Als ich im Büro ankam, sah ich schon von außen, dass das Büro von Frau Senge beleuchtet war. Sie war also schon da. Mein Herz hüpfte direkt um 200% schneller und ich merkte, wie meine Hände feucht wurden. Reiß dich zusammen, Mara, du machst dich so furchtbar lächerlich, dachte ich und war kurz versucht, es laut zu sagen, konnte das jedoch zum Glück noch verhindern. In der dritten Etage angekommen begrüßte ich die bereits Anwesenden und ging zu meinem Schreibtisch. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Frau Senge am Schreibtisch saß und mich erblickt hatte. Ich wünschte einen guten Morgen und stellte mich bewusst mit dem Rücken zu ihr. Statt einer Antwort kam Frau Senge aus ihrem Büro und stellte sich neben mich. Ich drehte mich um und konnte direkt in ihre blauen Augen sehen. Meine Güte hatte sie wunderschöne Augen! Mein Magen fuhr wie ein wilder Aufzug hoch und runter und ich vergaß zu atmen. Zusätzlich wurde ich in eine Wolke aus ihrem Parfüm eingehüllt, die auch den Rest meines Gehirns ausschaltete.
„Guten Morgen Frau Stracke, Sie haben die Vertriebstagung wirklich wunderbar organisiert, ich habe nur Gutes von den Kollegen gehört. Vielen Dank dafür!“, sagte sie fröhlich. Leider konnte ich dem Inhalt ihres Gesagten nur halb folgen, da ich damit beschäftigt war, zu gucken, wie ihre wundervollen Lippen irgendwelche Wörter formten. Wie toll würden sich diese Lippen beim Küssen anfühlen? Ob sie gut küssen konnte? Bestimmt.
„Frau Stracke? Alles in Ordnung?“, fragte sie mit einer Mischung Unverständnis und Amüsement.
„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie bitte, ich habe am Wochenende wohl zu wenig Schlaf bekommen. Das mit der Vertriebstagung ist ja mein Job, dafür brauchen Sie mir nicht zu danken. Geht es Ihnen denn wieder besser?“, antwortete ich.
„Ich weiß nicht, was am Freitag los war. Ich hatte plötzlich hohes Fieber und lag bis gestern Abend nur im Bett. Jetzt geht es aber wieder. Danke nochmal für Ihre Nachricht!“
Hurra, sie war bis gestern Abend krank, also keinen Sex mit irgendwem, sondern Schnupfen. Was war ich bloß für eine fiese Kuh, wenn ich mich darüber freute, dass es ihr nicht gut ging. Und warum dachte ich an sowas, wenn ich mich besser auf das Gespräch mit ihr konzentrieren sollte?
„Gern geschehen. Wegen unseres Gesprächs gucke ich gleich mal in Ihren Kalender, ok?“
„Ja, machen Sie das. Sie wollen aber nicht kündigen, oder?“, Frau Senge sah meines Erachtens tatsächlich etwas besorgt aus.
„Nein, darum geht es nicht“, sagte ich schnell.
„Puhh, da bin ich nun aber doch sehr erleichtert“, antwortete sie und ging zurück in ihr Büro.
What the fuck sollte das denn jetzt bitte heißen? Hatte sie etwa Sorge, dass ich gehen wollte? Hatte sie etwa am Wochenende an mich gedacht? Nur beruflich oder vielleicht auch an mich? Oder gar nicht? Was für idiotische Fragen ich mir stellte!
Verwirrt setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schaute nach dem Hochfahren des Rechners direkt in ihren Terminkalender. Um 17.30 Uhr war ihr letzter Termin beendet, zwischendurch gab es leider keine freie Minute. Ich setzte einen Meetingtermin direkt nach ihrem letzten ein und verschickte die Anfrage.
Innerhalb von 30 Sekunden hatte ich die Zusage.
Der Arbeitstag verlief so, wie ein normaler Montag eben immer war. Eine Mischung aus Wochenendträgheit und der Energie der neuen Woche wechselte sich ab. Ich hatte eine Menge an Schreibarbeiten zu erledigen und sollte mich auch langsam daran machen, das Handbuch für die Neuerung des Abrechnungssystems zu schreiben. Für letzteres fehlte mir allerdings heute die Ruhe. Die ganze Zeit schwirrte mir der Termin mit Frau Senge im Kopf herum und die Frage, wie ich das Gespräch denn nun gestalten sollte. Ich war so hin und hergerissen. Einerseits freute ich mich schon fast auf das Gespräch, denn ich hatte Frau Senge in dieser Zeit für mich und konnte Klarheit erwarten. Auf der anderen Seite hatte ich pure Panik, eben weil ich mit ihr alleine war und Antworten bekäme. Solche, die mir vielleicht nicht gefallen würden. Dank der Arbeit und einiger Telefonate mit Kolleginnen und Kunden, ging die Zeit dann aber doch besser rum als erwartet. Kurz vor meinem Termin merkte ich, wie ich innerlich ganz verkrampfte und mir regelrecht übel wurde. Warum kommt der Blödmann nicht endlich aus ihrem Büro?, dachte ich und überlegte, ob ich heute damit beginnen sollte, meine Fingernägel abzubeißen. Das würde ich zwar nicht machen, aber heute konnte ich zum ersten Mal verstehen, warum Menschen es machten.
Plötzlich ging die Tür von Frau Senges Büro auf und Herr Vreden verließ lachend das Büro. Scheint ein gutes Gespräch gewesen zu sein. Sehr gut, dann würde sie den harten Tobak, der nun folgte, leichter schaffen.
„Frau Stracke, ich würde gerne noch schnell was essen, ich bin den ganzen Tag noch nicht dazu gekommen und nach dem Sport gibts auch nichts mehr. Sie dürfen sich aber gerne schon in mein Büro setzen!“, rief Frau Senge aus Ihrer Tür.
Wie bitte konnte sie jetzt an etwas zu essen denken? Bei der Vorstellung wurde mir nun so richtig schlecht. Ich werde wahrscheinlich nie wieder etwas essen können. Unfassbar!
Ich ging, wie Frau Senge vorgeschlagen hatte, schon in ihr Büro. Sie hatte das Deckenlicht ausgeschaltet und nur ihre Schreibtischlampe und die beiden Stehlampen an, die in gegenüberliegenden Ecken indirekt strahlten. Nun war es hier fast gemütlich. Sie saß öfters abends so im Büro und sagte, dass sie das Deckenlicht so grell finden würde. Ich konnte noch einen Hauch ihres wunderbaren Parfüms wahrnehmen, der durch die leichte Heizungswärme im ganzen Raum verteilt wurde. Was war das bloß für ein Parfüm? Ich dachte, ich würde mich damit auskennen, aber dieses hatte ich noch nie so gerochen. Ich stand an ihrem Fenster und atmete diesen wunderbaren Geruch ein. Wäre das nicht „das“ Gespräch gewesen, hätte ich hier auch gerne einfach einen Tee getrunken und ein Schwätzchen gehalten. Ich denke, reden könnte man richtig gut mit ihr. Sie ist so...
„Wenn Sie möchten, dürfen Sie gerne das Fenster öffnen. Ich merke, die Luft ist doch etwas verbraucht nach dem Meetingmarathon.“, hörte ich sie plötzlich hinter mir sagen.
Nun nicht wieder die Contenance verlieren, Mara!, dachte ich und drehte mich um.
„Nein, nicht nötig, ich finde es gerade angenehm warm hier.“, sagte ich schnell.
„Das ist gut, dann kommen Sie, wir setzen uns hier an den Besuchertisch. Was kann ich denn für Sie tun?“, fragte sie und sah mich direkt an.
Küssen wäre toll, dachte ich und musste direkt den Kopf schütteln, damit mein Gehirn wieder an die Leitung geht.
„Frau Senge, mir ist da etwas zu Ohren gekommen, das mich ziemlich...überrascht hat und ich würde gerne genauere Hintergründe dazu wissen.“, antwortete ich mit erstaunlich ruhiger Stimme.
„Na, da bin ich aber gespannt, was im Flurfunk so abgeht“, lachte Frau Senge. Humor schien sie jedenfalls zu haben.
„Als es darum ging, ob meine Stelle halbiert werden soll oder nicht haben Sie gesagt, zumindest sagen das die Kollegen, Sie würden kündigen, wenn ich nicht bleiben könnte. Ich frage mich die ganze Zeit, ob das stimmt und warum Sie das dann getan haben. Ich bin doch nur eine Assistentin und mein Aufgabengebiet ist nicht so kompliziert, als dass es nicht auch jemand anders übernehmen könnte.“, sagte ich vorsichtig.
Das Schmunzeln in Frau Senges Gesicht verschwand, während ich redete. Hoffentlich hatte ich mit dieser Frage nun keine Mine losgetreten.
„Erstaunlich, dass solche Informationen aus einem Termin mit der Geschäftsführung gelangen!“, antwortete Frau Senge nachdenklich. „Ich kann sehr gut verstehen, dass sich bei Ihnen bei solchen Kenntnissen Fragen ergeben. Um Ihre erste zu beantworten: Ja, ich habe der Geschäftsführung mitgeteilt, dass ich ebenfalls gehen werde, wenn Ihnen eine Reduzierung zugemutet würde. Das käme einer Kündigung bei Ihnen gleich und das ist nicht in Ordnung, nach all den Jahren, die Sie für das Unternehmen tätig sind. Außerdem stellen Sie Ihr Licht eindeutig zu stark unter den Scheffel! Die Art, wie Sie Ihren Job machen, könnte eben nicht jede beliebige Person so erledigen. Sie halten mir wahnsinnig den Rücken frei und wenn ich Sie in der Anfangszeit nicht gehabt hätte, wüsste ich heute noch nicht, wo ich was finde und wer wofür zuständig ist. Sie helfen mir, ich stehe dafür für Sie ein. Das verstehe ich darunter, Verantwortung zu übernehmen.“, sagte Frau Senge und ihr Blick ruhte auf meinem.
Ich musste erstmal ein wenig über das Gesagte nachdenken. So einfach war das also. Sie ist eben eine grandiose Chefin, die sich vor ihre Leute stellt und zur Not auch ihre eigene Karriere opfert. Wobei wohl eher nicht zu erwarten war, dass das Unternehmen, sie wirklich hätte gehen lassen, bei der minimalen Einsparmöglichkeit, die diese Stundenreduzierung bei mir ausgemacht hätte. Aber sie hatte für mich, ihre Mitarbeiterin, gepokert. Leider nicht für mich als Mara, aber was hatte ich erwartet? Sie hatte nie etwas anderes durchblicken lassen. Wie ich auf den Trichter kam, sie wäre an mir interessiert, konnte leider auch nur mein Gehirn verraten. Aber das schwieg dazu.
„Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz, das hätte wahrscheinlich kaum eine Vorgesetzte so gemacht. Prima, dann weiß ich jetzt Bescheid und mehr Fragen habe ich eigentlich auch nicht. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben!“, sagte ich wahnsinnig schnell und schob, ohne sie anzusehen, meinen Stuhl nach hinten.
Ihre Erklärung war toll für mich als Arbeitnehmerin und ich konnte mich glücklich schätzen, sie als meine Chefin zu haben. Und trotzdem hatte ich mir heimlich mehr erhofft. Wenigstens etwas mehr Persönliches und nicht nur auf meine Rolle als Assistentin bezogen. Aber im Grunde war das auch gut so. Alle Unsicherheiten und falschen Hoffnungen waren nun beendet, ich konnte mich wieder auf mein normales Leben konzentrieren und vielleicht sogar mal wieder richtig entspannen. Langsam ging ich über den weichen Teppich zur Tür von Frau Senges Büro und sagte im Rausgehen: „Machen Sie sich noch einen schönen Abend und viel Spaß beim Sport!“
„Ihnen auch einen schönen Abend, ich muss mich nun auch schon etwas beeilen.“, antwortete sie.
Jetzt hatte sie wegen mir auch noch in Kauf genommen, ihren Sporttermin zu verpassen. Das ist ja schon fast zu viel Nettigkeit für eine Mitarbeiterin, schwankte ich zwischen ehrlicher Anerkennung und Sarkasmus. Ich setzte mich nochmal an meinen Schreibtisch, um den Laptop herunterzufahren und meine Sachen zusammen zu packen. Im Grunde konnte ich doch heute einen relaxten Abend ohne Aufregung verbringen. Das bisschen Enttäuschung würde bald weg sein, hoffte ich.
Als ich gerade mit der rechten Hand meinen Fahrradrucksack unter dem Schreibtisch hervorholte, spürte ich plötzlich, dass jemand meine linke Hand, die ich auf dem Schreibtisch abgestützt hatte, berührte. Ich erschrak leicht, sah dann aber sofort hoch und blickte direkt in Frau Senges Augen. Sie hatte sich leicht zu mir heruntergebeugt und blickte mich mit ernstem, aber sanften Blick an.
„Mara, du bist mir wichtig, ich mag mir nicht vorstellen, hier ohne dich zu arbeiten! Wir sehen uns morgen, machs gut!“, sagte sie plötzlich und ging Richtung Ausgang.
Ich starrte sie an, als hätte sie vorgeschlagen, überfahrene Eichhörnchen zu essen. Was hatte sie da bitte gerade gesagt? Und dann noch per du? Ich verstand gar nichts mehr.
„Äh, danke“, quälte mein Mund irgendwie hervor, bevor ich weiter in Schockstarre fiel. Den ruhigen Abend konnte ich jetzt ja mal sowas von vergessen. Wie sollte ich denn das verstehen? Auch nach gefühlten 30 Minuten konnte ich immer noch keinen klaren Gedanken fassen oder endlich das Büro verlassen. Ich saß wie angewurzelt fest auf meinem Stuhl und verstand die Welt nicht mehr. Torben! Er musste jetzt herhalten, sonst würde ich hier nächste Woche noch sitzen. Ich nahm mein Handy aus der Tasche und schrieb, dass ich ihn dringend sprechen müsste. Er antwortete sofort und sagte, er hätte in einer Stunde Zeit, ich soll dann einfach anrufen.
Nun war meine Schocklethargie zumindest in soweit abgeklungen, dass ich meine Sachen packen und gehen konnte.
Nach genau 60 Minuten rief ich Torben an.
„Torben, du ahnst ja nicht, was passiert ist!“, plapperte ich direkt drauf los.
„Na dann, erzähl mal!“, antwortete er lachend.
Ich berichtete ihm genau, wie das Gespräch mit Frau Senge, oder sollte ich jetzt Patrizia sagen, abgelaufen war und wollte nun unbedingt seine Einschätzung dazu hören.
„Donnerwetter!“, sagte er. „So eine Chefin hätte ich auch gerne. Wer macht schon sowas für seine Angestellten? Aber ich glaube, dir gehts eher um Teil zwei, oder?“, ich hörte ihn lachen. Ich nickte, obwohl mir klar war, dass er das über das Telefon nicht sehen konnte.
„Ich denke, dass sie dich sehr gerne mag und vielleicht ist da auch mehr als mögen, aber das wirst du herausfinden müssen. Es soll ja tatsächlich auch Frauen geben, die einfach andere Frauen mögen, ohne ihnen direkt sexuell zu verfallen.“, lachte er schon wieder.
„Trottel, natürlich gibts das!“, entgegnete ich etwas mürrisch.
„Ich weiß, dass es das gibt, aber wie ich dich kenne, bist du doch schon wieder Feuer und Flamme für diese Frau. Sobald dich jemand auch nur nett findet, verliebst du dich in sie. Du hast eindeutig zu wenig Selbstbewusstsein! Mach dich mal locker und guck dir auch andere schöne Töchter an!“, sagte er noch.
Gerne hätte ich heftig widersprochen, aber ich wusste ja, dass er Recht hatte. Allerdings wollte ich das nun nicht so hören und beendete das Gespräch freundlich, aber doch direkt. Torben lachte und ich wusste, dass das für ihn in Ordnung war. Wir hatten schon immer eine etwas andere Art der Kommunikation, die mit niemandem sonst so möglich war.
Obwohl ich innerlich ziemlich aufgeregt war, merkte ich, dass ich langsam Hunger bekam und entschied mich für eine Backofenpizza. Schnell satt und ins Bett war die Devise für den heutigen Abend. An morgen mochte ich gar nicht denken. Wie sollte ich sie denn anreden? Einfach duzen? Sämtliche Personalpronomen weglassen, könnte schwierig werden. Und überhaupt, wie sollte ich auf sie reagieren?
Als ich mich ins Bett legte, hörte ich plötzlich mein Handy brummen, was eine eingegangene Nachricht ankündigte. Ich nahm das Handy in die Hand und dachte, dass ich nun ohnmächtig werde: „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr verschreckt mit meinen Worten. Schlaf gut, bis morgen P.“, konnte ich auf dem Display lesen. Ich fresse einen Besen, so würde ich doch nicht einschlafen können! Aber zumindest die Frage mit dem „Du“ stellte sich jetzt wohl nicht mehr.