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Ich gab dem Kind eine Woche. Wenn es dann nicht gestorben wäre, hätte ich nachgeholfen, aber am Ende überlebte es nur drei Tage. Mir wären, ehrlich gesagt, fünf lieber gewesen. Das hätte mir ein bisschen mehr Zeit gelassen, alles vorzubereiten. Aber Gottes Wille duldet keinen Widerspruch, und das Kind war, so beschädigt es auch sein mochte, doch eines Seiner Geschöpfe. Er hat mir diese Aufgabe zugeteilt. Es ist nicht seine Sache, es leicht zu machen.
Menschen brechen auf erstaunlich vorhersehbare Weise zusammen. Jim hatte, trotz seiner jahrelangen medizinischen Ausbildung, seine Patienten allzu nah an sich herangelassen, sich emotional zu sehr an sie gebunden. Sie zu verlieren, kam ihm vor wie ein Versagen, als wäre es irgendwie seine Schuld, dass das Kind an Krebs erkrankt war. Dieses Kind liegt ihm besonders am Herzen. Ich habe keine Ahnung, warum. Vielleicht hatte ein Freund ein ähnliches Schicksal erlitten; das könnte sein Interesse an Medizin erklären. Das Warum ist unwichtig, nur das Wie ist wichtig.
Ich finde ihn dort, wo ich ihn erwartet habe, vor der Glasscheibe, wo wir uns vor ein paar Tagen kurz unterhalten hatten. Er sieht ungesund aus, wie ein Mann, der seit Tagen nicht geschlafen hat. Er starrt auf das leere Bett, als glaubte er, dadurch alles ungeschehen zu machen.
»Es tut mir so leid. Ich habe es gerade erst erfahren.« Was natürlich nicht stimmt, aber das richtige Timing ist alles. Er dreht sich um, als er meine Stimme hört, und ich kann die Röte um Augen und Nase sehen, gleich werden ihm bestimmt wieder die Tränen kommen. Er wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht, schnieft. Schweigt.
»Ich hab’s versucht«, sage ich. »Vielleicht hätten wir etwas erreichen können, wenn wir ein wenig mehr Zeit gehabt hätten. Es gab da eine Studie, aber …« Ich ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, überließ ihm den nächsten Schritt.
»Es dauert immer zu lange. Endlose Ausschusssitzungen, auf denen die Mitglieder die Hände wringen. Wenn ich sie nur hierherholen könnte. Ihnen das hier zeigen.« Wütend schlägt er so mit der flachen Hand gegen die Glasscheibe, dass sie vibriert. Eine vorbeigehende Krankenschwester macht ein böses Gesicht, doch als ihr klar wird, wer es ist, senkt sie den Kopf und eilt davon.
»Es muss nicht so sein.« Ich sage das leise und ruhig, aber er hört es trotzdem. Ich nehme die Veränderung in seiner Körperhaltung wahr. Auf das hier hat er gewartet.
»Sie meinen doch nicht …«
»Nicht hier.« Ich greife in meine Tasche, ziehe ein Kärtchen heraus, das ich vorher beschrieben habe. Eine Adresse, mein angenommener Name. Nichts anderes. »Heute Abend um acht. Es sind ein paar Leute da, die Sie kennenlernen sollten. Ein paar Dinge, die Sie vielleicht sehen möchten.«
Ich erwidere seinen Blick, während er das Kärtchen entgegennimmt, es in die Tasche steckt. Er nickt einmal, nur ein ganz knappes Nicken, aber es genügt. Wenn er diesen Schritt macht, wird er frei sein, seine Erlösung vollständig. Nun wird die Zeit es weisen.