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Eine Orange und ein Messer

(Adriana)

Es ist ein magnetisches Erbe. Man hat keine Wahl. Aber wir brauchen lange, bis wir uns eingestehen, was es bedeutet. Die Frau, die gestern dieses Haus betreten hat, ist meine Tochter, aber meine Hände waren nicht in der Lage, sie zu berühren. Ihre Unterarme zu drücken und zu spüren, wie viel Raum dieses Fleisch und diese Knochen einnehmen.

Ob meine Hand diesen Arm wohl ganz umfassen könnte?

Eine Anfangsgeste: Ich möchte eine Hand auf ihre Stirn legen und die andere auf meine. Temperatur messen. Diese Gabe der Haut, unmittelbar herauszufinden, ob alles in Ordnung ist oder nicht. Ihren Puls fühlen. Eine Mutter, die feststellt, dass dieser Körper von bereits vierzig Jahren lebt. Dass diese Tochter noch existiert, auch wenn sie einem fern ist. Eine Tochter, die zurückgekehrt ist ins heimische Fruchtwasser.

Zwischen den Frauen der mütterlichen Linie einer Familie besteht eine merkwürdige Beziehung. Die Zelle, aus der meine Tochter geboren wurde, entstand zeitgleich mit mir in der Gebärmutter meiner Mutter. Meine Tochter war im ureigensten Sinne, im umfassendsten Nicht-Sinn, also auf die unerklärliche Weise von etwas, das vor seiner Existenz schon potenziell existiert, auch mit mir in meiner Mutter.

Und jetzt sind wir hier wieder zu dritt im Haus.

Das ist nicht der beste Zeitpunkt in unseren Leben.

Gestern konnte ich nicht sehen, ob ihre Haare noch so kräftig sind, ob ihr Gesicht seinen Glanz verloren hat, ob ihre Hüften breiter geworden sind oder ihre früher so stolze Brust flacher geworden ist. Ich kenne ihren jetzigen Geruch nicht. Rückkehr des Tiers in die Höhle nach dem längsten Sommer. Sie ist gekommen, um sich vor etwas zu retten. Das ist klar. Sie rettet sich vor etwas und setzt sich gleichzeitig mir aus. Es muss etwas sein, mit dem sie gar nicht mehr klarkommt. Meine Mutter hat mir gesagt: Sie kommt, und sie sagt, dass sie aufnehmen will.

Und das ist alles? Sie kommt zurück, drückt auf einen Knopf und hält dir die Kamera vors Gesicht, als wäre es nicht fünf Jahre her, dass sie zuletzt hier war. Als hätte sie nicht ein Kind bekommen, das wir nicht kennen. Das wir nicht sehen durften, weil sie es so wollte. Aus Gleichgültigkeit. Aus Wut. Was soll das gewesen sein, Wichtigtuerei oder was?

Ja, ich habe sie angeschrien.

Ein Mädchen, das wir auf den Fotos sehen, die sie schickt, wenn sie sich doch mal an uns erinnert. Das habe ich meiner Mutter gesagt. Und sie hat sie in Schutz genommen.

Das ist doch besser als nichts, hat sie geantwortet. Wenn du sie nicht sehen willst, dann fahr für ein paar Tage weg.

Soll ich etwa wegfahren und dich hier mit ihr allein lassen? Dich kann man doch mit niemandem mehr allein lassen.

Dann habe ich sie umarmt. Und sie hat die Umarmung nicht erwidert. Ihre Hand blieb auf der anderen liegen.

Natürlich wollte ich sie sehen. Weil ich auch weiß, dass sie was mit sich rumschleppt. Dass sie nicht nur hier ist, um etwas über die Nachkriegszeit zu erfahren oder über was auch immer, weil, was weiß ich, ich weiß doch sowieso nie was. Aber sie kann diesen unmöglichen, nicht zu löschenden biologischen Schwelbrand nicht einfach ignorieren.

Sie ist meine Tochter, und ich weiß, dass sie gerade etwas durchmacht, und sie hat auf der anderen Seite der Wand geschlafen, in dem Zimmer, das einen Großteil ihres Lebens das ihre war. Im Haus ihrer Großmutter, die meine Mutter ist. Sie würde sagen, es ist auch ihre Mutter. Und mir würde es wehtun, das zu hören.

Dort sind ihre Bücher von der Uni. Theorie des Bildes. Strukturen der Kommunikation. Geschichte des Kinos. Manchmal habe ich sie in diesen Jahren durchgeblättert und nach einer Spur, einem Zeichen gesucht. Nach einem Vorwurf. Einem mit jugendlicher Wut hingeschmierten »Ich hasse meine Mutter«. Nach meinem durchgestrichenen Namen. Aber es gab nur ein paar Textmarker-Unterstreichungen. Vereinzelte Gedanken, die Seiten zusammenfassen. Geometrische Kritzeleien von jemandem, der nicht bei der Sache ist. Ein Busticket aus der Stadt: von Peripherie zu Peripherie. Werbung für ein Rockfestival. Einen Liedtext, den ich tausendmal gelesen habe: »Der Bruch war langsam, aber deutlich, und ich fing an, an den wahren Freunden zu zweifeln.« Eine mit Bleistift notierte Telefonnummer auf der Umschlaginnenseite. Vielleicht wusste der Mensch, der diesen Anruf entgegennahm, mehr über sie als ich. Oder der Anruf ist nie erfolgt.

Manchmal blättere ich auch in meinen eigenen Büchern, bevor ich zum Unterrichten ins Gymnasium gehe. Die Morgenstunden, in denen ich nicht schlafen kann und vor den Regalen im Flur auf und ab gehe, in der Hand einen Kaffee, die Füße nackt auf den grauen Fliesen. Wenn wir es allein betrachten, hat das Morgengrauen etwas Gruseliges und Lebendiges. Die Schatten an der Wand, die man sonst nicht sieht, weil der Tag sie erhellt und alles mit einem gewöhnlicheren Licht überzieht. Ich nehme die Klassiker heraus: Kritik der reinen Vernunft. Sich selbst findet man in den eigenen Unterstreichungen leichter. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Trotzdem verändern sich die Ideen, und ich erkenne mich auch nicht wieder. Der Sinn für das Wesentliche wandelt sich. Man sehnt sich nach der Klarheit, mit der dieser Bleistift einst beschloss, einen Satz hervorzuheben, damit er irgendwann jemandem etwas sagt. Diese Klarheit verliert sich. Dieses Wissen um die Priorität. Manchmal nehme ich Macht und Gewalt heraus, das sie mir vor ein paar Jahren geschenkt hat, nur um mir ihre Widmung anzusehen. Weihnachten 2005, Adirane.

Manchmal sehe ich mich selbst in den Mädchen, die ich unterrichte. Nicht in denen, die in der ersten Reihe die Hand heben, nicht in denen, die ihre Arbeitsblätter ordentlich sortieren und sich dann die Mappe mit den Trennblättern aufs Knie legen und die gemachten Hausaufgaben sofort finden. Ich bin wie die, die sich an die Seite setzen, wo die Mäntel von der Garderobe herabhängen und einen Teil ihres Tischs einnehmen, die nichts sagen. Die man kaum sieht unter ihrem Pony. Auch sie erkenne ich in einigen Schülerinnen wieder. In dem Wagnis, der anderen das gefaltete Zettelchen mit der Nachricht zuzustecken, die nicht bis zur Pause warten kann. In dem herausfordernden Blick bei einem Streich. In dieser Art, die Schultern zu straffen, erhaben und distanziert. Die Füße unter dem Pult unflätig ausgestreckt. In der Vorfreude auf den Aufsatz, der Gleichgültigkeit gegenüber Rechtschreibfehlern und dem Versagen.

Es ist Jahre her, dass ich meine Tochter zuletzt gesehen habe. Fünf Jahre, in denen ich auch an eine Enkelin gedacht habe, die existiert, aber nicht für mich, eine Art Scheinpräsenz, die ich mir die ganze Zeit über vorstelle. Und dann darf ich mich nicht aufregen? Ich stelle mir die über den Wohnzimmerboden verstreuten Spielsachen einer Ruth vor, die ich nicht kenne. Wechselwäsche, die in einer Schublade auf eine wartet, die nicht am Nachmittag zu mir kommt und nie versehentlich das Saftglas über sich auskippt. Um fünf Uhr der Krach von Schulkindern hinter einer Eisentür, der mich nicht mehr interessiert. Eine Ecke, in der es keine mit Heftzwecken angepinnten Zeichnungen von ihr gibt: zuerst abstraktes Gekritzel, Flecken, Durcheinander. Dann die ganze Familie, die nach und nach Form annimmt: fünf Finger an Händen und Füßen. Körper. Lächeln. Haare wie dicke, aus dem Kopf sprießende Stöcke.

Fünf Jahre, ohne eine Tochter zu sehen, die dennoch nicht so fern ist. Und es ist zehn Uhr morgens, und ich habe sie immer noch nicht gesehen. Sie ist nicht im Morgengrauen in mein Bett gekommen. Hat mich nicht zum Kaffee gerufen. Ich habe ihr die untere Tür aufgemacht, die Tür zu unserer Wohnung offen gelassen und ein einfaches Abendessen in ihr Zimmer gestellt, falls sie Hunger hat. Ein Bocadillo, hat sie früher immer gesagt, ich möchte nur, dass du mir mal ein echtes Bocadillo machst, ein Pausenbrot aus richtigem Brot, ohne dass du vorher den Schimmel von den Scheiben wegmachen musst und sie dann löchrig sind, wenn du eine Dose alten Thunfisch draufpackst. Wie die Mutter von Diana. Wie die Mutter von Ane. Und danach hat sie geweint. Vielleicht, weil sie es bereut hat, oder aus Wut oder echtem Schmerz. Die ganze Kindheit hindurch hat sie Präsenz gefordert. Die Entsagung der Mutter verlangt. Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Familie. Und die ganze Jugend hindurch hat sie ihr genau das vorgehalten: dass sie zu sehr aufpasst, nie irgendwo anders ist, immer nur an diesem engen Ort, dass sie sich zu sehr kümmert, sie erdrückt, aber wenn du einen Schritt zurück machst, dann lässt du sie im Stich.

Adirane.

Adriana.

Mein Name in ihrem. Das ist die Frau, die gekommen ist und immer noch meine Tochter ist, und zwischen uns beiden Frauen könnte immer noch diese Jugendliche mit den zahllosen Vorwürfen stehen, keine Ahnung, wie berechtigt sie sind.

Aber da hat sie es endlich, das Bocadillo, auf dem Tisch, mit einem Stück Tortilla belegt, ja, selbst gemacht, und mit ganz frischem Brot vom letzten Backgang, so, wie sie es gemocht hätte, wie sie es immer verlangt hat, dazu der Wasserkrug, eine glänzende Orange auf einem Teller und ein Messer in einer Serviette. Wie sie es früher geliebt hätte. Es ist kein Symbol. Ganz bestimmt nicht. Meine Liebe hat nun die Form eines traditionellen Abendessens. Einer zum Dreieck gefalteten Serviette.

Ich hab es verstanden.

Natürlich hat sie es nicht gegessen. Als ich an ihrem Zimmer vorbeikomme, steht die Tür offen und das Essen liegt unberührt auf dem Tisch. Daneben beginnt gerade ihr Mobiltelefon zu vibrieren, und ich muss wegschauen, kann dieses morgendliche Stillleben nicht länger sehen. Es ist ein Bild, das mir zeigt, dass ich stets zu spät komme. Eine perfekte Zusammenfassung all meiner Ungeschicklichkeiten. Doch ich wollte es so sehen, ohne dass auch nur ein Bissen gegessen wurde, verschmäht. Das kann ich so interpretieren, dass sich nichts verändert hat. So kaputt ist sie also nicht, wenn sie mir immer noch nicht erlaubt, ihr etwas zu essen zu machen.

Ihr Rucksack steht auf dem Boden, die Klamotten sind über den Teppich verstreut. Derselbe Jeans-Kulturbeutel mit der Micky Maus drauf und rotem Reißverschluss, den sie dabeihatte, als sie zum Studienabschluss die Busreise nach Paris gemacht hat. Wie lange sie ihn behalten hat. Meine Mutter hat ihr die Reise bezahlt: Lass das Mädchen fahren. Aber ich hatte Angst, dass etwas passiert, bei den vielen Stunden auf der Straße.

Alles ist verkrumpelt. Sie hat viele Sachen dabei. Hier gibt es für sie nichts mehr zum Anziehen, im Schrank sind nur noch einzelne Socken, ein paar alte Unterhosen, ein Rucksack und ein T-Shirt mit Werbeaufdruck. Mehr nicht. Ich höre, wie sie im Wohnzimmer mit meiner Mutter lacht. Es riecht nach verbrannten Brotkrümeln und Kernseife. Hat sie etwa meiner Mutter geholfen, sich zu waschen, das Nachthemd auszuziehen und aufzustehen? Hat sie das Sauerstoffgerät umgestellt? Meine Mutter erzählt ihr vom Krieg. Von den sieben arrantzales, den Fischern, die 1931 gestorben sind.

Wie oft habe ich mich gefragt, ob die Spannungen nicht vielleicht mit diesem Landstrich zu tun haben, dem Wasser, dem Wind, der hereinkommt. Grauer Regen, der die grauen Gebäude tagelang nass und grau macht. Überall nur gekalkter Zement. Glänzender Boden. Irgendetwas hat diese Gegend, dieses von Bergen umgebene Becken, diese eindringende Meereszunge. Jede Wildheit hat einen Ursprung. Man blickt auf die grünen Hügel, dann auf die Flussmündung und ist geblendet von der Landschaft. Aber entweder ist es die Strömung, oder es ist die Lust, schnellstmöglich aus dieser Postkartenidylle zu fliehen.

Ich durchquere den Flur und lehne mich an die Tür zum Wohnzimmer. Meine Mutter ist sehr wach, ihre grauen Haare sind zurückgekämmt. Blaue Augen, die nichts mehr sehen. Diese Augen, die wir beide geerbt haben.

Der Körper meiner Tochter erhellt das Zimmer auf andere Art. Die Haare gehen ihr wie immer bis zu den Schultern, aber im Nacken sind sie sehr kurz. Ihr Körper ist weniger straff. Gebeugter als damals, als sie ein tollwütiges Tier war, das im hinteren Teil der Wohnung hauste, jetzt ist da kein Hochmut mehr. Keine Arroganz. Sie dreht sich nicht um, obwohl sie mich gehört hat, obwohl sie mich auf der Türschwelle spürt. Ich atme tief durch. Mein Kiefer zittert, meine Zähne klappern vor meiner eigenen Tochter.

Guten Morgen, Adi.

Ich sage es ohne viel Stimme, nur um meine Anwesenheit in der Wohnung deutlich zu machen. Und dann verschwinde ich wieder wie eine enttäuschte Hündin, der niemand beim Tischabräumen einen Bissen schenkt. Ich jaule innerlich. Guten Morgen, Adriana, antwortet sie. Sie ist meine Tochter. Seit Jahren habe ich meine Tochter, die nun auch Mutter ist, nicht gesehen.

Deine Tochter soll dich ruhig auch mal mit dem Vornamen ansprechen.

Ich will ihr sagen: Schau her, ich bin alt.

Kümmere dich um mich.