Ich kann nicht fassen, dass ich mit dem Blödmann geschlafen habe. Was stimmt nicht mit mir?
Okay, keine Panik, Julia.
Erschöpft nehme ich den Fahrstuhl runter in den zehnten Stock und eile zurück in mein Zimmer. Die Plastikschlüsselkarte fällt mir aus der Hand, dann noch mal, bis ich die Tür endlich aufkriege und nach drinnen stolpere. Dankbar dafür, dass zumindest die Vorhänge noch zugezogen sind, gehe ich ins Schlafzimmer. Der Raum liegt in diesem intimen Fast-Dämmerlicht. Shannas Bett ist noch vom Schlaf der Nacht zerwühlt, wohingegen meins unberührt ist, die Laken perfekt, die Kissen aufgeschüttelt, da ich es letzte Nacht nicht mehr zurück geschafft habe.
Oh Gott. Denk nach, Julia. Hast du wirklich das Unaussprechliche getan? Hast du mit dem schlimmsten Typen überhaupt geschlafen? Und wenn ja, kannst du dich erinnern, ob er gut war oder nicht?
Toll, Gehirn. Falscher Zeitpunkt.
Stöhnend knipse ich die Lichter an und haste ins Bad. Ich brauche eine Dusche. Das ist es. Eine schöne heiße Dusche wird die hämmernden Kopfschmerzen vertreiben. Ich blicke in den Spiegel über dem Waschbecken und ziehe eine Grimasse, als ich mein verschmiertes Augen-Makeup sehe. Dann, nur um sicherzugehen, ziehe ich meinen Rock runter, drehe mich um und peng. TARDIS-Tattoo, direkt über meinem Po. Meine Liebe zu Doctor Who hat mich doch noch vom rechten Weg abgebracht.
»Tja, Nummer zehn, noch so eine peinliche Lage, in die du uns gebracht hast«, knurre ich ungnädig.
Kleines Geständnis: Mir gefällt die Vorstellung, dass der zehnte Doktor so was wie die Verkörperung meiner wilden und verrückten Seite ist. Immerhin wird er von David Tennant dargestellt. Wie könnte er da nicht leichtsinnig sein?
Okay, ich muss mich auf was anderes konzentrieren als meinen imaginären Time Lord und meinen Kater. Ich schließe stöhnend die Augen. Daran ist nur der Alkohol schuld. So wahr Gott mein Zeuge ist, werde ich nie mehr Kurze kippen. Zumindest nicht in den nächsten achtundvierzig Stunden.
Ich drehe die Dusche voll auf. Das wird mir zwar mein Tattoo vermasseln – ich versuche, das quadratische Stück Plastikfolie darüber wieder glattzustreichen – aber scheiß drauf. Ich hab keine Zeit. Bevor ich in die Duschkabine steige, werfe ich noch einen Blick auf mein Spiegelbild. Ich brauche Zuspruch.
»Immer schön ruhig bleiben«, sage ich laut, und meine Stimme klingt in dem ansonsten stillen Hotelzimmer schrill. Ich atme tief durch. Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Es ist ja nicht so, als käme ich zu spät zu irgend –
Oh Scheiße. Ich stürze ins Schlafzimmer, um auf die Uhr auf dem Nachttisch zu sehen, und werde leicht panisch. Mist. Mein Diskussionsforum! Sex, Lügen und Superspione beginnt in einer halben Stunde!
»Verflixt und zugenäht«, murmele ich und renne zum Bett, um mir meinen Laptop zu schnappen. In dem Moment mache ich eine wunderbare, ekelerregende Entdeckung: Meine Handtasche und mein Laptop sind nicht da. Nirgends. Selbst als ich auf Hände und Knie gehe und unter den Betten, unter dem Tisch und in jeder einzelnen Kommodenschublade nachsehe, bleiben sie verschwunden. Ich drücke mein Gesicht in ein Kissen und stoße einen gedämpften Schrei aus.
Okay, Julia. Nicht durchdrehen. Nicht Amok laufen. Denk lieber nach. Und geh unter die Dusche, weil du nach Zigaretten und Schnapsideen stinkst.
Ich stürze zurück ins Bad, ziehe mich aus, reiße mir BH und Slip vom Leib und springe unter die Dusche. Ich seife mich so schnell ein wie ich kann. In zehn Minuten bin ich wieder draußen, abgetrocknet und angezogen. In drei weiteren Minuten schminke ich mich hastig.
Okay. Ich trete zurück und bewundere mich im Spiegel. Hübsch. Ich sehe hübsch aus. Es wirkt ein bisschen so, als hätte ich mit dem Joker rumgeknutscht und was von seinem Lippenstift abbekommen, doch momentan kann ich nicht viel dagegen tun.
»Nate Wexler. Du bist ein Scheusal«, knurre ich. Dann schnappe ich mir meinen Schlüssel und renne aus dem Zimmer. Verdammt, verdammt. Ich sollte mindestens zehn Minuten im Voraus bei meinem Diskussionsforum sein. Das wird ganz schön knapp.
Ich renne durch die mit Teppich ausgelegten Flure, nehme den Fahrstuhl und finde mich bald vor einem der Galeriezimmer wieder. Dort stehen Grüppchen von Frauen, die miteinander plaudern, während ich zur Bühne stolpere. Eine Frau mit einem Klemmbrett und angespannter Miene verdreht die Augen, als ich auf sie zuwanke.
»Entschuldigen Sie die Verspätung. Ich hatte einen, äh, Notfall«, sage ich und rücke meinen BH-Träger zurecht. Ich bin ein Profi, verdammt noch mal.
»Egal. Sie sind ja rechtzeitig da«, knurrt die Frau und dreht mir den Rücken zu.
Heute Morgen sind alle echte Schätzchen.
Mit presslufthammerartig schlagendem Herzen steige ich die Stufen zur Bühne hinauf und nehme auf dem für mich vorgesehenen Stuhl Platz. Mein neustes Buch, Verbotene Leidenschaft, steht auf einem Ständer direkt vor mir. Die Frauen an der Tür haben sich schon hingesetzt, während sich der Raum mit gut gelaunten und gespannten Zuschauerinnen füllt.
Ich atme tief durch. Sei selbstsicher und gelassen, Julia. Du schaffst das.
»Hallo.« Als ich mich umdrehe, sehe ich neben mir Shanna sitzen, die mit den Augenbrauen wackelt.
»Hallo.« Ich lächele, und sie lächelt zurück, ich lächele breiter, und sie lächelt breiter zurück, und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir bald damit aufhören müssen, weil es sonst mein Gesicht zerreißt. »Geht es dir gut? Warum guckst du mich an, als wolltest du mich mit Butter bestreichen und vernaschen?« Zugegeben, ich würde alles vernaschen, was mit Butter bestrichen ist. Sogar mich selbst.
»Ich bin nur stolz auf dich.« Sie legt den Arm um mich und küsst mich auf die Wange. »Gratuliere.« Sie kichert.
Moment. Shanna kichert sonst nie.
»Weißt du vielleicht, wo wir letzte Nacht waren?«, frage ich und greife nach ihrer Hand, worauf ihr überschwängliches Lächeln etwas nachlässt.
»Du meinst, du erinnerst dich nicht?« Ihre Augen werden groß.
»Das würde ich gern. Heilige Scheiße, mich zu erinnern wäre das Größte für mich«, sage ich. »Was habe ich getan?«
»Keine Ahnung«, sagt sie und wirkt jetzt erschrocken. »Ich dachte, nach dem Club –«
»Welcher Club?«, frage ich, aber wir müssen die Klappe halten. Die Moderatorin setzt sich an ihr Pult: Brenda Summersby, die Königin der revolutionären Spion-Liebesromane.
Wir machen eine kurze Vorstellungsrunde. Anwesend sind ich, Shanna, Jane Morningside (richtiger Name Cathy Grimsby) und ein paar Autorinnen, die nur E-Books rausgeben. Während der ganzen Zeit, in der wir lachend Geschichten über unsere Spionage-Recherchen austauschen, hämmert es in meinem Schädel.
Ich muss nur bis zum Ende der Diskussion durchhalten. Dann kann Shanna mir alles über die glorreichen Taten erzählen, die ich gestern Nacht vollbracht oder hoffentlich nicht vollbracht habe.
»Wir lassen jetzt Fragen aus dem Publikum zu«, sagt Brenda und eröffnet die Diskussion.
Eine Frau in den Dreißigern steht auf und fragt Shanna nach ihrer Babylon Corrino-Serie. Während sich Shanna über Hypatia Mercurado, die außerirdische Königin mit der traumatischen Vorgeschichte auslässt, fällt mir auf, dass ein Typ im Anzug reinkommt und sich an die Wand stellt. Er ist um die vierzig mit schütter werdendem Haar und einem schlaffen Bart. Keineswegs der typische Liebesroman-Leser, aber hey, immer schön zu wissen, dass man auch Menschen außerhalb der demografischen Zielgruppe ansprechen kann.
Doch das Nervenzermürbende ist …, dass er mich ansieht. Pausenlos. Selbst wenn jemand anders spricht.
Nee. Nein. Nö. Niemals! Dieser Tag war schon schlimm genug, dabei hat er gerade erst angefangen. Dass mir jemand nachstellt, der für Men in Black als untauglich erachtet wurde und mich noch paranoider macht als ich schon bin, kann ich nicht gebrauchen. Vielleicht steht der Typ nur auf meinen neusten Helden Jack Fathom mit seinen unanständigen BDSM-Helikopterflügen über den Puget Sound. Alles ist möglich, Mann.
Doch dann sehe ich, wie ein Typ in voller Sicherheitsdienst-Montur reinkommt und sich direkt neben Grauanzug stellt, und da weiß ich, dass ich angeschissen bin. Jetzt starren sie mich beide an.
»Julia? Hallo?«, sagt Brenda. Oh, Mist. Ich hab überhaupt nicht zugehört. Die nette Dame im Publikum sieht mich erwartungsvoll an.
»Verzeihung. Ich, äh, hatte gerade einen Blackout. Passiert mir manchmal. Las Vegas, Sie wissen schon«, sage ich. Ein Lachen geht durch die Zuschauerreihen, aber Grauanzug verzieht keine Miene. Oh, Kacke. »Es sei denn, ich bediene gerade Schwermaschinen! Dann bewegt sich mein Promillegehalt im rechtlichen Rahmen«, blaffe ich und sehe panisch zu Grauanzug.
Darüber lacht keiner. Genau genommen ist es voll peinlich. So wie mein Leben.
Als die Diskussionsrunde zu Ende ist, greife ich nach Shannas Hand. »Schleichst du dich mit mir raus?«, murmele ich ihr zu, ziehe den Kopf ein und weiche den Blicken der Bullen aus. Shanna, die nicht auf den Kopf gefallen ist, kneift argwöhnisch die Augen zusammen.
»Ist es wegen den Typen da? Julia, was geht hier ab?«, flüstert sie.
»Sag du es mir«, raune ich empört zurück. »Was hab ich letzte Nacht angestellt? Hab ich jemanden umgebracht?«
»Nein! Ich meine, ich glaube nicht«, sagt Shanna, deren Augen jetzt noch größer werden.
»Na, super.«
Vor uns räuspert sich ein Mann. Zusammenzuckend blicke ich auf, und tatsächlich, vor mir steht Grauanzug. Er hat sein Resthaar raffiniert über die kahlen Stellen gekämmt und einen Mund, der immer mürrisch verzogen ist.
Ich setze mich aufrecht hin und lächele ihn strahlend an. Lächeln. Immer schön lächeln. Auch wenn es wehtut.
Autsch, mein Kater.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, frage ich ihn und bemühe mich, nicht in Tränen auszubrechen und mich seiner Gnade anheimzugeben. Es gelingt mir. Mit Mühe und Not.
»Miss Stevens, ich gehöre zum Hotelmanagement. Kommen Sie bitte mit?«
Lieber Gott, sag mir nur, dass ich gestern Nacht keinen kleinen Kätzchen Schaden zugefügt habe. Oder einen Kran betätigt habe. Oder menschliche Organe auf dem Schwarzmarkt verkauft habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass alles gut wird, solange nichts davon passiert ist. Es sei denn, ich habe mit dem Kran einen Haufen kleiner Kätzchen hochgehoben, nachdem ich ihre Organe auf dem Schwarzmarkt vertickt habe, denn das wäre unverzeihlich. In dem Fall schmort man bis in alle Ewigkeit mit Hannibal Lecter hinter einer Plexiglaswand.
Worüber sprachen wir gerade? Ach ja, Hotelmanagement.
»Natürlich komme ich mit«, sage ich und stehe langsam auf. Sehen Sie, alles in Ordnung, Sir. Shanna sieht mich mit großen, erschrockenen Augen an, doch ich wische ihre Sorge mit einer Handbewegung weg.
Schließlich werden sie mich nicht einbuchten, Himmelherrgott!
Sie haben mich eingebuchtet. Ach du Scheiße. Sie haben mich verdammt noch mal eingebuchtet. Ruft meine Mutter an und sagt ihr, dass ich sie liebe! Ruft meinen Vater an und sagt ihm, dass ich ihm kein Geld mehr leihen kann! Ruft meine Großmutter an und sagt ihr, dass sie aufhören muss, am helllichten Tag zu trinken! Hier komme ich nie wieder raus.
Na schön, das Positive daran ist, dass ich nicht im städtischen Knast sitze, sondern in einem Reservezimmer des Hotels, das mit einem beigefarbenen Teppich mit beigefarbenen Wänden und einem beigefarbenen Futon ausgestattet ist. Wenn man in Las Vegas in Beige gesteckt wird, steckt man in ernsten Schwierigkeiten. Wenn nirgendwo Pailletten oder Strass zu sehen sind, heißt das, ich muss etwas Furchtbares angerichtet haben.
Okay. Ich atme dreimal tief durch und versuche, meine Zonenneutralität zu erreichen. Oder so. Ich weiß nicht! Okay, ruhig bleiben, Julia. Vielleicht können die dir helfen. Vielleicht können sie dabei helfen, die Puzzleteile des Schwachsinns zusammenzusetzen, den du letzte Nacht verzapft haben magst. Oder vielmehr den bizarren Scheiß, den deine David-Tennant-Persönlichkeit angestellt hat.
Bei näherem Nachdenken wäre es eine sehr schlechte Idee, jetzt über Doctor Who zu sprechen.
Die Tür öffnet sich, und Grauanzug – sein richtiger Name ist Todd, aber ich bleibe bei Grauanzug – kommt herein und setzt sich auf einen Stuhl mir gegenüber.
»Nun, Ms Stevens –«
»In den Knast gehe ich nicht«, platze ich heraus. »Dafür bin ich zu sensibel. Ich hab Orange is the New Black gesehen. Ich will keine Tampon-Sandwiches essen.«
Grauanzug blinzelt langsam. »Okay. Ich werde es berücksichtigen.«
»Hören Sie, was zum Teufel soll ich hier?«, schnauze ich ihn an. Toll, Julia. Werde gegenüber den Behörden schnippisch. Dann wird es laufen wie geschmiert. »Was ist passiert?«
Grauanzug seufzt. »Es geht darum, was Sie letzte Nacht getan haben, Ms Stevens.«