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Das unscheinbare Gebäude hatte große Ähnlichkeit mit dem von McClymont Developments auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes. Es lag ein wenig versteckt im hinteren Winkel, nahe den Bahngleisen, die Fenster waren mit Brettern vernagelt, an der Vorderseite hing ein verblasstes, schiefes »Zu vermieten«-Schild. Zutritt konnte man sich lediglich durch eine massive Metalltür verschaffen, eingefügt in ein sehr viel größeres Rolltor, hinter dem sich eine Ladezone befand. DS Ritchie musste ihn kommen gesehen haben, denn sie nahm ihn außerhalb des von der Polizei abgesperrten Bereichs in Empfang.
»Wieso ist überhaupt jemand darauf gekommen, hier drin nachzusehen?«, fragte McLean. Er hatte in einiger Entfernung von den Streifenwagen und den Transportern der Kriminaltechnik geparkt. Der Parkplatz war zwar groß, aber die einzelnen Parkbuchten boten nicht viel Platz.
»Stuart hat ein paar von den Uniformierten von Tür zu Tür gehen und in den anderen Betrieben nachfragen lassen, wie Sie verlangt hatten, Sir. Ein übereifriger Constable ist auf das Gebäude hier gestoßen und hat es durchsucht, obwohl es offensichtlich leer steht. Dabei hat er festgestellt, dass es nicht abgeschlossen war, und gemeint, dass er es erst mal checken solle, bevor er den Immobilienmakler anruft. Dort hat er sie dann gefunden … na ja, ich weiß nicht genau, wie ich’s sagen soll. Es handelt sich aber mit Sicherheit um eine Leiche.« DS Ritchie ging so flotten Schrittes wie schon lange nicht mehr – was sicher daran lag, dass sie sich endlich mal wieder in einen besonders interessanten Fall reinknien konnte. Entweder das – oder Daniel war abends nicht ins Pfarrhaus zurückgekehrt, so wie man das eigentlich von einem Gottesmann erwarten durfte.
McLean schüttelte den Gedanken ab, ging hinter Ritchie über den Parkplatz und duckte sich unter das Tatort-Absperrband – was fast augenblicklich dazu führte, dass die am nächsten stehende Tatortermittlerin laut und vernehmlich hüstelte.
»Sie müssen einen der Overalls anziehen, wenn Sie da reingehen.« Die Tatortermittlerin selbst trug einen kompletten weißen Schutzanzug und hatte sich die Haube fest übers Haar gezogen. McLean erkannte lediglich, dass es sich um eine Frau handelte, weil ihr der Mundschutz an einem elastischen Band um den Hals hing. Sie saß auf der Ladefläche eines der Transporter und verspeiste ein Sandwich, das sie sorgfältig in die Tupperdose zurücklegte, bevor sie zwei weiße Papieroveralls hervorholte und etwas, das ein bisschen wie eine Mischung aus einer Duschhaube und der Tüte aussah, in der man ein Curry nach Hause trägt.
»Schmutzig da drin, oder?«, fragte er, während er Ritchie ein Paar Überschuhe reichte.
»Ganz im Gegenteil. Der Raum ist sauberer als der Fressnapf eines Labradors. Ich bezweifle, dass wir dort irgendetwas finden – es sei denn, Ihre Leute latschen darin herum. Ich könnte gut darauf verzichten herauszufinden, was was ist.« Die Tatortermittlerin griff nach ihrem Sandwich und biss noch einmal davon ab. Gespräch beendet.
McLean wartete, bis sie an der Tür angekommen waren, dann schlüpfte er in den Papieroverall und zog die Überschuhe an. Zur Sicherheit streifte er noch Latexhandschuhe über und entschwand dann ins Dunkel. Es handelte sich um einen großen Ladebereich, so wie man es bei einem derartigen Gebäude erwarten konnte. Als McLean sich umschaute, sah er jedoch, was die Tatortermittlerin gemeint hatte. In deutlichem Gegensatz zum Staub und Schmutz bei McClymont Developments war dieser Raum makellos sauber. Er ähnelte eher jenen Labors, in denen man Satelliten baute, als dem Lagerhaus einer Baufirma. Das Licht der Deckenlampen fiel auf einen glatten Fußboden, der unter seinen Schuhen quietschte, während er zur gegenüberliegenden Seite und einer offenen Tür ging. Eine Tatortermittlerin im Häschenanzug kniete neben der Tür und pinselte mit einem Fingerabdruckkit am Rahmen herum. Als sie aufblickte, weil sein Schatten auf sie fiel, erkannte McLean, dass es sich um Amanda Parsons handelte.
»Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen. Ich dachte, Sie würden die Autos auf der anderen Seite der Stadt untersuchen.«
Parsons grinste. »Die laufen nicht weg. Außerdem sind wir momentan ein bisschen unterbesetzt wegen all der Leichen, die Sie andauernd finden. Ich habe eine Ausbildung im Fingerabdrucknehmen. Überstunden sind immer willkommen.«
»Na, das dürfte kein Problem sein. Ist der Rechtsmediziner schon da?«, fragte McLean.
»Dort drin.« Parsons neigte den Kopf in Richtung Eingang.
»Waren Sie schon drin?«
»Nein. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich’s möchte, nach allem, was ich gehört habe.«
»Dann sehe ich mir das wohl am besten selber mal an«, sagte McLean und trat durch die Tür.
»Großer Gott, was ist das?«
Vor McLean breitete sich eine Szenerie aus, die aus einem modernen Horrorfilm hätte stammen können. In einem Halbkreis angeordnet, standen dort ein halbes Dutzend Intensivstationsbetten, jedes angeschlossen an verschiedene lebenserhaltende Geräte und Apparate. Viele davon waren letzte Generation, vielleicht älter, aber die Wirkung war trotzdem gruselig, vor allem angesichts der Umgebung. Es handelte sich hier schließlich um ein nicht mehr genutztes Lagerhaus in einem heruntergekommenen Stadtteil. Nicht um das Western General Hospital.
Von den sechs Betten waren fünf offensichtlich leer, die Apparate am Kopfende eines jeden Betts ordentlich an die Wände geschoben. Das letzte Bett verdeckte den städtischen Rechtsmediziner und seine Assistentin, die sich, ins Gespräch vertieft, gemeinsam über den Leichnam beugten, den sie gerade untersuchten. McLean wollte gerade hingehen und hören, was die beiden miteinander besprachen, als jemand ihm zurief:
»Es wird noch besser. Schauen Sie sich das hier mal an.« Als er sich umwandte, erblickte er Jemima Cairns, im kompletten Häschenanzug, den die Kriminaltechniker so sehr liebten. McLean wunderte sich immer, dass die einander in so einem Outfit überhaupt erkannten, aber irgendwie gelang es ihnen. Sie führte ihn durch eine weitere Tür in einen kleineren Raum, der einem Forschungslabor ähnelte.
»Ein paar von diesen Sachen sind besser als die Ausrüstung, die wir im Hauptquartier haben.« Dr. Cairns hob ein Mikroskop an und spähte auf das Herstellerlogo auf der Unterseite.
»Teuer?«
»Sehr. Na ja, jedenfalls ein paar von den Sachen.« Sie stellte das Mikroskop wieder ab und ging an der Arbeitsbank entlang dorthin, wo ein Kasten mit einer dunkel getönten Plexiglasabdeckung stand. Sie klickte die Abdeckung auf. »Die meisten Sachen sind allerdings Attrappen – wie man sie zu Medizinkongressen mitbringt.«
»Das alles hier ist also ein Schwindel?« McLean ging zu den Kühlschränken an der Wand, streckte die Hand aus, um einen zu öffnen, hielt dann aber inne. »Darf ich?«
»Nur zu. Die sind alle leer. Wir haben das Gebäude außerdem auf Fingerabrücke überprüft. Bislang nur ein Satz, und wie’s aussieht, gehört der zum Opfer.« Dr. Cairns deutete mit einem Nicken zu dem hohen Kühlschrank. »Den hat er geöffnet. Irgendetwas anderes scheint er nicht angefasst zu haben.«
»Überhaupt nichts?«
»Rein gar nichts. Das Gebäude ist so sauber, wie ich das noch nie erlebt habe. Chirurgisch sauber.«
»Und dort hinten?« McLean zeigte in die Richtung des größeren Raums, in dem die Betten standen und die Leiche lag.
»Sieht nicht viel anders aus. Oh, wir schauen uns weiter um, aber bislang haben wir noch nichts gefunden. Wer immer das hier getan hat – Hut ab. Der hat gewusst, wie man einen Tatort von allen Spuren befreit.«
»Das haben mir die anderen auch gesagt, aber ich hab die Leiche noch nicht gesehen.«
Dr. Cairns hob eine Augenbraue. »Nein?«
»Ich bin eben erst eingetroffen und wollte gerade einen Blick auf sie werfen, als Sie mich hier hineingezerrt haben.«
»Das war mir nicht klar. Entschuldigen Sie.«
»Ist schon in Ordnung. Es schadet nie, sich den ganzen Tatort anzusehen. Manchmal ist es besser, das als Erstes zu machen, bevor man sich der Leiche widmet.«
Cairns schwieg, während McLean den Kühlschrank öffnete. Leer, so wie sie es ihm gesagt hatte. Außerdem war er ausgeschaltet. Langsam ging McLean den schmalen Gang zwischen den makellos sauberen Arbeitsbänken entlang. Strich mit einem Finger über die nächstgelegene flache Oberfläche, überprüfte die Fingerspitze auf Staub. Da war keiner.
»Was schließen Sie aus alldem?«, fragte er.
»Dem hier? Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, jemand hat hier einen Film gedreht.«
McLean hielt inne, griff nach einer Pipette. Konnte es so einfach sein? Waren sie zufällig in einen Filmset geraten, von dem niemand etwas wusste?
»Ist es aber nicht«, entgegnete Dr. Cairns. »Ein Filmset, meine ich. Zum einen gibt es hier keinen Platz, wo man die Kameras aufstellen kann. Und dann ist da natürlich die Leiche. Die ist echt, keine Requisite.«
»Aber es ist trotzdem eine Inszenierung, ein Schwindel. Kein echtes Medizinlabor.«
»Jedenfalls keines, in dem ich arbeiten möchte. Wie gesagt, die meisten der Sachen sind Fassade.«
»Aber warum sollte sich jemand so viel Mühe machen?«
»Das ist Ihre Abteilung, Inspector. Nicht meine.« Dr. Cairns kratzte sich an der Stirn, dort, wo die eng sitzende Haube ihres Overalls gegen die Haut drückte, dann gab sie’s auf und zog sich das unbequeme Ding vom Kopf. »Aber wenn ich raten darf, würde ich sagen, hier hat jemand irgendeine Art betrügerisches Spiel inszeniert. Es würde mich nicht wundern, wenn es um viel Geld ginge. Die ganzen Sachen müssen ein Heidengeld gekostet haben, selbst wenn die meisten nicht echt sind.«
McLean wollte ihr gerade antworten, als DS Ritchie auftauchte. Als sie die Betten und Geräte entdeckte, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung.
»Die sind so weit, die Leiche abzutransportieren, Sir. Ich dachte mir, Sie würden sie sich vorher gern noch mal ansehen.«
Der große Raum war nicht weniger beeindruckend als das angrenzende Labor. Wie man die vielen Apparate wohl dort hineingeschafft hatte, ohne gesehen zu werden? Und woher stammten die ganzen Sachen? Diese und ein Dutzend andere drängende Fragen verflüchtigten sich, als McLean sich dem Bett und der Leiche darauf näherte.
Der Mann war nackt, abgemagert wie jemand, der seit Monaten kaum etwas gegessen hatte, und unfassbar bleich. Die blicklosen Augen starrten zur Decke und wirkten verschleiert. Das Gesicht war ausgezehrt, der Mund stand offen und entblößte die gelblichen Zähne. Das dünne Haar, schlaff und lang, lag ausgebreitet auf dem Kopfkissen. McLeans erster Eindruck: Da befindet sich jemand im Anfangsstadium der Mumifizierung.
»Tony, schön, dass du dich uns anschließt.« Angus Cadwallader stand auf der anderen Seite des Betts, seine Assistentin neben ihm. Hinter ihm warteten zwei Techniker mit einer Trage, bereit, die Leiche fortzuschaffen. Das schien unnötig, denn man hätte das Bett, auf dem sie lag, auch einfach hinausrollen können.
»Womit haben wir es hier zu tun, Angus?«, fragte McLean. Während er das Gesicht des Mannes betrachtete, konnte er kaum erkennen, ob dieser jung oder alt gewesen war. Die Haut wirkte merkwürdig blass, und er sah irgendwie geschrumpft aus, fast so, als hätte ihn das Bett verschlungen.
»Mit etwas wirklich sehr Hässlichem. Und ich sage das als jemand, der glaubt, schon alles gesehen zu haben.« Cadwallader hob den Arm des Toten vorsichtig an. Dabei fiel McLean auf, dass im Arm des Toten eine Kanüle steckte. Ein langer Schlauch führte davon weg zu einem Apparat am Kopfende des Betts.
»Siehst du das hier?« McLean nickte, er folgte Cadwalladers Hand, die den Schlauch zurückverfolgte. Dieser bestand aus durchsichtigem Plastik, hier und da waren darin kleine Klümpchen eines fast schwarzen Materials zu erkennen.
»Das ist ein Dialysegerät«, fuhr der Rechtsmediziner fort. »Du weißt sicher, wie so etwas funktioniert.«
»Ich dachte immer, dass so ein Gerät zwei Schläuche hat. Einen, der aus dem Körper heraus-, und einen anderen, der wieder hineinführt.« McLean hatte eine vage Ahnung, worauf das Gespräch hinauslief. Wieder schaute er auf das Gesicht des Mannes. Nicht alt, eher ziemlich jung. Nur eben ausgeblutet.
»Du hattest immer eine schnelle Auffassungsgabe, Tony. Du hast ganz recht. Im Normalfall wird das Blut durch das Gerät laufen, das all die unangenehmen Nebenprodukte des Stoffwechsels herausfiltert. Dann wird das aufbereitete Blut in den Körper zurückgeführt. Das Gerät hier …« Cadwallader machte eine kurze Pause – was sein alter Freund an einem Tatort noch nie getan hatte. Meist fiel es schwer, seinem Redefluss Einhalt zu gebieten, so groß war sein Enthusiasmus, Hinweise auf die Todesursache zu finden.
»… ist modifiziert worden. Ich bin nicht sicher, ob die Laborleute das auseinanderklamüsern können. Das Blut wurde dem Mann entnommen und … na ja, ich weiß nicht genau, was dann damit angestellt wurde.«
»Du meinst also, dass der Mann verblutet ist.«
»Nein, was ich meine, Tony, ist, dass er ausgeblutet wurde. Das ist nicht das Gleiche. Diesem Mann ist fast alles Blut entnommen worden. Und zwar langsam.«
»Langsam? Wie geht das?«
»Hätte es sich um einen schnellen Vorgang gehandelt, hätte man ihm die Kehle durchgeschnitten oder etwas Ähnliches, dann wäre der Blutdruck schnell abgefallen, und das Herz hätte aufgehört zu schlagen. Es langsam zu tun, so wie hier geschehen, hat den Prozess in die Länge gezogen. Außerdem ist er sehr behutsam auf das Bett gelegt worden. Es ist nicht möglich, alles Blut aus einem Körper abfließen zu lassen, ohne etwas hineinzupumpen, das es ersetzt, aber das hier kommt dem verdammt nahe.«
»Wie lange hat der ganze Vorgang gedauert – was schätzt du? Eine Stunde? Länger?«
»Viel länger. Das kann einen halben Tag gedauert haben.«
McLean schauderte – was jedoch auch an der Kälte im Raum liegen konnte. »Aber es wäre schmerzlos gewesen, oder? Und der Mann wäre ziemlich schnell ohnmächtig geworden?«
»Das hängt davon ab, wie langsam das Gerät gearbeitet hat, aber er dürfte gewusst haben, was mit ihm geschieht. Gütiger Himmel, wie entsetzlich, einem Menschen so etwas anzutun.«
McLean sah vom geschrumpften, verschrumpelten Leichnam zum Schlauch und zum zweckentfremdeten Dialysegerät und wieder zurück zum Gesicht des Mannes. Die blinden Augen starrten senkrecht nach oben, als flehten sie um Erlösung. McLean folgte dem Blick zur Decke, die weiße Farbe glänzte hell im Licht der Strahler. Direkt über ihm warfen die Schatten der Streben des Metalldachs ein dunkles Kreuz.