Kapitel 10

Der nächste Morgen fühlte sich an, als hätte ich gestern einen Marathon absolviert. Mir tat mein ganzer Körper weh, ich hatte Kopfschmerzen und hätte am liebsten einfach wieder die Decke über den Kopf gezogen. Doch nun musste ich mich fertig machen, damit ich gleich pünktlich um 7 Uhr 30 am Rechner saß und mich einloggte. Bei den Überstunden nahm das Unternehmen es ja nicht so genau, allerdings sehr wohl bei der Pünktlichkeit zu Dienstbeginn.

Ich öffnete mein Email-Postfach und hatte bereits einige Nachrichten erhalten. Eine war von Patrizia, die ich zwar nicht öffnen wollte, dann aber doch sofort draufklickte:

„Ich weiß, dass das heute nicht einfach für dich ist, mit mir Kontakt zu haben. Ich verspreche dir, dass dieses die einzige private Nachricht sein wird. Bitte denk nochmal darüber nach, ob du mir nicht doch eine Chance für eine Erklärung geben möchtest. Ich bin jederzeit für dich erreichbar. Und auch, wenn es vielleicht unpassend ist: ich vermisse dich wahnsinnig doll! Patrizia“

Ach, nun war sie jederzeit für mich erreichbar? Sollte ich mich zu ihr und ihrem Mann zum Kaffee setzen und wir würden die Problematik dann gemeinsam erörtern? Und nein: Ihre Erklärung kann sie sich sonst wo hinstecken!

Ich war nun einerseits sehr erleichtert, überhaupt irgendwas von ihr zu lesen, denn auch ich vermisste sie wahnsinnig. Allerdings war ich auch deswegen froh, weil es die einzige Privatnachricht sein würde, so konnte ich die Woche über beruhigt und professionell arbeiten und hatte nicht immer die Sorge, sie würde mich bei jeder beruflichen Gelegenheit mit ihren Ausreden zumüllen. Auf der anderen Seite war ich auch enttäuscht, denn eigentlich wollte ich sie ja an meiner Seite. Ich war doch nur so hart, weil ich wusste, dass sie eben nicht zu mir gehörte und nie gehören würde, weil sie im Februar diesen Heiopei heiratete und nicht mich. Und dass sie mich so angelogen und mir echte Gefühle vorgespielt hatte, statt ehrlich zu sein. Das hätte ich nie von ihr gedacht. OK, dass sie auf Frauen stand auch nicht, wobei...war das wirklich so?

Mein Telefon klingelte und ich nahm ab. Es war Sina, die sich erstmal erkundigte, wie es mir ging.

„Ja, es geht so.“, sagte ich.

„Mara, ich bin ganz ehrlich, in der Firma wird gerade mächtig getuschelt über deine Flucht, nachdem du von der Senge-Hochzeit erfahren hast. Hattest du dir was von ihr erhofft?“

Oh, offensichtlich lag der Ball bei mir und es war über unsere Affäre noch nichts bekannt im Unternehmen. Kurz überlegte ich, ob ich ihr einfach alles berichtete, da dann innerhalb kürzester Zeit alle Bescheid wussten, dass es sich nicht nur um eine kleine Schwärmerei von mir handelte, sondern die gute Frau Senge da kräftig mitgemischt hatte. Aber dann fragte ich, wem das wirklich nutzte. Die Plappermäuler hatten eine Woche etwas zum Lästern und Patrizias Ruf wäre zerstört, dazu wohl auch ihre Beziehung. Mir ginge es dadurch aber keine Spur besser.

„Ja, ich denke, das hatte ich wohl. Ich hab mich da in etwas verrannt. Frau Senge hat mir nie Grund dazu gegeben, aber du weißt ja, wie das mit Gefühlen so ist.“

Das stimmte ja nun auch weitestgehend.

„Das hätte ich dir vorher sagen können, dass da nichts geht. Die Senge strahlt doch Heterosexualität schon von weitem aus.“

„Ja, wenn du meinst.“, Himmel, was wusste die denn schon? Langsam begann mich das Gespräch mich zu nerven.

„Naja und Frederik von Dom würde ich an ihrer Stelle auch nicht sausen lassen, da hat sie einen richtig fetten Fang gemacht.“

Meine Aufmerksamkeit nahm schlagartig zu. Der Name sagte mir etwas, aber ich wusste nicht, wo ich ihn hinstecken sollte, daher gab ich ihn im Internet ein.

„Frederik von Dom gewinnt Deutschen Marketingpreis“ stand dort als erstes. Ach, richtig, das war dieser gerade unglaublich angesagte Werbetyp, der seine Agentur hier vor kurzem eröffnet hatte. Scheiße, wie sollte ich denn auch mit dem mithalten? Sportlich, mächtig, finanzstark, zu meinem Leidwesen auch attraktiv...das ist doch einfach die größte Kacke ever! Einerseits erleichterte mich das Wissen, dass ich nie eine wirkliche Chance bei Patrizia gehabt hatte. Aber dann merkte ich, wie sich meine Gefühle änderten und ich so richtig die Schnauze voll hatte von dem, was sich mein Leben nannte. Ich hatte so keine Lust mehr auf irgendwelche Reste, ich wollte selber den fetten Braten haben.

Mit einem Ohr hörte ich Sina weiter zu, die gerade wieder irgendwelche Kindergeschichten erzählte, suchte aber währenddessen halbherzig nach möglichen Last Minute-Reisen über die Weihnachtstage. Aber dann würde meine Familie mir aufs Dach steigen. Ich schloss den Browser wieder. Während der Arbeitszeit war das auch keine ganz so gute Idee.

Sina bekam Besuch im Büro und musste das Gespräch beenden, nein, wie schade.

Der Arbeitstag verlief recht gut, da ich einiges zu tun hatte, aber sobald ich den PC herunterfuhr, überkam mich die Dunkelheit, als hätte man einen Mantel über mich geworfen. Das, was ich über die Arbeitszeit mitunter an guten Gefühlen getankt hatte, war nun wieder komplett ins Gegenteil verkehrt worden. Und das bescheuerte daran war, dass ich Patrizia davon so gerne erzählt hätte, sie hätte Verständnis für mich und würde mich trösten. Und dass genau das nicht ging, zog mich noch weiter herunter. Sie war meine Rettung in der Misere, die sie zu verantworten hatte. Was sollte mir dann jetzt noch helfen?

Die nächsten beiden Tag verliefen nicht anders. Über die Arbeitszeit war ich abgelenkt, danach war der Krater, in den ich stürzte wieder mehrere hundert Meter tiefer als vorher.

Am Donnerstag telefonierte ich mit Viola, da sie ihren letzten Arbeitstag vor dem Urlaub hatte und wir uns noch schöne Feiertage wünschen wollten.

Wir unterhielten uns gut und ich freute mich, dass ich mit ihr einfach ganz normal reden konnte, ohne dass sie Anspielungen auf dieses Weihnachtsfeierdesaster machte oder versuchte, mich auszuhorchen.

„Mara, ich möchte noch was loswerden.“, sagte sie plötzlich.

Super, dann ging es jetzt wohl doch los mit dem Verhör. Ich merkte direkt, wie sich meine Schultern anspannten.

„Ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden, natürlich habe auch ich von eurer Weihnachtsfeier gehört. Aber während sich alle ihr Maul über dich zerreißen, dass du dir wer weiß was bei Frau Senge eingebildet hast und einfach abgeblitzt bist, habe ich Augen im Kopf. Antworte mir bitte einfach nicht, aber ich höre, wie du bei diesem Essen reagiert hast und sehe seitdem eine Frau Senge im Büro, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Es ehrt dich sehr, dass du die Klappe hältst und das Debakel auf dich nimmst, aber ich glaube, dass nicht nur du daran beteiligt bist. Ich sage es dir jetzt einfach mal unter der Hand: Im Zweitwerk wird schon im Januar eine neue Stelle zu besetzen sein, die perfekt zu dir passt. Mehr Verantwortung und auch mehr Geld. Du würdest Projekte leiten und kreativ umsetzen. Was meinst du? Soll ich deinen Namen ins Spiel bringen?“

Ein neuer Job wäre meine Rettung. Ich konnte nicht mehr mit Patrizia zusammenarbeiten, selbst, wenn ich 300 Jahre Urlaub hätte. Der Gedanke, sie jeden Tag sehen zu müssen, ohne ihr nah sein zu dürfen und dann noch diese verkackte Hochzeit im Februar? Nein, dafür war ich nicht stark genug. Alleine die Vorstellung, dass ich sie mit diesem dämlichen Ring am Finger sehe, löste Schwindel und Brechreiz in mir aus. Und ich hatte zusätzlich keine Lust auf diesen blöden Flurfunk. Ich wollte meine Ruhe und die Idee, zu gehen, fühlte sich direkt richtig an.

„Viola, ich danke dir von Herzen, das ist die beste Idee, die ich seit Wochen gehört habe! Ja, bitte bring mich ins Spiel. Das wäre meine Rettung!“, sagte ich schnell.

„Gute Entscheidung, Herzchen, ich schreibe Björn noch vor meinem Urlaub!“

Das war der erste Lichtblick seit Tagen und ich hatte endlich wieder ein klein wenig Zuversicht, dass mein Leben nicht für immer dunkel bleiben würde.

Einen Tag musste ich nun noch schaffen, dann hatte ich erstmal Wochenende und dann dreieinhalb Wochen Urlaub. Was für normale Menschen eine tolle Sache war, bereitete mir ein wahnsinniges Unbehagen. Was sollte ich bloß mit der vielen freien Zeit anfangen? Die Arbeit war gerade mein Halt, dass ich überhaupt aufstand, wenn sie mich auch dauernd an Patrizia erinnerte. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich langsam in ein lebendes Paradoxon verwandelte. Ich wollte lieber arbeiten, weil es mich davon ablenkte an die Frau zu denken, die ich mit eben dieser Arbeit verband. Und dann möchte ich am liebsten genau diese Frau anrufen, um ihr mein Leid mitzuteilen. Gestern Abend habe ich allen Ernstes zehn Sekunden darüber nachgedacht, zum Glück hatte mein Gehirn da rechtzeitig wieder die Arbeit aufgenommen und ich legte das Handy schnell wieder weg, als hätte es mir einen Stromschlag verpasst. Nein, das wäre das Letzte, was passieren dürfte. Vor allem hatte ich Angst, dass sie mich mit schönen Worten und Küssen wieder so schnell um den Finger wickeln würde, wie sie es zuvor auch geschafft hatte. Ich war absolut nicht immun gegen sie, so gerne ich das auch gewesen wäre. Ein Fingerschnipp hätte womöglich schon gereicht. Daher war die einzige Möglichkeit, das zu umgehen und mich zu schützen, keinen Kontakt zu ihr zu haben.

Am nächsten Morgen wachte ich mit einem fetten Kummerkater auf. Ich hatte natürlich unbedingt noch die Flasche Wein öffnen und zur Gänze in mich hineinschütten müssen, ohne Sinn und Verstand. Heute war mir nun ziemlich übel und ich hatte einen dicken Kopf. Gestern fühlte sich das noch so durchdacht an. Nun gut, da musste ich jetzt durch. Wer feiern kann, kann auch arbeiten, hieß es in meiner Familie immer. Über die Definition von „feiern“ ließe sich jetzt streiten, aber für Kleinlichkeiten war mir einfach viel zu schlecht.

Natürlich war heute das letzte Abteilungsmeeting für dieses Jahr, an dem ich über eine Videokonferenz teilnehmen sollte. Die Außendienstmitarbeiter waren auch nur online dabei und bei meiner Position sollte sich eh niemand an meiner persönlichen Abwesenheit stören. Ich versuchte, mich im Bad etwas zu stylen, damit ich nicht wie der Tod auf Latschen aussah, aber gut gelang es mir nicht.

Zum Einloggen musste ich mich nun beeilen. Bis dahin hatte ich wunderbar verdrängt, dass ich Patrizia nun definitiv sehen würde. Das fiel mir erst wieder ein, als ich den Konferenzraum betrat und sie direkt groß auf meinem Bildschirm angezeigt wurde. Sie zu sehen schlug bei mir ein, wie eine Bombe und ich dachte, dass ich mich nun doch des Weines entledigen müsste, konnte dieses jedoch knapp verhindern. Mir zog sich mit solcher Wucht der Magen zusammen, dass ich dachte, er drückt mir die Luft weg. Der Blick in ihre Augen, die von Erschöpfung und Traurigkeit nur so gezeichnet waren, zerriss mir zudem fast das Herz. Viola hatte nicht übertrieben: Patrizia war nur noch ein Hauch von der Frau, in die ich mich so verliebt hatte. Auch sie war aufgrund meines Anblickes nahezu in Schockstarre verfallen und blickte mich erschrocken an.

„Guten Morgen“, sagte sie leise und mit brüchiger Stimme, „wie geht-“

Nun kamen die anderen Teilnehmer online und sie stoppte mitten im Satz. Ich hätte sowieso nicht antworten können.

Im Meeting wurde allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für ihr Engagement gedankt und noch ein paar Zahlen eingeworfen, die ich allerdings alle kannte, da ich die Präsentation selber erstellt hatte. So konnte ich die Zeit nutzen, Patrizia anzusehen und ihrer tollen Stimme zuzuhören. Sie hatte heute ziemliche Schwierigkeiten, zu präsentieren, was so gar nicht ihre Art war. Und ihre Stimme klang weiter sehr leise und brüchig.

Zum Ende wünschten sich alle einen schönen Urlaub und schöne Feiertage und verließen das Meeting. Ich sah Patrizia noch etwas an und klickte dann auch schnell auf „beenden“, damit ich ihr Gesicht loslassen konnte.

Plötzlich ploppte eine Mail auf, sie war von Patrizia: „Es tut mir so unendlich leid, dass ich dir so weh getan habe. Du siehst wahnsinnig schlecht aus, ich mache mir schreckliche Sorgen um dich. Auch, wenn du mir das womöglich nicht glauben wirst: Ich denke jede Sekunde an dich! Schöne Weihnachten mag ich dir nicht wünschen, wir werden beide keine haben. Aber ich hoffe von Herzen, dass du dich erholen kannst! Patrizia“

Ich gab es ungern zu, aber mein Herz machte einen kleinen Freudenhüpfer und ich hätte furchtbar gerne geantwortet, dass ich mir auch Sorgen um sie machte und gefragt, warum ihre Weihnachten nicht schön würden. Sie hatte doch alles. Aber ich ließ es und löschte die Mail. Es war doch alles gesagt.

Nun hatte ich allerdings immer noch nicht das Problem mit der überschüssigen Zeit gelöst und begann mir etwas Sorgen darum zu machen, weil ich mir der Gefahr, dass ich über drei Wochen nur im Bett liegen und Wein trinken würde, durchaus bewusst war. Ich überlegte, was ich Sinnvolles erledigen könnte, damit ich nicht nur Zeit totschlug, sondern wenigstens auch ein bisschen davon hatte. Es waren schließlich Tage, die ich nur einmal erleben würde und sie einfach komplett zu verranzen, das war mir sogar in meinem Zustand zu viel. Ich überlegte, dass ich unbedingt meine Wohnung entrümpeln sollte, vielleicht würde der Geist des Minimalismus dazu beitragen, dass ich mich zumindest in meiner Wohnung wohler fühlte. Außerdem war es überfällig, mich mal ernsthaft mit meinem Körper zu beschäftigen. Dass der überhaupt noch funktionierte, war im Grunde ein Wunder, bei dem Müll, dem ich ihm zumutete. Dazu gehörte permanent Fast Food, Alkohol, den ganzen Tag nichts essen, um am Abend dann eine Wagenrad große Pizza alleine zu verschlingen. Klug war anders. Und diese dauerhafte Grübelei machte es mir auch nicht gerade leichter. Ich musste lediglich an Heiligabend zu meiner Familie und hatte die anderen Tage Zeit, mich einem neuen Projekt zu widmen: Mir! Vielleicht wäre es auch sinnig, eine Online-Fortbildung zu belegen, zum Beispiel im Projektmanagement. So hätte ich im möglichen Vorstellungsgespräch noch etwas, das ich angeben konnte. Die Ideen sprudelten plötzlich nur so hervor, mit all dem, was ich immer schon machen wollte, aber nie getan hatte.

Nach Feierabend setzte ich mich an meinen Couchtisch und erstellte einen Plan, wie ich die Tage verbringen würde: Gesund kochen und essen, Sport, keinen Alkohol (Ausnahme Heiligabend), Kleiderschrank und Schuhe aussortieren, generell entrümpeln und aufräumen, eine Fortbildung heraussuchen. Nach letzterer wollte ich morgen als erstes recherchieren. Da gab es bestimmt das Richtige für mich, das ich mir leisten und das ich in den drei Wochen schaffen konnte.