Julia

»Wir haben also …« Nate verstummt, als wir im grellen Tageslicht vor dem deprimierendsten Striplokal der Welt stehen. The Palace Veil. Mit massenhaft Neonlichtern und lautstarker Mucke von drinnen sieht er nachts bestimmt viel besser aus.

Meine Schläfen pochen wieder, aber das kommt nicht vom Kater. Es liegt an den Erinnerungen, die wieder wach werden, seit wir aus dem Wagen gestiegen sind. Noch kommt nicht alles zurück. Die Erinnerungen blitzen meist nur kurz auf, aber sie sind da. Wie ich auf der Bühne tanze und akrobatische Bewegungen vollführe, die ich seit meiner Zeit im Pep Squad nicht mehr versucht habe. Das erklärt auch, warum mir heute Morgen meine Beine so weh getan haben. Zum Glück hält mich Yoga gelenkig.

Danach ist da natürlich die Besenkammer. Und alles, was in der Besenkammer passiert ist. Ich könnte einen Witz darüber reißen, wie wir inmitten von Putzmitteln schmutzige Dinge getan haben, aber das hab ich momentan nicht in mir.

Hähä. In mir.

Oh Gott, was rede ich?

»Wir sind in die Besenkammer gegangen und …« Wieder verstummt Nate. Die Sache scheint ihm genauso peinlich zu sein wie mir, was wenigstens ein Lichtblick ist.

»Ihr wart meiner Tugend teilhaftig, mein Herr«, sage ich und weiche seinem Blick aus. Wenn ich nervös werde, verfalle ich sofort in Renaissance-Jahrmarkt-Sprache. Es fällt mir wohl leichter, mit der Realität klarzukommen, wenn ich mir vorstelle, ein Korsett zu tragen und genüsslich an einem Putenschlegel zu nagen.

Hähä. Putenschlegel.

Ich komme in die Hölle.

Nate gibt einen unverbindlichen Laut von sich. Ich sehe ihn verstohlen an. Er ist noch derselbe wie heute Morgen, erinnere ich mich, auch wenn wir jetzt wieder wissen, dass wir Sex hatten. Dasselbe markante Profil, dasselbe traumhafte, aber idiotische Haar, dieselben kritischen dunkelblauen Augen. Derselbe miese Charakter. Dieselben Beleidigungen. Leute zu beleidigen ist nicht sexy. Mir ist egal, was Lizzie/Darcy-Fans glauben; das sagt einem die Vernunft. Aber jetzt kribbelt mein Körper leicht, und mein Slip wird das allerkleinste bisschen feucht. Weil ich daran denke, wie es war, und es war echt heiß.

Nate sieht mich auch an, und vielleicht spinne ich, aber ich glaube, er denkt ebenfalls daran. Stellt es sich vor.

»Wir wissen also, dass wir hier waren. Wo sind wir als Nächstes hingegangen?«, fragt er mich und meidet sorgsam meinen Blick. Na schön. Ich verschränke die Arme.

»Bevor wir weiterforschen, brauche ich noch eins. Kannst du reingehen und nachsehen, ob, äh, meine Handtasche da drin ist? Ich kann sie immer noch nicht finden.« Genauso wenig wie mein Laptop, aber immer ein Problem nach dem anderen. »Da ist mein Ausweis drin, weshalb ich ein bisschen Panik schiebe.« Zudem erröte ich bis in die Haarspitzen, während ich mich daran erinnere, wie sein Mund schmeckt, und wie er so tief in mich gestoßen hat, dass ich vor Lust hätte ohnmächtig werden können. Handtasche, Julia. Denk an die Handtasche. »Außerdem, äh, bin ich zum Mittagessen verabredet. Und zwar jetzt gleich. Mittagessen. Sofort.«

»Ich werde versuchen, deine Handtasche aufzutreiben. Dann komme ich sofort zurück«, sagt er steif wie Robotman.

Toll. Natürlich ist es ihm peinlich. Wahrscheinlich schämt er sich wegen letzter Nacht. Ich meine, ich natürlich auch. Aber zumindest vermittele ich ihm nicht das Gefühl, eklig und krank zu sein.

Ach, fick dich doch. Ich meine, das hab ich zwar schon getan, aber trotzdem. Ich mach’s noch mal. Das sollte ich. Nein, nein, das sollte ich lieber nicht. Was passiert mit dir?

Mein David-Tennant-Zehnter-Doktor-Unterbewusstsein dreht sich, legt hektisch Hirnschalter um und führt sich auf wie ein Verrückter. Lass es nicht so weitermachen.

»Alles ok?«, fragt Nat besorgt. »Dein Blick ist plötzlich hin und her gehuscht.«

»Das passiert, wenn ich eine Identitätskrise habe«, sage ich achselzuckend. »Dann stelle ich mir gern vor, meine Identität wäre der zehnte Doktor, verstehst du?«

»Wie bitte?« Jetzt kriegt er wirklich Angst. Super.

»Doctor Who? David Tennant? BBC-Fernsehserie?« Okay, das hilft mir echt nicht bei meinen Beteuerungen, nicht verrückt zu sein. »Läuft auf Netflix. Schau’s dir mal an. Okay. Mittagessen.« Ich gestikuliere vage und hüpfe gleich wieder in den Wagen, um dem Fahrer zu sagen, dass er mich so schnell wie möglich zum Bellagio fahren soll, verbindlichsten Dank, drück auf die Tube.

Gottlob habe ich ein Uber-Kundenkonto, sonst könnte ich nicht bezahlen.

»Und wie soll ich später zurückkommen?«, fragt Nate, der dort in der heißen Sonne steht, während der Staub ihm um die Füße wirbelt und sein Hemd seine definierten Brust- und Bauchmuskeln betont, über die ich die Hände habe gleiten lassen, wie ich mich jetzt erinnere, und wow, war das gut …

Wenn David Tennant meine ungezügelte Seite verkörpert, dann ist der neunte Doktor, gespielt von Christopher Eccleston, die ruhige, rationale Seite von mir. Und momentan ist er aus den Untiefen von Zeit und Raum aufgetaucht, um mir zu sagen, dass ich mit dem Sabbern aufhören und mich zu meinem Termin begeben soll.

»Ich schick dir das Taxi zurück. Oder rufe jemanden an, damit er dich abholt. Tschau!« Ich winke und fahre die Fensterscheibe hoch, während wir losbrausen und ich den konkurrierenden britischen Time Lords dabei zuhöre, wie sie in meinem Kopf im Clinch liegen und um die Vorherrschaft kämpfen. Ich stelle sie mir bildlich vor, wie sie um die Konsolen meines Gehirns herumlaufen, Hebel umlegen und miteinander streiten.

»Du hättest ihn bitten sollen, sich nachher im Hotel bei dir zu melden«, sagt David Tennant, springt dabei auf und ab und sieht mit seinen High-Tops und dem braungestreiften Anzug anbetungswürdig aus. »Dann hättest du ihn in deinen Wagen zwingen und mit ihm umherfahren können, um heißen Sex mit ihm zu haben! Das mache ich mit all meinen Gefährtinnen. Tja, außer mit Martha. Und Donna.«

»Nein!«, greift der vernünftige Christopher Eccleston ein. »Du musst Distanz bewahren. Stell dir vor, die Daleks marschieren ein und du bist emotional kompromittiert! Und denk nur! Wer weiß, ob er ordnungsgemäß geimpft ist? Was hat du gemacht? Mit einem Leuchtkondom Sex mit ihm gehabt?«

Klappe, Doktor. Du bist doch gar kein Arzt, verdammt noch mal.

»Alles okay?«, fragt mich der Taxifahrer mit einem Blick in den Rückspiegel. Daran baumeln zwei flauschige rote Würfel, und auf dem Armaturenbrett rockt eine kleine Elvis-Wackelkopffigur. »Klingt, als würden Sie mit einem miesen britischen Akzent vor sich hin murmeln.«

»Ich hab nur Kopfschmerzen«, sage ich, sehe aus dem Fenster und frage mich, wie weit ich schon durchgedreht bin.

»Und hier ist sie, meine New York Times-Bestsellerautorin«, jauchzt Meredith, steht auf und umarmt mich. »Wie geht’s dir, Kleine? Immer noch verkatert? Mit o-beinigem Gang?« Sie zwinkert mir zu, als ich im Hotelrestaurant in die Nische rutsche.

Gott, ich werde schon wieder rot, dabei habe ich gerade erst damit aufgehört. Ich muss nur an Nates Mund auf meinem denken, an seine Hände, die an meinen Brüsten spielten, während er mich an die Wand gepresst hatte … Wer hätte geahnt, dass ein Anwalt, der kalt wie ein Fisch ist, so leidenschaftlich sein könnte? Das löst eine weitere innere Debatte aus.

»Sorry«, sage ich kopfschüttelnd. »David Tennant und Chris Eccleston streiten wieder.«

»Wann tun sie das nicht?«, fragt Meredith achselzuckend. Genau das liebe ich an ihr. Nichts ist ihr zu verrückt, um dabei nicht mitzuziehen. »Angela sollte etwa in zehn Minuten hier sein – Scheißlektorinnen, die verspäten sich immer bei so was. Wir preisen die Starwood Resort-Reihe an. Ich denke, auf der Grundlage des Erfolgs von Verbotenes Verlangen wird sie regelrecht sabbern. Sie geht zurück in den Verlag, sie werfen mit den Zahlen um sich, und peng. Ich denke, wir können einen Superdeal rausschlagen.«

»Einen Superdeal?« Verdammt, bei dem Gedanken verschlägt es mir fast die Sprache. Ich mache mit meinen Tantiemen gutes Geld, aber zum ersten Mal in meiner Karriere eine hohe sechsstellige Vorschusszahlung? Scheiße. Dafür kann ich mir viele Häkelnadeln kaufen.

»Apropos hohe Geldsummen, wie viel musstest du für deine Scheidung rausrücken?«, fragt Meredith und zieht eine Augenbraue hoch.

Toll. Super. Warum sollte ich glücklich sein? Mein ganzes Schwelgen in der Erinnerung an guten Sex löst sich in Luft auf.

Ich spiele an meiner Serviette herum, und Meredith räuspert sich. »Sorry, Kleine. Ich will nur wissen, wie viel von deiner hart verdienten Kohle Drew ergattern konnte.«

»Das macht es auch nicht besser«, sage ich mit ausdruckslosem Gesicht.

»Vielleicht nicht, aber ich würde den Deppen gern in die Eier treten.« Sie trinkt einen großen Schluck Chardonnay, während ich Eiswasser runterstürze. Ich bin dehydriert. So was von.

»Es geht so. Zweihunderttausend letzten Endes. Aber ein Pauschalbetrag, keine monatlichen Unterhaltszahlungen.«

Von all den beschissenen Erinnerungen an meine Scheidung ist die beschissenste wahrscheinlich, wie ich in einem Hochhaus in Milwaukee Drew gegenübersitze und ihn in seinem zu eng anliegenden Anzug mit einem zu eng anliegenden Kragen anstarre, während er einen Flunsch zieht und sein Anwalt erklärt, dass ich ihm weiter den Lebensstil ermöglichen muss, an den er sich gewöhnt hat. Wir hatten weder Kinder noch hohe Arztrechnungen. Er war jung, gesund und hatte Arbeit. Trotzdem konnte er nicht widerstehen, ein kleines Extra mitzunehmen. Ich will nicht zu morbide werden, aber dieses Bild verdirbt auch die Erinnerung an all unsere schönen, glücklichen Zeiten: der Abend, an dem er mir den Antrag gemacht hat, unsere Flitterwochen in Wisconsin Dells, unser Einzug in unsere erste Wohnung.

»Kleiner Tipp: Setz nächstes Mal einen Ehevertrag auf«, sagt Meredith, klappt ihre Speisekarte auf und wirft einen Blick hinein. »Okay. Du hast mich zwar davor gewarnt, in der Wüste Austern zu essen, aber ich glaube, ich hab Lust auf Meeresfrüchte.«

Ich dagegen habe dieses eine Wort noch nicht ganz verdaut.

»Ehevertrag?«, sage ich lachend. »Werde ich nicht brauchen. Ich glaube, ich werde zu einer gewieften casanovahaften Romanheldin. Mache die Riviera unsicher und schlafe mit einem Haufen heißer Typen mit zweifelhaften Akzenten. Eine geheimnisvolle Femme fatale.« Ich überfliege die Speisekarte und versuche, nicht an meinen Orgasmus von letzter Nacht zu denken. Ich muss betrunken gewesen sein. Okay, ich weiß, dass ich betrunken war, aber ich muss echt von Sinnen gewesen sein. Kein Sex kann so gut sein, schon gar nicht mit einem Fremden in einer Besenkammer, in der es nach Ammoniak stinkt. Schon gar nicht, wenn der Fremde zufällig auch noch Anwalt ist, der außerdem noch, Schock aller Schocks, zufällig ein gefühlloses Arschloch ist. Selbst David Tennant stimmt mir da zu.

Ich frage mich, ob das gefühllose Arschloch meine Handtasche gefunden hat. Ich frage mich, ob ich ihn suchen und es herausfinden sollte. Dann hätten wir noch eine Chance, miteinander zu reden.

Ich frage mich, warum mir die Idee so gut gefällt.