An Silvester hatte ich mir ganz bewusst nichts vorgenommen. Ich hatte zwar ein paar Anfragen erhalten, ob ich nicht zum Feiern vorbeikommen wollte, aber ich hatte absolut keine Lust auf große Menschenmengen und Small Talk. Lieber in Ruhe zu Hause bleiben und wenn ich den Jahreswechsel verschlief, wäre das auch nicht schlimm gewesen.
Ich hatte mir zum Abendbrot eine Käse- und Schinkenplatte gemacht und genoss diese und einen tollen Rotwein auf dem Sofa. So konnte es eigentlich weitergehen, dachte ich. Vielleicht zusätzlich mit einer tollen Frau im Arm, aber so war es erstmal ok. Ich nickte natürlich auf dem Sofa ein, wachte jedoch passend um 23:47 Uhr auf. Wenn ich schon wach bin, kann ich auch nach draußen gehen, dachte ich und zog mir Schuhe und meine warme Jacke an. Ich schaltete, wie es Familientradition war, den Fernseher ein, um mit der ZDF-Uhr ins neue Jahr zu starten.
„3, 2, 1, frohes neues Jahr!!!“, brüllten die Moderatoren und ich hob mein Glas.
Möge das neue Jahr für mich und meine Lieben nur gute Überraschungen bereithalten, dachte ich und ging nach unten auf die Straße. Ich erkannte einige Nachbarn und wünschte allen ein frohes neues Jahr. Auch die Familienanrufe erledigte ich als brave Tochter direkt. Torben würde ich die Tage anrufen, der war mit seinen Jungs los und da war ein Erreichen schwierig.
Nach 20 Minuten wurde mir allerdings recht kalt und durch den leichten Nebel waren die Lichter der Raketen eh nicht gut zu sehen. Daher entschied ich mich, wieder in meine Wohnung und direkt ins Bett zu gehen.
Als ich gerade kurz vor meiner Haustür war, zeigte mein Handy eine Nachricht von Patrizia: „Ich wünsche dir von Herzen ein schönes neues Jahr und dass deine Wünsche in Erfüllung gehen“
Mein Wunsch bist du, dachte ich und seufzte. Ohne groß nachzudenken schob ich bei ihrem Namen nach rechts und der Anruf baute sich auf. Direkt beim dritten Klingeln war sie am Telefon.
„Mara? Bist du das?“, fragte sie. Ich hörte in ihrem Hintergrund keine Musik oder Partygeräusche. Es war vollkommen still. Dass ich nichts hörte, konnte allerdings auch daran liegen, dass mich ihre Stimme direkt wieder in den Bann zog. Ich schloss die Augen und genoss die leicht raue Stimmlage inklusive der Bilder, die direkt wieder hochkamen.
„Ja, ich bin es. Ich wollte dir nur auch schnell ein schönes neues Jahr wünschen.“, sagte ich schnell.
Am anderen Ende war es still. Ich hörte nur, wie sie atmete. Irgendetwas klang seltsam daran.
„Ist alles ok bei dir?“, fragte ich deshalb.
„Ja“, kam es langsam zurück, „Ich bin nur gerade total überfordert, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du anrufen würdest.“
„Oh, wollen wir lieber auflegen? Ich wollte dich nicht überfordern!“
„Nein, um Gottes Willen, ich bin so froh, dich zu hören. Ich musste mich nur kurz sortieren.“, ihre Stimme klang nun wieder etwas fester.
Nun war ich aber leider mit meinem Latein am Ende. Was sollte ich denn jetzt noch sagen? Sowas wie: Schöne Feiertage mit deinem Mann verbracht? Das ging doch gar nicht!
„Ich vermisse dich!“, sagte sie plötzlich. Nein, das entwickelte sich hier in eine völlig falsche Richtung. Ich wollte nur ein komplett oberflächliches Gespräch mit ihr führen und nicht sowas.
„Patrizia, es tut mir leid, aber es war ein Fehler, dich anzurufen. Ich möchte nicht von dir vermisst werden. Also schon, aber nicht so. Ich denke, ich lege jetzt auf.“, sagte ich daher zu ihr.
„Es tut mir leid.“, sagte sie nur ganz leise, „Darf ich dich noch eine Sache fragen?“
Was kam denn da jetzt? Wollte ich das?
„Ja.“, sagte ich sehr vorsichtig und zögernd.
„Du hast nach dieser furchtbaren Weihnachtsfeier gesagt, du hättest dich in mich verliebt. Meintest du das ernst?“
Was war das denn bitte für eine Frage? Hatte sie das etwa nicht bemerkt, oder was? Oder meint sie, ich hätte das einfach nur gesagt, weil gerade Freitag war und ich nichts Besseres zu sagen gewusst hätte?
„Ja, das meine ich ernst.“, sagte ich mit ruhiger und fester Stimme. Genau so war es und ich konnte mit vollem Herzen hinter dieser Aussage stehen, „Aber um ehrlich zu sein trifft es der Begriff „Verliebt sein“ nicht so richtig.“
„Nein?“, ihre Stimme bekam plötzlich eine seltsame Höhe.
„Nein, weil ich nicht nur verliebt in dich war, sondern das erste Mal das Gefühl hatte, angekommen zu sein. Es fühlte sich für mich so an, als wärest du sie: Die richtige Frau für mich.“
Ich hörte, dass sie plötzlich sehr tief atmete und wusste, dass sie weinte.
„Oh mein Gott...es tut mir so wahnsinnig leid, dass...“, sagte sie mit Tränen in der Stimme, aber ich unterbrach sie direkt.
„Ich weiß, dass es dir leid tut. Aber das ändert nichts. Lass uns gucken, ob wir einen normalen Kontakt hinbekommen, aber nun lege ich erstmal auf, ok?“
Ich hatte absolut keine Lust auf irgendwelche halbseidenen Erklärungsversuche, die darin mündeten, dass sie zu Hause mit ihrem Mann saß. Mag sein, dass sie traurig war, aber ich musste nun gucken, wo ich blieb. Sie hätte es ja anders haben können.
„Ja, natürlich. Entschuldige bitte!“, sagte sie darauf.
„Entschuldige dich nicht dauernd! Mach dir noch einen schönen Abend!“, ich sagte extra „dir“ und nicht „euch“, diesen Blödmann würde ich nicht auch noch erwähnen.
„OK, du dir bitte auch. Machs gut.“
Meine Güte, was war denn mit ihr plötzlich los? Sie hatte vor, in ein paar Tagen zu heiraten und macht jetzt wegen einer Affäre so einen Aufriss? Die Frauen werden auch immer seltsamer, je älter ich werde.
Das Gespräch mit Patrizia beschäftigte mich noch eine ganze Weile, auch die Worte von Torben geisterten immer wieder in meinem Kopf herum. Hatte sie sich wirklich entschieden oder hatte ich vielmehr die Entscheidung getroffen?
Und warum zur Hölle sagte sie, meine Nachricht wäre zum richtigen Zeitpunkt angekommen und warum fragte sie nach meinen Gefühlen? Späte Reue oder nur Interesse? Fragen über Fragen. Normalerweise hätte ich nun wieder Stunden mit grübeln verbracht, aber ich wollte übermorgen die Prüfung der Fortbildung machen, von daher hatte ich nicht so wahnsinnig viel Zeit, sondern las und lernte. Außerdem verbrachte ich jeden Tag mit Sport, kochte und entspannte trotz anstehender Prüfung jeden Tag ein wenig mehr. Ich hatte vor, mich nach der Prüfung am Freitag in der Stadt mit einem neuen Outfit zu belohnen, zumal ich nun auch die feste Zusage von der Personalabteilung erhalten und die Stelle tatsächlich bekommen hatte. Ich hatte durch den Liebeskummer und die zusätzlichen Sporteinheiten einiges an Gewicht verloren, so dass neue Anziehsachen sinnig waren und fühlte mich körperlich so gut, dass ich sogar plante, bald wieder zu laufen, statt nur zu walken. Meine Runden absolvierte ich bereits wesentlich schneller und ich merkte, dass ich langsam bereit war, den nächsten Schritt zu machen.
Den Donnerstag lernte ich noch wie eine Wilde und ging früh ins Bett, damit ich fit für den nächsten Tag war. Ich hätte die Prüfung auch schon am Donnerstag oder nachts machen können, aber ich hatte mir nun mal den Freitag um 11 Uhr vorgenommen und das wollte ich auch jetzt so machen. Ich erinnerte mich an eine Aussage eines Coaches, der sagte, dass man sein Selbstvertrauen dadurch stärken konnte, dass man tat, was man sich vornahm. Das führte dazu, dass man sich glaubte und vertraute, weil das Gesagte auch durchgeführt wurde. Ob das wirklich stimmte, wusste ich nicht. Aber es fühlte sich toll an, wieder disziplinierter zu sein. Die Fortbildung war im Grunde für 12 Wochen ausgelegt, ich absolvierte sie in drei und hatte nicht das Gefühl, dass ich zu wenig davon behielt, weil ich zu schnell war. Im Gegenteil. Durch die tägliche Beschäftigung mit dem Thema hatte ich den Eindruck, dass ich mir die Inhalte sogar besser einprägen könnte, als wenn ich dauernd lange Pausen dazwischen gehabt hätte.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und sah mir noch einmal die Punkte an, die ich noch nicht zu 100% sicher wähnte. Die Prüfung würde aus einem Teil Multiple Choice Aufgaben bestehen, bei denen x von 5 Antworten richtig sein könnten. Das heißt, es war leider kein Ausschlussverfahren bei der Bearbeitung möglich. Im zweiten Teil sollte ich dann offene Fragen als Text beantworten. Wovor ich mich mehr fürchtete, konnte ich nicht genau sagen. Beide Aufgabentypen hatten das Potenzial, dass ich durchfallen könnte. Ich durfte zwar meine Unterlagen während der Bearbeitung nutzen, aber dadurch wurden die Fragen komplizierter gestellt und die Zeit war auch nicht so wahnsinnig lang, um dauernd irgendetwas nachzuschlagen. Nun gut, würde schon schief gehen. Ich kochte erstmal einen Kaffee und setzte mich dann langsam an den PC.
Im Prüfungstool wurde nochmal alles genau erklärt und ich startete Punkt 11 Uhr die Prüfung. Die Aufgaben waren anspruchsvoll, aber machbar, ich brauchte allerdings die volle Zeit und reichte meine Lösungen erst in der letzten Minute ein. Direkt erhielt ich eine Mail, dass meine Abgabe erfolgreich war und die Prüfung in einer Woche korrigiert sein würde.
Was für eine Aufregung. Ich trank noch einen Kaffee und rief Viola an, die bereits wieder arbeitete. Ich berichtete von der Prüfung und sie freute sich mit mir, dass es gefühlt so gut gelaufen war. Danach schrieb ich noch in die Familiengruppe und machte mich langsam auf den Weg in die Stadt. Ich ging zu Fuß, denn so weit war es nicht und ich hatte zudem fast drei Stunden nur gesessen. Da tat die Bewegung sehr gut.
In der Stadt angekommen ging ich in die üblichen Kleidungsgeschäfte, aber so richtig wollte mir dort nichts gefallen. Ich dachte erst, dass ich mir dann besser was online bestellen könnte, bevor ich etwas kaufte, das mir nicht so richtig gefiel. Daher machte ich mich noch auf den Weg in die Buchhandlung und stöberte etwas in der Regenbogenabteilung. So eine absolut vorhersehbare Lesben-Liebesschmonzette war jetzt genau das Richtige! Ich wurde schnell fündig, denn zum Glück war die Buchhandlung diesbezüglich gut ausgestattet. Es hatte schon Vorteile, wenn die Besitzer schwul waren und wussten, was Regenbogenkinder zu ihrem Glück brauchten.
Als ich den Buchladen verließ, blickte ich rechts in die Seitenstraße und entdeckte einen kleinen neuen Modeladen, zumindest sah ich ihn heute zum ersten Mal. Ich dachte, dass gucken nicht schaden würde und ging kurzerhand dorthin. Direkt im Schaufenster war exakt die Hosenanzug- und Mantelkombination, die ich mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Und preislich ging das Ganze auch noch. Wenn die jetzt noch die passende Größe hätten, wäre es heute wirklich perfekt.
Nach 30 Minuten kam ich mit vollen Taschen wieder aus dem Laden. Anzug und Mantel passten so gut, als wären sie für meinen Hintern geschneidert worden. Zusätzlich nahm ich noch eine weitere Hose und Oberteile mit, schließlich konnte ich im neuen Büro ja schlecht immer im gleichen Outfit auflaufen.
Ich gönnte mir noch einen Kaffee und machte mich dann langsam wieder auf den Heimweg. Heute ging es mir einfach richtig gut. Ich hatte die Prüfung gemeistert, tolle Klamotten gekauft und bisher kaum an Patrizia gedacht. Das konnte ich als absoluten Erfolg verbuchen.
Zu Hause angekommen verstaute ich meine Errungenschaften und legte mich mit dem neuen Buch aufs Sofa. Ich war in Sekunden in der Geschichte verschwunden. Das war aber auch wirklich gut erzählt. Natürlich sah ich dauernd Patrizia vor meinem inneren Auge, aber das machte mir heute nicht so viel aus. Ich genoss es eher, dass ich die Erinnerungen überhaupt hatte und in ihnen schwelgen konnte. Klar piekte es auch ein wenig, aber längst nicht mehr so schlimm, wie noch vor ein paar Wochen.
Ich machte mir einen tollen gemütlichen Abend und kochte mir dazu noch eine Gemüsesuppe. Suppe war für mich immer Gemütlichkeit pur und gerade an so einem Tag, der zwar für mich sehr angenehm verlaufen, aber trotzdem diesig und kalt war, schmeckte eine Suppe mir einfach zu gut. Ich verschlang zwei Teller davon und hielt mir die Option für einen weiteren offen, da ich den Suppenteller nicht direkt in die Spülmaschine stellte, sondern neben dem Topf stehen ließ. Dass ich noch einen weiteren Nachschlag nehmen würde, war also eh schon klar.
Ich schaltete danach den Fernseher ein und hüllte mich in meine Flauschdecke. Nach kurzer Zeit merkte ich allerdings, dass mir fast die Augen zufielen. Der Tag war doch anstrengender als gedacht. Ich stand schnell auf, machte mich bettfertig und legte mich ins Bett. Den Teller Suppe, den ich eigentlich noch essen wollte, hatte ich da schon vergessen.
Das Wochenende verlief sehr entspannt. Da ich ja nichts mehr für die Fortbildung tun musste, hatte ich wieder mehr Zeit für mich und ich nutze sie dafür, mich mit Viola zu treffen und meine Eltern anzurufen.
Viola sah mich an und strahlte: „Meine Güte, du siehst richtig gut aus! Die Senge ist so bescheuert, dass sie ein Törtchen wie dich gehen lässt!“
Ich sah wohl kurz etwas verdutzt aus, denn sie ergänzte direkt: „Sorry, das war taktlos, tut mir sehr leid!“
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich merke, dass ich wieder klar komme und du hast völlig Recht, der ist nicht zu helfen, wenn sie mich nicht will.“ Wir lachten beide und gingen dann zusammen in das neue griechische Restaurant, das Viola mir unbedingt zeigen wollte. Das Essen war köstlich und nebenbei konnte ich von Viola den einen oder anderen Tipp für Montag abstauben, da ich pünktlich um acht Uhr meine neue Stelle antreten sollte. So erfuhr ich, dass der Personalleiter doch um einiges freundlicher war, wenn man seinen Doktortitel nannte, obwohl er so tat, als sei ihm dieses unwichtig. Solche Tipps waren absolut Gold wert.