Kapitel 12

Nach dem Aufeinandertreffen mit Patrizia war ich erstmal ganz schön durcheinander. Meine Gefühle fuhren mal wieder Achterbahn. Ich merkte, dass ich immer noch wahnsinnig viel für sie empfand und sie vermisste. Auch, dass sie so furchtbar elend ausgesehen hatte, nahm mich mit. Ich wünschte ihr wirklich alles Glück der Welt. Natürlich war mein Traum, dass sie dieses Glück mit mir fand und teilte, aber sie hatte sich anders entschieden und das musste ich akzeptieren. Aber wirklich niemand konnte mir die schönen Momente mit ihr nehmen. Diese Momente, die sie mit mir geteilt hatte und nicht mit ihrem Mann. Mich irritierte, warum sie so fertig war. Gab es nun Streit mit Frederik oder war das wegen mir? Wenn das so wäre, mussten ihre Gefühle für mich doch stärker sein, als wenn ich nur eine Affäre gewesen wäre. Aber ich konnte nicht in sie hinein gucken und dieses Gegrübel führte auch zu nichts. Ich konnte nur das Offensichtliche interpretieren und das war, dass sie beim Essen auf die Frage nach der Hochzeit deutlich genickt hatte. Daran gab es doch gar nichts zu leugnen.

Ich entschied mich, noch ein wenig für meine Weiterbildung zu machen und dann schon zu meinen Eltern zu fahren. Torben wollte auch heute schon kommen, damit wir am Samstag genug Zeit zum Kochen hatten, denn da war schon Heiligabend. Eigentlich hatte ich vor, erst kurz vor Kochbeginn da zu sein, um möglichen Fragen zu entgehen. Aber ich hatte nun gute Nachrichten bezüglich des neuen Jobs zu vermelden und wollte das gerne mit meiner Familie feiern.

Die Fortbildung gefiel mir extrem gut. Projektplanung war offenbar genau das, was ich gerne machte, insbesondere die Nutzung agiler Projektumsetzung fand ich extrem interessant. Sicherheitshalber schrieb ich noch in die Familiengruppe, dass ich heute schon kommen würde und hoffte heimlich, dass meine Mutter mein Bett schon vorbereitete. Das war etwas gemein, aber ich hatte so absolut keine Lust dazu. Meine Familie freute sich sehr über meine Nachricht und ich merkte, wie sich meine Stimmung das erste mal seit Wochen wieder im Bereich neutral einpendelte. Ich würde das hier überstehen. Zwar nicht unverletzt, aber irgendwann würde ich wieder heil sein und mich vielleicht sogar wieder verlieben können. Bei dem Gedanken daran, mich zu verlieben protestierte mein Herz kurz, aber ich beschloss, es zu ignorieren.

Ich packte am frühen Nachmittag meine Sachen ein, die ich mit zu meinen Eltern nehmen wollte und dachte auch an die Zutaten, die ich eingekauft hatte. Hoffentlich vergaß Torben seinen Teil nicht. Das hatte an Weihnachten vor zwei Jahren für ordentlich Trubel gesorgt, weil wir ein Weihnachtsessen mit Zutaten geplant hatten, die es auf dem Land gar nicht gab. So mussten wir etwas umdisponieren und hatten eine witzige Zusammenstellung aus deutscher Hausmannskost und indisch, was sich zwar als sehr lecker herausstellte, aber nicht das Ziel für dieses Jahr war.

Ich packte mein Auto, das ich tatsächlich auch schon betankt hatte, und überlegte, was ich die Fahrt über hören wollte. Ich entschied mich für „Swing Christmas“ und trällerte direkt mit. Etwas Kitsch muss einfach mal sein. Meine Stimmung während der Fahrt war prima, nur zwischendurch überkam mich der Gedanke, was Patrizia wohl gerade machte, was mir direkt wieder fiese Blitze ins Herz schoss. Ob sie für diesen Blödmann auch kochte? Konnte sie das überhaupt? Das wusste ich gar nicht. Es war auch nicht nett, diesem Frederik dauernd fiese Schimpfnamen zu geben. Ich kannte ihn ja nicht mal. Und er konnte im Grunde ja auch nichts dafür. Aber trotzdem fand ich ihn überflüssig und war wütend, dass er überhaupt existierte, genauer gesagt, in Patrizias Leben existierte. In Thailand hätte er wegen meiner gerne leben können, aber nicht hier. Und vor allem nicht MIT ihr!

Ich konzentrierte mich wieder auf die Musik und im Nu war ich bei meinen Eltern angekommen.

Meine Eltern begrüßten mich fröhlich, aber an der Art, wie sie mich ansahen, wusste ich erstens, dass sie informiert waren und zweitens, dass man mir die letzte Zeit auch noch ansah.

Meine Mutter streichelte mir mit ihrem Handrücken über die Wange.

„Wie gehts dir denn, mein Kind?“, fragte sie.

„Es wird langsam wieder.“, antwortete ich, „Torben hat euch ja berichtet. Es ist nicht leicht, aber ich werde es überleben.“

„Ja mein Schatz, Liebeskummer ist nichts für Weicheier!“, sagte mein Vater und drückte mich fest.

Bei so viel liebevoller Unterstützung wären mir beinahe schon wieder die Tränen gekommen. Daher sagte ich schnell: „Aber, es gibt auch gute Nachrichten: Ich habe einen neuen Job in der Führungsebene!“

Ich unterschlug, dass ich noch keine 100%ige Zusage hatte, aber nachdem Herr Paulsen mir sagte, es handele sich bei dem Gespräch mit der Geschäftsführung eher um eine Formalie, war ich mir des Jobs sehr sicher. Meine Mutter schlug die Hände vor den Mund und rief: „Endlich wirst du vernünftig! Demnächst bist du nicht mehr die Assistentin, sondern hast eine!“ Sie lachte und drückte mich herzlich, danach auch mein Vater.

„So Kind, und nun trinken wir eine Glas Sekt auf deine neue Arbeit!“, sagte sie auf dem Weg ins Haus.

Der Sekt war gerade geöffnet, als auch Torbens Auto auf den Hof fuhr.

„Hach, das ist ja perfekt!“, rief meine Mutter und füllte direkt vier Gläser. Wir begrüßten Torben und als wir alle unsere Gläser in der Hand hielten, sagte mein Vater: „Auf unsere Familie, die Liebe und das Lachen, Prost!“ Wir ließen die Gläser aneinanderstoßen und tranken einen Schluck. Das hatte unser Vater toll gesagt.

Meine Strategie mit dem Bett war voll aufgegangen, meine Mutter hatte sowohl meines als auch das von Torben bereits vorbereitet. Ich brachte meine Tasche hoch und legte mich kurz auf das Bett. Ich bemerkte, wie wohl ich mich in diesem Haus fühlte, auch, wenn ich hier nicht aufgewachsen war. Es verströmte eine Geborgenheit, wie ich sie sonst nirgends empfand. Nur in Patrizias Nähe, genauer gesagt, in ihrem Arm, hatte ich mich auch schon mal so gefühlt. Und da war sie auch schon wieder.

„Hey Schwesterchen, was hältst du von einer Runde Golf auf der Wii?“, mein Bruder stand lachend mit zwei Fernbedienungen in der Hand. Wie geil, unsere alten Golfmatches aufleben zu lassen, darauf hatte ich extrem Lust. Was für eine geniale Idee!

„Oh, wenn du dir vor Weihnachten noch eine fette Klatsche für dein Ego abholen möchtest, bitte!“, lachte ich.

„Das Risiko geh ich ein!“, antwortete er und verschwand im Wohnzimmer.

Während wir uns abmühten, mit möglichst wenig Schlägen einzuputten, bereiteten meine Eltern das Abendbrot zu.

Blöderweise konnten Torben und ich keinen Sieger ermitteln, weil es nach vier Runden zwei zu zwei stand und wir keine fünfte vor dem Abendbrot geschafft hätten. Wir beide ärgerten uns gespielt und schworen blutig Rache für den nächsten Tag.

Nach dem Abendbrot saßen wir noch zu viert im Wohnzimmer und unterhielten uns, aber wir alle waren bereits sehr müde und gingen nahezu zeitgleich ins Bett. Seit ewig langer Zeit konnte ich die Nacht über wieder mal richtig schlafen und lag nicht die Hälfte der Zeit grübelnd wach. Ich war so froh, dass ich mich entschieden hatte, schon einen Tag früher hierhin zu kommen.

 

Am nächsten Morgen wurde ich vom Duft frischer Croissants aus dem Backofen geweckt und ich freute mich diebisch auf den Tag mit meiner Familie. Das würde heute ein guter Tag werden und ich würde alles dafür tun, dass das auch für mich so war.

Ich hatte ordentlich Appetit und meine Mutter freute sich, dass ich endlich wieder beherzt beim Essen zugreifen mochte.

Nachdem wir nach dem Frühstück die Küche wieder aufgeräumt hatten, machten mein Bruder und ich uns ans Werk, das Abendessen vorzubereiten. Obwohl wir selten zusammen kochten, waren wir in der Küche ein eingespieltes Team. Torben hatte Lust, die Rouladen vorzubereiten, ich kümmerte mich um die Beilagen und den Pudding. Schon nach kurzer Zeit duftete es herrlich in der Küche. Mein Vater kam kurz herein, die Eltern hatten wir immer der Küche verwiesen, und fragte, ob wir das Abendbrot nicht schon zum Mittag essen könnten, der Geruch würde ihm einen furchtbaren Appetit bereiten. Mein Bruder warf ein Geschirrtuch nach ihm und rief: „Raus!“ Wir alle lachten.

Der Tag war davon geprägt, dass wir viel Zeit zusammen verbrachten, Kaffee tranken, uns unterhielten und uns gegen 16 Uhr unsere gute Kleidung anzogen. Meine Mutter sagte, sie könne vieles akzeptieren, aber keine Flodderklamotten an Heiligabend und daran hielten wir uns. Mein Vater trug dann sogar die verhasste Krawatte und mein Bruder einen Anzug. Den trug er im Job zwar häufig, aber da ich ihn dort nie sah, sondern immer nur privat, fand ich den Anblick jedes Jahr witzig. Als ob er konfirmiert würde, allerdings mit 36.

Wir hatten uns schon vor Jahren entschieden, dass wir uns keine Geschenke mehr machen und auch keinen Baum schmücken wollten. Trotzdem hatte meine Mutter das Wohnzimmer mit gefühlt hundert Kerzen geschmückt, was ein wunderbar gemütliches Licht ergab. Mein Bruder wollte -warum auch immer- in diesem Jahr unbedingt ein Weihnachtslied singen und da wir alle nur noch „Alle Jahre wieder“ so halbwegs vom Text kannten, trällerten wir eben dieses. Ich hatte während des Singens nahezu Erstickungsanfälle vor Lachen, weil mein Vater so bei der Sache war, dass ein Pavarotti von seinem Auftritt vor Neid erblasst wäre, allerdings traf er dabei keinen einzigen Ton. Mein Lachen wurde von meiner Mutter mit einer hochgezogenen Augenbraue bedacht, die mich zur Ruhe bringen sollte, was allerdings nicht wirklich half, sondern meine Lachen noch verstärkte.

Torben erging es ähnlich. Herrlich, wieder so ungezwungen und herzlich lachen zu können.

Das Essen schmeckte köstlich, Torben und ich wurden sehr für unsere Kochkünste gelobt und auch der Pudding wurde schnellstmöglich zur Gänze verspeist.

Wir saßen noch zusammen am Tisch, als mein Vater vorschlug, wir könnten uns doch nach draußen setzen und über der Feuerschale Glühwein warm machen.

Was für eine tolle Idee! Sofort zogen wir uns unsere warmen Sachen an und holten Holz aus dem Schuppen. Mein Vater entzündete das Feuer und meine Mutter übernahm daraufhin die Schichtung des Holzes. Für die Schale hatten meine Eltern ein Gestänge anfertigen lassen, an dem man einen Topf befestigen konnte. Dieser wurde nun mit Glühwein gefüllt und wir genossen das Feuer, bis der Glühwein warm genug für den Verzehr war.

Nach gut zwei Stunden wurde es meinen Eltern zu kalt und sie gingen ins Haus. Auch mein Bruder wollte kurze Zeit später wieder reingehen. Ich blieb noch kurz am Feuer sitzen und dachte an Patrizia. Ich hob mein Glas Richtung Himmel und sagte „Frohe Weihnachten, Patrizia, was immer du gerade auch machst, lass es dir gut gehen“. Ein kurzer Blick noch in den Winterhimmel und danach ging auch ich wieder ins Haus.

 

Wir leerten zusammen noch einige Flaschen Wein, sangen zusammen furchtbar schiefe Schlager und lachten über gemeinsame frühere Erlebnisse. Als ich abends selig angetrunken in mein Bett ging, fühlte ich mich erstaunlich leicht und fröhlich. Dieser Abend hatte mir so gut getan und mich darin bestärkt, dass das Leben weiterging und ich wieder auf die Füße kommen würde.

Ich legte mich hin und schaute aus dem Fenster in den Sternenhimmel. Die Nacht war so klar, dass man die Milchstraße gut erkennen konnte. Ich fand, dass die Sterne immer etwas Mystisches hatten. Sie waren da und doch so weit weg. Und was für Geschichten ihnen zugeschrieben wurden. Astrologie war ja nur ein Bereich, der die Sterne als Grundlage nutzte. Natürlich glaubte ich nicht an Horoskope, aber las sie doch jedes Mal. Was Patrizia wohl gerade machte? Wie kam ich denn jetzt von Astrologie wieder zu diesem Thema? Wahrscheinlich schlief sie. Vielleicht sollte ich ihr doch schreiben. Ist doch Weihnachten. Nein, das würde ich auf keinen Fall machen, ich renne ihr nicht hinterher.

Drei Minuten später drückte ich auf „Senden“: „Hallo Patrizia, ich bin furchtbar betrunken und denke an dich. Hoffentlich hast du schöne Weihnachten, auch wenn ich finde, dass du mit mir hättest feiern müssen!“

Nach dem Senden fiel ich in einen komatösen Schlaf und wurde erst am nächsten Morgen, es war schon eher später Vormittag, mit einem feinen Kater wach. Ich ging zuerst ins Bad, um mich zumindest etwas herzurichten und danach in die Küche, in der schon der Rest der Stracke-Bande versammelt war. Die anderen drei sahen ähnlich derangiert aus wie ich, was mich etwas erleichterte.

Ich goss mir einen Kaffee ein und setzte mich auf die Eckbank. An Essen war gerade überhaupt nicht zu denken, den anderen erging es offenbar auch so, ich konnte keine Teller sehen.

„Artet das in anderen Familien auch immer so aus oder ist das nur bei uns so?“, fragte mein Vater und rieb sich die Stirn.

„Also in der Ausprägung habe ich das noch nirgendwo erlebt!“, sagte mein Bruder und versuchte ein Lächeln, das sich aber schnell wieder in den eingefrorenen Gesichtsausdruck von vorher verwandelte.

Wir saßen noch eine Weile zusammen und sowohl Torben als auch ich entschieden, dass wir diesen Tag doch noch bei unseren Eltern bleiben würden. Mit dem Restalkohol war mit einer Rückfahrt vor morgen gar nicht zu denken. Und die Vorstellung, mich jetzt aufs Fahren konzentrieren zu müssen, sorgte bei mir aktuell für wenig Begeisterung, wenn ich auch gerne alleine auf meinem Sofa gelitten hätte. Einen Kater teilte ich nicht gerne.

Nach dem Frühstückskaffee überlegte ich, dass ich mich einfach noch mal hinlegen wollte. Ich hatte nichts zu tun und konnte den Tag über einfach vertrödeln. Das war ganz in meinem Sinne.

Ich nahm nichtsahnend mein Handy in die Hand, als mich fast der Schlag traf: Was hatte ich selten dämliche Kuh denn letzte Nacht bloß gemacht? Warum hab ich Vollpfosten denn bitte eine solche Nachricht an Patrizia geschrieben? Ich legte das Handy beiseite und legte mein Gesicht in meine Hände. Unfassbar, so blöd konnte ich doch gar nicht sein!

Natürlich blieb meine Nachricht nicht unbeantwortet, sie hatte sogar nur fünf Minuten später direkt geschrieben, als hätte sie auf meine Worte gewartet.

„Hallo Mara, du bist sehr süß, wenn du betrunken bist. Danke für deine Nachricht, sie hat mich zum richtigen Zeitpunkt erreicht. Ich gebe dir absolut Recht: Ich hätte mit dir feiern müssen! Darf ich dich vielleicht heute Abend anrufen? Ich denke auch an dich! Patrizia“

Oh nein, oh nein, oh nein, was hatte ich denn da wieder angerichtet? Ich wollte Patrizia mit Sicherheit nicht dazu ermutigen, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich war so froh, dass ich mich wieder so weit berappelt hatte, dass ich nicht den ganzen Tag heulte. Und die Vorstellung, sie zu hören, war das Gegenteil dessen, was ich wollte. Natürlich wollte ich sie gerne hören, aber nicht in dieser Konstellation. Wenn sie mir sagen würde, dass sie den Typen zum Mond geschossen hätte, dann käme ich definitiv erneut ins Grübeln, auch wenn da noch dieser Vertrauensbruch im Raum war. Aber da es zu dieser Situation nicht käme, musste ich mir auch keine Gedanken darüber machen.

Ja nun, ich hatte mich jetzt aber in dieses Dilemma gebracht, also musste ich mich auch wieder da herausbringen:

„Hallo Patrizia, vielen Dank für deine Antwort. Unter anderen Bedingungen würde ich nichts lieber tun, als mit dir zu telefonieren. Ich habe aber gerade erst wieder ein bisschen festen Untergrund unter mir und möchte das nicht riskieren, indem ich deine Stimme höre. Tut mir leid, vielleicht später.“

Prompt kam eine Antwort: „Das verstehe ich, auch wenn es weh tut. Pass gut auf dich auf!“

Puhh, was für eine blöde Kacksituation. Nichts würde ich lieber tun, als sie an mich heranzulassen, aber dann konnte ich direkt einen Platz auf dem Friedhof mit dazu buchen. Gut, der Friedhof war vielleicht etwas übertrieben, aber die Richtung stimmte durchaus.

Es nutzte allerdings nichts, ich musste jetzt noch eine Runde schlafen. Ich war so müde, als hätte ich Hanteln auf den Augen.

Nach weiteren drei Stunden Schlaf ging es mir wieder richtig gut und ich hatte einen kräftigen Hunger. Am ersten Weihnachtstag gab es bei uns traditionell nur Hühnersuppe, da Heiligabend bei uns immer fröhlich endete und spätestens am nächsten Mittag unsere Körper nach Kräftigung verlangten. Ich ging die Treppe nach unten und hörte schon, dass auch bei den anderen die Lebensgeister zurückgekehrt waren. Die Stimmung in der Küche hatte bereits wieder ihren Höhepunkt erreicht, denn mein Bruder war gerade dabei die furchtbare Nachbarin aus dem Haus von früher nachzumachen. Das tat er dermaßen gekonnt und mit einem Geschirrtuch auf dem Kopf, dass wir alle in Lachhysterie verfielen. Erst nach einigen Litern Lachtränen und tiefen Atemzügen konnten wir uns darauf konzentrieren, die Suppe zu essen. Sie war köstlich und ich merkte, wie gut sie mir tat.

Nach dem Essen entschied ich mich, etwas durch den Ort zu spazieren. Leider konnte ich weder meine Eltern noch meinen Bruder dazu überreden, mich zu begleiten. Aber Bange machen gilt nicht: Dann ging ich eben alleine. Ich schnürte meine Schuhe und machte mich auf den Weg. Es wurde schon langsam wieder dämmerig, daher waren in den Häusern bereits sämtliche Lichter angezündet. Ich fand, dass an Weihnachten draußen eine besondere Stimmung war. Drinnen war alles gemütlich, die Familien saßen zusammen, aßen und tranken und ich sah das Ganze nun von außen. Eine Mischung aus Sehnsucht, dabei sein zu dürfen und dem guten Gefühl von Distanz machte sich in mir breit. Ich genoss die Stille und die kalte Luft. In einigen Häusern hatten sie tatsächlich noch richtige Weihnachtskerzen am Baum, in anderen nur Plastikbäume. Jeder, wie es ihm oder ihr gefiel.

Nach gut einer Stunde Marsch, kam ich gut durchgefroren wieder bei meinen Eltern an. Und was machte man, wenn man die Nacht durchgezecht hatte und einem kalt war? Man trank erstmal Glühwein. Sofort hatte ich die Lampen wieder an. Aber dieses Mal gab ich sicherheitshalber Torben mein Handy, damit ich nicht nochmal auf die Idee kam, Patrizia zu schreiben. Er blickte mich nur an und sagte kopfschüttelnd: „Nicht dein Ernst oder?“

Ich zuckte nur mit den Schultern und versuchte, möglichst unschuldig auszusehen.

„Hat es sich wenigstens gelohnt?“, fragte er.

„Weiß nicht, sie will telefonieren.“

„Oh ha und nun?“

Ich zuckte wieder mit den Schultern.

„Könnte uns vielleicht mal jemand aufklären, worum es geht? Ich verstehe nur Bahnhof!“, grätschte meine Mutter plötzlich dazwischen.

Ich berichtete die komplette Geschichte und meine Eltern hörten aufmerksam zu. Wie viel Torben ihnen schon erzählt hatte, wusste ich nicht. Wenn sie es schon kannten, ließen sie es sich zumindest nicht anmerken.

„Was willst du denn jetzt machen? Anrufen oder nicht?“, fragte mein Vater.

„Nicht anrufen. Sie hat sich für ihren Mann entschieden, da gibt es doch nichts zu diskutieren.“

„Hat sie sich denn wirklich für ihn entschieden?“, fragte Torben, „Ich meine, so direkt gesagt hat sie das nicht, oder? Vielleicht war sie sich unsicher und brauchte Zeit, bis sie es sich eingestehen konnte. Warst du ihre erste?“

„Ich weiß nicht, ob ich ihre erste Frau war, aber -ohne ins Detail zu gehen-: Sie war doch sehr bewandert, in dem was sie tat.“, sagte ich und sah wie mein Bruder breit grinste und meine Eltern wie abgesprochen einen Schluck tranken und sich mit gespielt großen Augen ansahen.

„Wie sagt ihr immer: Too much information! Ich tendiere dazu, mir die Ohren zuzuhalten!“, sagte mein Vater lachend. Meine Familie war gewiss nicht prüde, auch meine Homosexualität wurde ohne zu zucken akzeptiert, aber es gab Dinge, die jeder für sich behielt und das war auch gut so.

„Hey, ihr habt gefragt, nun lebt mit der Antwort!“, lachte ich.

Mein Bruder hatte Recht, ich wusste nicht wirklich, ob Patrizia sich für Frederik entschieden hatte. Allerdings hatte sie eben auch nichts gesagt oder gezeigt, was auf etwas anderes hindeutete. Wobei ich ihr natürlich auch nicht die Möglichkeit gegeben hatte, mir ihre Sicht zu erklären.

Nein, der Gedanke löste in mir direkt wieder einen Funken Hoffnung aus, dass sie sich -ohne, dass ich es mitbekommen hatte- für mich entschieden hatte und nur darauf wartete, mir das mitzuteilen. Es gab aber keine Hoffnung und es tat mir nicht gut, mir solche Gedanken zu machen. Das endete nur wieder da, wo ich vor ein paar Tagen noch war. Und da wollte ich nicht wieder hin.

Ich erklärte meiner Familie, warum ich entschieden hatte, Patrizia nicht anzurufen und wurde von allen darin bestärkt, auf mein Bauchgefühl zu hören.

Wir verbrachten noch einen wunderbaren Abend zusammen und ich ging dieses Mal recht früh ins Bett.

Nach dem Frühstück packten Torben und ich unsere Sachen in die Autos und machten uns nach einer ewig dauernden Verabschiedungszeremonie auf den Weg in unsere Wohnungen. Die Zeit mit meiner Familie war toll, aber nun freute ich mich darauf, wieder alleine sein zu dürfen. Ich war wahnsinnig dankbar dafür, eine solche Familie zu haben und glaubte, dass uns dieses Weihnachten nochmal eine Spur enger zusammengeschweißt hat.

Die nächsten Tage verbrachte ich mit ausschlafen, Sport und meiner Fortbildung, die ich schon fast zur Hälfte bearbeitet hatte. Ich plante, am Ende meines Urlaubes damit fertig zu sein und die Prüfung zu absolvieren. Etwas aufgeregt war ich natürlich schon, weil ich ja nicht wusste, wie so eine Prüfung aussah, aber zur Not konnte ich sie noch zwei Mal wiederholen, das sollte reichen.