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McLean hatte damit gerechnet, dass Dalgliesh sich ein Taxi nehmen oder wieder in die Stadt verschwinden würde, sobald sie ihren Kaffee ausgetrunken hatten, doch sie kam zu Fuß mit zur Wache, das heißt: Sie humpelte so schnell sie konnte neben ihm her.
»Also, wer hat Sie denn nun so verdroschen? Ich habe schon geglaubt, Sie wären Stevensons Geheimgesellschaft zu nahe gekommen, aber wenn die gar nicht existiert, können diese Leute Sie wohl kaum so zugerichtet haben.«
Dalgliesh verzog das Gesicht. »Es ging dabei um etwas ganz anderes. Um eine Geschichte, an der ich schon länger dran bin und die Sie nichts angeht. Jedenfalls nicht derzeit. Ich hab vor rund einer Woche einen Anruf von einem meiner Informanten erhalten, er hätte was für mich. Und als ich hinkam, war die kleine Kröte nirgendwo zu sehen. Auf dem Rückweg bin ich oben am Calton Hill Way von zwei Gangstern überfallen worden. Sollte so aussehen, als wäre es um mein Handy und mein Geld gegangen, aber ich weiß, wenn es sich um eine Strafexpedition handelt, besonders wenn ich das Opfer bin. Ich hatte wohl zu viele Fragen. War zu nah dran an irgendwem, der im Dunkel bleiben wollte.«
»Wer’s drauf anlegt, am Schlafittchen gepackt zu werden …«
Dalgliesh stieß ein kurzes, scharfes Lachen aus, blieb stehen und lehnte sich an die nahe Mauer. Ob sie erschöpft war und sich ausruhen musste? McLean war sich nicht sicher. Vermutlich war der Grund eher etwas, das er gesagt hatte.
»Das ist ja zum Piepen. ›Schlafittchen‹. Du meine Güte, den Ausdruck hab ich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gehört.« Dalgliesh schnaufte asthmatisch und kramte in ihrer Handtasche nach einer Zigarette. Die Tasche war neu, wie McLean feststellte. Warum war ihm das eigentlich nicht schon früher aufgefallen?
»Sie wissen aber schon, was ich gemeint habe, oder? Sie waren mir eine große Hilfe. Dafür bin ich Ihnen dankbar, und bei Gelegenheit werde ich mich auch revanchieren. Allerdings nur, wenn Sie mich nicht wieder als Erstes verärgern.«
»Ja, ja, Inspector, Sie sind ein Gutmensch, weiß ich doch.« Dalgliesh zündete sich eine Zigarette an, zog heftig daran und stieß Rauch aus der gebrochenen Nase. »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen, keine Sorge. Sobald ich weiß, wer die Jungs waren, die mich überfallen haben, erfahren Sie als Erster davon.«
»Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?« Sie befanden sich jetzt auf der Straße gegenüber der Wache. McLean hatte ihr das Angebot gemacht, obwohl er das eigentlich nicht wollte.
»Nein, alles gut.« Dalgliesh wedelte ihn mit der Hand weg, in der sie die Zigarette hielt, sodass die Asche auf den Boden fiel. »Ich brauch nur einen kleinen Augenblick, bis mir die Rippen nicht mehr so wehtun, dann geht’s zurück in die Redaktion. Machen Sie sich meinetwegen keinen Kopf, Inspector. Ich komm schon zurecht.«
Auf dem Revier herrschte Ruhe, denn es war schon fast Abend, und die meisten von der Tagesschicht hatten bereits das Haus verlassen. McLean ging durch den Hintereingang ins Gebäude, um nicht vom diensthabenden Sergeant ertappt und unter dem obligaten Haufen hinterlassener Nachrichten, der sich zwangsläufig ansammelte, wenn man eine Weile nicht in der Wache war, begraben zu werden. Er wollte direkt ins Büro gehen und versuchen, die unzusammenhängenden Informationen, die ihm im Kopf herumschwirrten, zu ordnen. Doch da gab es noch jemanden, mit dem er unbedingt sprechen musste, bevor er es vergaß, und wo der sich aufhielt, war um diese Uhrzeit eindeutig.
Im Einsatzraum herrschte eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit, wie sie sich nach mehr als einer Woche ohne Fortschritte oftmals einstellte. Mehrere Uniformierte saßen an den Telefonen, obwohl die Zahl der Anrufer überschaubar war. In einer Ecke spuckte ein Drucker schier endlose Papiermengen aus – Sachen, die gecheckt, zugeteilt, bearbeitet, abgewiesen werden mussten. Jemand hatte ein paar Nadeln in den Stadtplan gesteckt, der die eine Wand zierte, daneben befand sich das weitgehend von Ideen freie Whiteboard. Als McLean sich im Raum umsah, fiel ihm auf, dass kein ranghöherer Kollege anwesend war. Aber Detective Constable MacBride beugte sich über die Schulter einer Frau aus der Verwaltung, die mit einem Finger Anweisungen in die Computertastatur hackte. Dank seines ausgeprägten sechsten Sinns auf die Anwesenheit des Chefs aufmerksam geworden, hob er den Kopf.
»Ah, Sir. Ich hatte gehofft, dass ich Sie noch vor dem Schichtwechsel sprechen könnte.«
McLean warf einen Blick auf die Wanduhr über der Tür. »Tut mir leid. Ich wurde von einer gewissen Journalistin aufgehalten. Angeblich hat sie Ihnen vor einiger Zeit eine E-Mail geschickt.«
Ein verwirrter Ausdruck huschte über MacBrides rundliches Gesicht, dann dämmerte es ihm. »Ach so, Jo Dalgliesh. Ja. Sie hat mir die gesamten Rechercheergebnisse von Ben Stevenson geschickt. Im Grund nur die Links zu den Fundstellen im Netz. Deshalb hatte ich Sie sprechen wollen.«
»Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie mir das nicht früher mitgeteilt haben?«
»Äh … Sie waren nicht hier, Sir. Die Mail kam, als Sie mit Grumpy … DS Laird oben in Inverness gewesen sind. Ich hab alles durchgearbeitet, aber es hat nicht viel erbracht, und je weiter man liest, desto weniger Sinn ergibt es.«
»Dalgliesh hat mir mehr oder weniger dasselbe gesagt. Trotzdem würde ich mir das Material gern mal selber ansehen.«
»Der Ausdruck liegt auf Ihrem Schreibtisch, Sir.«
»Danke.« McLean drehte sich gerade zur Tür um, als ihm noch etwas einfiel. »Konnten Sie irgendetwas mit den Seriennummern anfangen, die wir gefunden haben? Sie wissen schon, die Handys und Computer bei McClymont Developments?«
»Alles sauber. Jedenfalls nicht als gestohlen gemeldet oder sonst was. Die Handys hatten keine SIM-Karte, was etwas ungewöhnlich ist, es sind schließlich Topgeräte. Aber eine Sache war wirklich komisch – dass keines der Geräte gefunden wurde. Ich hab mit der Leichenhalle gesprochen und mit Inverness telefoniert. Beide McClymonts hatten ein iPhone, aber nicht das neueste Modell. Wer auch immer diese neuen bekommen hat, die McClymonts waren es jedenfalls nicht. Keiner hatte auch nur ein Notebook bei sich.«
»Dieses Rätsel überlassen wir mal der NCA. Aber danke, dass Sie der Sache nachgegangen sind.« Unvermutet erschien ein Bild vor McLeans innerem Auge: Zwei in den Hinterhof seines alten Wohnblocks in Newington gezwängte Mietcontainer. Pläne, die verstreut in einem behelfsmäßigen Baubüro herumlagen. Hatten sich dort Computer befunden?
»Befassen Sie sich doch noch mal mit Ms Grainger, wenn Sie Zeit haben. Morgen Vormittag reicht. Finden Sie heraus, wie es mit dem Wohnungsausbau vorangeht, und versuchen Sie eine Besichtigung der Baustelle zu arrangieren. Wir würden schön dumm dastehen, wenn das ganze Zeug dort wäre.«
MacBride nickte, nahm sein Tablet und fing an, auf dem Display herumzuwischen. »Ich will mal sehen, ob wir eine Standortbestimmung der Handys vornehmen können. Sollten sie eingeschaltet sein, könnte es nützlich sein, den Standort zu wissen.«
McLean blickte nochmals zur Wanduhr – längst nach Schichtende. Es war ja nicht so, dass er dem Detective Constable die Überstunden missgönnte, aber der Junge musste auch mal zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben finden.
»Okay, danke. Aber das hat keine Eile. Ist ja eigentlich nicht unser Fall. Erledigen Sie das morgen. Höchste Zeit, dass Sie abzischen – sonst wissen Sie bald nicht mehr, wie Ihr Zuhause aussieht.«
Wie versprochen hatte McBride den Computerausdruck von Ben Stevensons Arbeitsnotizen oben auf den Papierstapel auf McLeans Schreibtisch gelegt. Der Ordner war dünner als erwartet, der Text zweizeilig, oftmals standen dort lediglich kurze Listen mit Stichpunkten, einzelne Wörter, die wenig Sinn ergaben. Außer man betrachtete das Ganze als Produkt eines in Auflösung befindlichen Bewusstseins. Er überlegte, was Matt Hilton wohl damit anfangen würde, aber der Psychologe war nicht lange nach dem Vorfall in der leer stehenden psychiatrischen Klinik weggegangen und hatte verkündet, dass ihm eine Dozentenstelle in Brisbane angeboten worden sei. McLean hatte den Verdacht, dass die beiden Dinge zusammenhingen.
Es gab noch andere Experten, die man hinzuziehen konnte, damit sie ihre hochwissenschaftliche Meinung zu den Notizen abgaben. Vermutlich war es sogar eine gute Idee, jemanden zurate zu ziehen, denn so würde es wenigstens den Eindruck erwecken, als wäre man bei den Ermittlungen gründlich vorgegangen. Allerdings war McLean schon beim flüchtigen Durchblättern klar, dass man hier keinerlei Hinweise auf die Identität des Mörders finden würde.
Er wollte gerade das Ganze zusammen mit einer handschriftlichen Notiz in diesem Sinne zurück in den Umschlag stecken, als das Telefon klingelte. Wieder blickte er zur Wanduhr und wunderte sich, dass es bereits 19 Uhr 30 war. Dann griff er zum Hörer.
»McLean.«
»Ah, Detective Inspector. Ich hatte gehofft, dass ich Sie noch erwische.«
Er kannte die Stimme, doch es dauerte einige Sekunden, bis ihm der dazugehörige Name einfiel. Die Kriminaltechnikerin, die immer die »Scheißjobs« bekam und anscheinend in der Spätschicht arbeitete. »Ms Parsons. Was kann ich für Sie tun?«
»Es geht wohl eher darum, was ich für Sie tun kann. Ich habe die Analyse des Pkws vorgenommen, den Sie von Inverness runterschicken haben lassen. Wussten Sie, dass der Wagen über 500 PS hat?«
Zufällig wusste McLean es. Aber erst wunderte es ihn, dass Miss Parsons es ebenfalls wusste. Dann ärgerte er sich, dass er sich darüber gewundert hatte. Warum sollte sie schließlich keine Ahnung von Autos haben?
»Ich dachte, Ihre Spezialität seien menschliche Ausscheidungen?«
Das löste schallendes Gelächter aus, so laut, dass er den Hörer etwas von sich weg hielt. Als er ihn wieder ans Ohr drückte, war Ms Parsons mit ihren Erläuterungen schon halb fertig.
»… ein richtiger Hansdampf in allen Gassen. Sie haben ja keine Ahnung, was die Menschen so alles in ihren Autos hinterlassen. Spucke auf dem Armaturenbrett und dem Lenkrad, Popel auf den Sitzbezügen, Urin in den Fußmatten, manchmal sogar Kot. Sie würden es nicht glauben, was für Mengen von Sperma und Vaginalsekret die Leute so in der Gegend verteilen. Vielleicht denken Sie mal dran beim nächsten Gebrauchtwagenkauf.«
McLean hatte Amanda Parsons erst einmal persönlich getroffen, frühmorgens, als sie die Stuhlprobe aus seinen Büschen gefischt hatte; er konnte sich zwar nicht mehr genau erinnern, wie die Frau aussah, aber er merkte, wie er sich zunehmend für sie erwärmte.
»Und was ist nun so besonders an McClymonts BMW?«
»Das ist kompliziert.« Miss Parsons machte eine Pause, bevor sie fortfuhr: »Könnten Sie wohl mal bei uns im Labor vorbeischauen? Es ist wirklich einfacher, wenn ich es Ihnen zeige.«
McLean schaute zur Wanduhr, obwohl er genau wusste, wie spät es war. »Jetzt gleich?«
»Na ja, ich bin noch da, Sie sind noch da. Aber es kann auch bis morgen Vormittag warten, wenn Ihnen das lieber ist.«
Vor ihm lag ein Stapel Unterlagen aus den letzten zwei Wochen, die bearbeitet werden mussten, und streng genommen waren die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung von Joe McClymonts Wagen Sache der NCA. Andererseits kam bei dem ganzen Papierkram sowieso nichts heraus, die beiden Mordermittlungen stagnierten, und das reizte ihn. McLean schrieb eine Kurznachricht auf einen Notizzettel, klebte diesen auf den Umschlag mit Ben Stevensons wirren Notizen und legte ihn in den Postausgangskorb.
»Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«