herd im Sommer immer ausgeht.«
Er startete einen zweiten Versuch, diesmal mit einem elektrischen Wasserkessel, dann suchte er nach Bechern und Teebeuteln. Die Küche war unaufgeräumt, chaotisch, der große Tisch mit Papieren übersät, dazu ein Laptop und stapelweise Bücher. Im Großen und Ganzen machte alles einen sauberen Eindruck. Nicht unähnlich seiner eigenen Küche, wie McLean zugeben musste. Nur größer.
»Wie ich höre, wollen Sie mit mir über Ben Stevenson sprechen. Das hat mir jedenfalls der Constable am Telefon gesagt.« Ballantyne redete über die Schulter und ging dabei von Schrank zu Schrank, hoffentlich auf der Suche nach Keksen.
»Detective Constable MacBride – hat er Ihnen den Grund genannt?«
Ballantyne gab seine Suche auf. »Setzen Sie sich, Inspector, Sergeant. Bitte, entschuldigen Sie die Unordnung.« Er unternahm einen halbherzigen Versuch, den Tisch freizuräumen, stapelte das meiste zu einem großen Haufen in der Mitte, stellte den Laptop obendrauf. »Er sagte irgendetwas des Inhalts, Stevenson sei tot.«
»Stevenson wurde ermordet, Mr Ballantyne. In den Höhlen bei Gilmerton Cove. Kennen Sie den Ort?«
»Ihn kennen? Ich habe ein Buch darüber geschrieben. Faszinierender Ort. Dieses ganze Gerede über Covenanters, Freimaurer und Gott weiß, wer alles damit verknüpft ist. Ist natürlich alles erlogen.«
»Ach ja? Wer hat denn Ihrer Meinung nach die Höhlen erbaut?«, fragte DS Ritchie.
»Etwas, das viel älter ist als die alle zusammen.« Ballantyne wollte gerade mit seinem Bericht fortfahren, als der Kessel mit einem Klick sein lautes Geköchel einstellte und ihn ablenkte. Er goss Wasser in die Becher.
»Hat Stevenson in dieser Sache Nachforschungen angestellt?«, fragte McLean, sobald der Tee gereicht und die Kekse gefunden worden waren.
»Ben?« Ballantyne lachte. »Nein, Ben war noch ein Novize. Er war wie besessen von der Verbindung zwischen den Tempelrittern und der heutigen Freimaurerbewegung. Klassisches Verschwörungstheoriezeug.«
McLean versuchte, sich an den Inhalt des Buchs zu erinnern, das er quergelesen hatte. Es war ihm wie ziemlich gängiges Verschwörungstheoriezeugs erschienen, aber vielleicht war ja auch er ein Novize. »Sie glauben also nicht, dass es da eine Verbindung gibt?«
»Oh, natürlich gibt es da eine Verbindung. Das ist sonnenklar, wenn man weiß, wonach man sucht.« Ballantyne trank einen Schluck Tee und beugte sich vor lauter Begeisterung für seine Version der Geschichte über den Küchentisch. »Aber die ist anders, als es in allen Büchern steht. Nicht das, was man findet, wenn man bei Wikipedia nachliest.«
»Lassen Sie mich raten. Die Bruderschaft?«
Ballantynes Augen glänzten vor Begeisterung. »Sie haben also mein Buch gelesen. Ich bin beeindruckt.«
»Ich habe in Stevensons Exemplar gelesen. Das mit Ihrer Widmung darin. Es war ziemlich zerfleddert.«
»Tatsächlich?« Ballantyne wirkte aufrichtig verwundert. »Und da habe ich geglaubt, er hätte es nur gekauft, um mich zu besänftigen.«
»Ich denke, er hat sich mehr für Ihre Theorien interessiert, als Ihnen bewusst ist, Mr Ballantyne.«
»Ja?«
»Ja. Und ich denke auch, dass er an irgendetwas nahe dran war. Vielleicht einem echten Geheimnis, vielleicht auch an jemand, der nicht wollte, dass die Welt erfährt, dass es gar kein Geheimnis gibt.«
»Und deswegen ist er ermordet worden? Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Inspector, aber ich bezweifle doch sehr, dass Ben irgendetwas aufgedeckt hat, für das es sich zu morden lohnt.« Ballantyne hielt kurz inne, als wäre ihm plötzlich ein Gedanke gekommen. »Sie sagten, er wurde in Gilmerton Cove ermordet. Und dass Sie seine Leiche gefunden haben – natürlich, sonst wären Sie ja nicht hier und würden mit mir darüber reden. Sagen Sie mal, hatte der Mord einen rituellen Charakter?«
»Ich bin nicht befugt, über solche Details zu sprechen«, erwiderte McLean. »Warum fragen Sie?«
»Nun, wenn der arme alte Ben wirklich etwas aufgedeckt hätte, für das es sich lohnte zu töten, dann hätten Sie ihn nie gefunden. Ihnen wäre vermutlich nicht einmal aufgefallen, dass er verschwunden ist.«
»Warum sagen Sie das?« McLean beschlich das bange Gefühl, dass er die Antwort schon kannte.
»Die Bruderschaft kontrolliert die Medien, Inspector. Jeden Teil davon. Die Nachrichten, das Fernsehen, Filme, Bücher. Ja, sogar meine Bemühungen.« Ballantyne deutete mit dem Arm auf den wackligen Stapel mit Papieren. »Es mag zwar so aussehen, als würden wir lange verborgene Geheimnisse enthüllen, aber das geschieht nur, weil diese Leute das zulassen. So sehr mich das Eingeständnis auch ärgert – aber ich bin nur ein Instrument im größeren Plan der Bruderschaft.«
»Und der wäre?«
»Ach, ich habe keine Ahnung. Nun ja, das stimmt nicht ganz. Ich habe eine Idee, aber die würde ich auch nicht im Traum ausplaudern. Jedenfalls noch nicht. Vielleicht kommt die Zeit, da ich das Buch schreiben kann. Falls es dem Zweck der Bruderschaft dient, das Geheimnis zu enthüllen.«
»Und wenn Stevenson nun die gleiche Idee hatte, aber nicht bereit war zu warten?«
»Das ist der springende Punkt, Inspector. Hätte er das getan, dann wären die Adrogenae auf ihn gehetzt worden. Und wenn die los gewesen wären, dann hätte es ihn schlicht niemals gegeben.«