Kapitel 14

Am Montagmorgen stand ich eine Stunde früher als üblich auf. Ich wollte auf keinen Fall unpünktlich sein und hatte zudem ja nun auch einen längeren Anfahrtsweg. Während ich sonst mit dem Rad nur 15 Minuten brauchte, würde ich von nun an 30 Minuten hin und zurück mit dem Auto fahren müssen. Aber da ich eine viel bessere Stelle und mehr Verantwortung hatte, nahm ich das gerne in Kauf.

Ich kam bereits 20 Minuten vor acht im neuen Wirkungskreis an und meldete mich am Empfang. Dann war ich heute eben überpünktlich. Ich war einfach viel zu aufgeregt, um noch die Zeit im Auto totzuschlagen. Die Empfangsdame, Frau Ludwig, bat mich freundlich und mit strahlendem Lächeln, in der Sitzgruppe noch kurz Platz zu nehmen. Frau Ludwig war kein Vergleich zu der rabiaten Ausputzerin, die in der Hauptzentrale am Empfang saß. Bei der hatte man direkt das Bedürfnis, sich dafür zu entschuldigen, dass man überhaupt existierte. Das war ein guter Anfang, dachte ich. Ich blickte noch kurz auf mein Handy und sah, dass sowohl meine Familie als auch Viola und Sina mir alles Gute für den ersten Tag im neuen Job wünschten. Das freute mich sehr. Mit Sina hatte ich seit der Sache auf der Weihnachtsfeier keinen wirklichen Kontakt mehr gehabt. Sie war auch wohl sauer, weil ich ihr von der Stelle nicht direkt erzählt habe. Aber ich fand ihre Reaktion beim ersten Gespräch nach der Feier so bescheuert, dass ich überhaupt keine Lust mehr hatte, sie zu kontaktieren. Im Grunde hat sie mich so hingestellt, als wäre ich geisteskrank, wenn ich glaubte, Patrizia würde etwas mit mir anfangen. Das fand ich unmöglich, weil ich mir gewünscht hätte, dass sie als Freundin auf meiner Seite wäre und mich nicht noch schlechter sah, als ich mich eh schon fühlte.

Ich wolle gerade das Handy wegpacken, da kam noch eine weitere Nachricht:

„Viel Erfolg heute bei deinem ersten Tag, du wirst sie alle beeindrucken, da bin ich sicher. Ich drücke dir die Daumen und wenn was sein sollte, zögere nicht, dich bei mir zu melden! Liebe Grüße, Patrizia“

Das machte mir direkt wieder Bauchkribbel. Ich freute mich doll über die Nachricht und hätte gerne geantwortet, allerdings sah ich aus dem Augenwinkel, dass ein Mann im Anzug in meine Richtung unterwegs war. Ich erkannte ihn vom Foto aus dem Intranet: Es war der Personalleiter.

„Guten Morgen, Frau Stracke. Schön, dass sie bei uns sind und herzlich Willkommen. Haben Sie gut hergefunden?“

„Guten Morgen, Herr Dr. Berg, vielen Dank, ja ich habe gut hergefunden.“

Doktor Berg strahlte über das ganze Gesicht: Endlich jemand, der seinen Titel in Philosophie anzuerkennen wusste.

„Ich zeige Ihnen zuerst mal Ihr Büro und stelle Ihnen Ihre Assistentin, Frau Lahrmann vor. Sie war vorher Assistentin im Marketing und kennt die Firma wie ihre Westentasche. Sie führt sie nachher auch durch den Betrieb und macht sie mit allen bekannt. Um 13 Uhr findet dann das erste Projektmeeting statt und dort bekommen Sie alle Infos, die sie zum Projekt benötigen. Einverstanden?“

„Mehr als das.“, antwortete ich und grinste.

Frau Lahrmann war ein wenig jünger als ich und kam mir direkt freudestrahlend entgegen. Ich erinnerte mich nicht daran, dass jemand in der Zentrale jemals so freudig empfangen wurde.

„Frau Stracke, herzlich willkommen, ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen zusammen zu arbeiten!“

„Hallo Frau Lahrmann, die Freude ist ganz auf meiner Seite, so herzlich wurde ich noch nie in Empfang genommen!“, sagte ich.

„Dieses Werk ist nicht mit der Zentrale vergleichbar, das werden Sie schnell merken. Wir haben hier ein ausgesprochen gutes Arbeitsklima.“

„Das klingt sehr gut, dann bin ich hier richtig!“, sagte ich erfreut.

„Bitte kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Büro.“

Ich folgte ihr in einen Raum, der riesig war und in dem nur ein Schreibtisch, leere Regale und eine Besuchersitzgruppe standen.

„Das große Büro ist meins? Sicher, dass da nicht noch vier Schreibtische reinsollen?“, fragte ich erstaunt.

Frau Lahrmann lachte: „Nein, alles Ihres. Wir wollen Sie schließlich länger hier behalten. Im Übrigen: Ich weiß nicht, wie Sie es halten wollen, aber wir duzen uns hier eigentlich alle. Das sollen wir zwar laut Vorgaben der Zentrale nicht, aber wir tun es trotzdem.“, sie grinste frech.

„Oh, herzlich gerne, ich heiße Mara“, sagte ich schnell und war begeistert.

„Ich heiße Julia, Schwesternschaft trinken wir dann auf der nächsten Unternehmesfeier!“, sagte sie und zwinkerte mich an.

„Ich nehme dich beim Wort!“, das konnte sie haben.

Sie lachte nun laut auf und sagte: „Super, das gefällt mir. Dann leb dich erstmal kurz in deinem Büro ein und fahr deinen Rechner hoch. Der ist schon fertig installiert, du musst dich nur mit dem Code auf dem Tisch einloggen und dann ein neues Passwort festlegen. In deinen Mails habe ich dir schon die wichtigsten Projektinfos zusammengefasst. Damit solltest du für den 13 Uhr Termin fit sein. Kaffee?“

„Cognac!“, lachte ich und zwinkerte sie diesmal an.

Ich setzte mich an den Schreibtisch und ließ den Raum erstmal auf mich wirken. Krass, was für ein riesiges Büro. Ich konnte es kaum glauben. Ich machte heimlich ein Foto und schickte es in die Familiengruppe. Die würden Augen machen!

Ich las nochmal die Nachricht von Patrizia und fügte das Foto meines Büros auch in unserem Chat ein: „Guck dir mein neues Büro an! Da kann ich Golfturniere drin veranstalten! Und eine Assistentin habe ich nun auch, das fühlt sich witzig an. Hab einen schönen Tag.“

Ich sah, dass sie direkt schrieb und die Antwort kam eine gute Minute später:

„Du hast dir das Büro mehr als verdient und ich überlege gerade, doch noch mit Golf anzufangen:-)“

Ich schmunzelte. Ihren Humor mochte ich immer noch gerne.

„Ich muss ehrlich zugeben, dass es mich beunruhigt, dass du eine Assistentin hast!“, kam noch als Nachricht hinterher.

What? Was sollte das denn jetzt bitte bedeuten?

„Warum?“, fragte ich daher.

„Ich kenne Julia Lahrmann, die lässt nichts anbrennen.“

Woher wusste sie denn jetzt schon wieder, wer meine Assistentin war und konnte es ihr nicht völlig egal sein, wenn Julia mich anbrannte? Immerhin war ich Single und frei und war gerade ihr gegenüber zu keiner Erklärung verpflichtet.

„Gut, dass das nicht dein Problem ist!“, antwortete ich. Danach kam nichts mehr.

Ging es noch? Sie wollte mich nicht, aber andere durfte ich auch nicht haben? Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mich warnen wollte, sonst hätte sie das gewiss anders formuliert. Was sollte das also? Ich wurde aus dieser Frau einfach nicht schlau.

 

Dank der tollen Vorbereitung von Julia Lahrmann, wusste ich über die wichtigsten Punkte des neuen Projekts schon Bescheid, als das erste Meeting begann. Meine Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, mit den anderen Abteilungen eine Vertriebsplanung für die neue Gesichtspflegereihe zu entwerfen und umzusetzen. Die Leitung lag dabei bei mir, das hieß, ich musste Absprachen treffen und das Ganze koordinieren. Ich hatte wahnsinnig Lust auf diese Tätigkeit.

Wie ich von Julia schon erfahren hatte, duzten sich alle Teilnehmer des Meetings und alle waren sichtlich erleichtert, dass ich das als Leitung auch so hielt. Es machte die Arbeit wesentlich leichter und fühlte sich kollegialer an. Das erste Meeting lief wie ein Think Tank ab, bei dem einfach erstmal mit Ideen nur so um sich geworfen wurde. Es waren aus allen nötigen Abteilungen die zuständigen Kollegen und Kolleginnen anwesend, so dass wir eine recht große Gruppe von sieben Leuten waren. Trotzdem kamen wir extrem schnell voran und hatten nach zwei Stunden bereits eine erste Grobplanung. Nun lag es an mir, die nächsten Treffen zu organisieren und der Geschäftsführung unsere Ideen zu übermitteln.

Am Ende des ersten Arbeitstages war ich zwar voller positiver Energie, aber auch wirklich erschöpft. Ich hatte so viele neue Mitarbeiter und Situationen kennengelernt, dazu die neue Art des Arbeitens, das schlauchte mich und ich war froh, dass ich um 18 Uhr das Büro verlassen konnte. Ich hätte schon um fünf gehen können, aber ich fand es klüger, mir noch die Berichte der früheren Vertriebsprojekte anzusehen, so hatte ich einen Vergleich, wie sonst geplant wurde.

Bis Freitag hatte ich mir einen sehr guten Überblick verschafft, was auch daran lag, dass ich von allen anderen viel Unterstützung bekam. Alle wollten, dass das neue Produkt erfolgreich wird. Gerade nach dem Debakel, bei dem der halbe Vertrieb nicht nur abgewandert war, sondern auch noch die Kunden abgeworben hatte, konnte sich das Unternehmen keinen weiteren Verlust leisten. Es sah finanziell alles andere als rosig aus. Außerdem fühlten sich die Mitarbeiter der Zweigstelle in Porzach immer ein wenig unterlegen, weil die Zentrale größer war und die komplette Führungsebene dort arbeitete. Richtig selber entscheiden konnten sie hier nicht, alles musste erst über die Zentrale laufen. Wenn nun aber das neue Produkt ein Erfolg würde, wäre das ein wichtiges Zeichen in Richtung Zentrale.

Heute hatte ich meinen ersten Reporting-Tag bei der Geschäftsführung, bei der ich unsere Ideen präsentierte. Die Präsentation hatte Julia wirklich perfekt vorbereitet und obwohl ich wusste, dass unsere Arbeit gut war, hatte ich doch etwas Anspannung bei dem Gedanken, mit der Geschäftsleitung zu sprechen.

Das Meeting verlief allerdings komplett anders als erwartet. Ich wurde in den großen Besprechungsraum geführt und von den anwesenden Herren und einer Dame begrüßt. Alle stellten sich mir direkt mit Vornamen vor und ich sah, dass im hinteren Teil des Raumes ein Tisch mit Getränken und Brötchen stand.

„Ich hoffe, du hattest eine schöne erste Woche bei uns!“, sagte Jens, der Hauptgeschäftsführer.

„Ja, es gefällt mir extrem gut hier.“, antwortete ich.

„Das höre ich gerne, wir machen es uns bei den Meetings immer ein wenig gemütlich. Nimm dir erstmal einen Kaffee oder Tee und ein Brötchen und dann frühstücken wir erstmal in Ruhe.“

Ich musste etwas fragend ausgesehen haben, denn Jens ergänzte: „Keine Sorge, zu deiner Präsentation kommen wir noch.“, er lachte mich an.

Nun gut, dann nahm ich mir eben zuerst einen Kaffee und ein halbes Brötchen und setzte mich zu den anderen an den Konferenztisch. Wir unterhielten uns über die letzte Woche, was gut lief und was weniger. Es gab auch die eine oder andere private Erzählung und ehe ich mich versah, berichtete ich von dem, was wir in unserem Projekt erarbeitet hatten. Die vier anderen hörten aufmerksam zu und stellten Nachfragen. Zum Ende nickten alle zufrieden und sagten, dass sich die Planung sehr gut anhöre und wir so weiterarbeiten sollten.

Petra, die Leitung des Marketings, lachte mich an: „Guck, nun hast du deine erste Präsentation hinter dir und wir konnten uns diese langweiligen Folien sparen.“

„Wir versuchen mittlerweile, Präsentationen so zu halten, dass sie ganz natürlich wie ein Gespräch ablaufen. Wir ziehen doch alle an einem Strang, warum solltest du dann wie eine Schülerin ein Referat halten, wenn wir das doch auch so haben können?“, sagte Robert, Leitung Controlling, „Sende uns deine Präsentation einfach als Mail, dann haben wir es zur Sicherheit nochmal schriftlich, aber ansonsten kannst du dich freitags einfach auf ein Frühstück mit uns freuen.“

Donnerwetter, ich war offensichtlich in einem Paradies gelandet. Ich hatte Viola definitiv zu danken, für die tolle Idee. Und Patrizia auch. Ohne ihre Empfehlung säße ich jetzt nicht hier.

Als ich nach Hause kam, hatte ich einen Brief vom Anbieter der Fortbildung im Briefkasten. Ich riss ihn noch auf der Straße auf. Es waren meine Ergebnisse! Ich hatte wirklich mit 96% bestanden und würde das Zertifikat in den nächsten Tagen bekommen. Ich hätte schreien können vor Glück und Erleichterung. Zuerst musste ich meine Eltern anrufen. Und Torben. Und Viola. Ach, war ich aufgeregt!