VII
Schnurvorhang

Als die Kellnerin mit der silbernen Haarsträhne und den cola-schwarzen Augen Anatol das Getränk brachte, öffnete sich die Tür. Hätte die Kellnerin Anatol nicht gerade mit ihrem Rücken verdeckt, hätte Martha gar nicht erst Platz genommen, noch dazu am Nebentisch. Anatol wollte eben sein Glas heben, als auch er sie bemerkte. Jetzt konnte sie unmöglich wieder aufstehen, ohne dass es wie eine Flucht wirken würde, dachte Martha, während sich ihr Blick kreuzte und die Kellnerin ihr im Vorbeigehen die in Plastik eingeschweißte Karte gab. Martha grüßte knapp, Anatol nickte zurück, nahm einen hastigen Schluck, murmelte: »Die Kohlensäure saniert mich eine Spur« und weil er ihre hochgezogenen Augenbrauen bemerkte, erklärte er: »Ich komme gerade vom Zentralfriedhof.« Nun runzelte Martha die Stirn. Anatol tippte auf das verpackte Ladegerät vor sich: »Dem MediaMarkt habe ich ebenso einen Besuch abgestattet«, er lachte halbherzig auf, »aber das bringt mich auch nicht auf andere Gedanken«, und mehr zu sich selbst: »Nichts hilft.« »Vielleicht hilft ja die KREIDE«, hatte Martha schon sagen wollen, doch sie biss sich auf die Lippen. Die Kellnerin mit den blauen Fingernägeln verschwand in dem Moment durch den Schnurvorhang. Sachte schlugen die Perlenschnüre aneinander, sodass ein feines Geräusch entstand, das beide auf merkwürdige Weise verband. Anatol trank schnell einen weiteren Schluck Cola. Für einen Augenblick war es ganz still, bis die Kellnerin wieder durch den Schnurvorhang trat und mit Anatols Nudelgericht und den Stäbchen in ihrer Hand die Blase zerplatzte. Die Kellnerin servierte die Speise und wandte sich darauf an Martha, die das erstbeste Getränk auf der Karte – Litschisaft – bestellte, obwohl sie beim Betreten des Imbisses an einen grünen Tee gedacht hatte. »Und zum Essen?«, fragte die Kellnerin. Martha lehnte ab, sie müsse gleich los, dachte: Wer kommt schon hierher, um schnell einen Litschisaft hinunterzukippen; und fragte sich, warum sie sich ausgerechnet heute dafür entschieden hatte, einzukehren – sonst hatte es ein Take-away doch genauso getan. Anatol begann unterdessen, sein Nudelgericht zu essen, obwohl er keinerlei Hunger mehr verspürte. Die Kellnerin brachte den Litschisaft, öffnete die Dose mit einem ihrer langen Fingernägel und schenkte Martha ein. Martha trank den Inhalt in drei Zügen leer. Sie gab gerade ein Zeichen für die Rechnung, als Anatol sich zu ihr drehte und meinte, es tue ihm leid, dass man ihr Antworten schuldig geblieben war. Und er fügte hinzu: »Die Jeff Koerners werden auch einmal ausgedient haben.« »Und was ist«, antwortete Martha, »mit den Zacharias Reisingers und –« Anatol vervollständigte ihren Satz: »– und den Anatol Penzels?« Martha blickte ihn an, musste plötzlich lachen. Da lachte Anatol selbst. In diesem Moment brachte die Kellnerin die verlangte Rechnung. Nachdem sie gleich das leere Glas samt Dose mitgenommen hatte, konnte Martha unschwer am Tisch sitzen bleiben. Von der Theke registrierte die Kellnerin, dass Martha nur langsam aufbrach, wiewohl sie es anfangs so eilig gehabt zu haben schien. Martha hatte schließlich ihren Mantel an, wünschte Anatol einen schönen Nachmittag und öffnete die Tür des asiatischen Imbisses. Sie war schon fast draußen, drehte sich aber noch einmal um und sagte zu Anatol: »Die KREIDE liegt mir einfach im Magen«, dann ging sie hinaus.

Zu Hause tippte Martha in ihr Telefon: »Du wirst nicht glauben, wem ich gerade gegenübergesessen bin!«

Lynn antwortete mit einem Fragezeichen. »Anatol Penzel«, schrieb Martha, fügte hinzu, »der aus dem Bildungsministerium.«

»Hast du ihm dieses Mal die Meinung gesagt?«

»In die Richtung«, schrieb Martha zurück.

Obwohl Martha Frederika noch heute sehen würde, erfuhr Letztere ebenfalls bereits am Telefon vom zufälligen Zusammentreffen mit Anatol Penzel.

»Er sollte dich doch kennenlernen!«, antwortete Frederika lachend darauf, ergänzte ernst: »Dein Erzfeind.«

»Na ja, Erzfeind«, sagte Martha.

»Na ja?«, kam es von Frederika, sie hatte sich wahrhaftig genug über Lernplattformen anhören müssen.

»Er schien irgendwie traurig«, antwortete Martha.

»Ich werde gleich traurig!«, erwiderte Frederika.

Mich hat er zum Lachen gebracht, dachte Martha.

Als Anatol wenig später seine Wohnung betrat, sprang ihn die Stille geradezu an. Hier hatte schon lange niemand mehr gelacht, und er empfand mit besonderer Wucht, dass alles fehlte. Mitten im Nichts, dachte Anatol – und: Hätt’ ich das nur geübt. Er legte das Ladegerät auf den Küchentisch, setzte sich nieder und sagte mitten in die Stille: »Die KREIDE liegt mir auch im Magen.«

Das kann doch nicht wahr sein, dachte Anatol, als Zachy ihm am nächsten Tag nach der Teamsitzung – früher beendet als gedacht – vorschlug, gemeinsam eine Kleinigkeit zu essen und meinte, Anatol hätte doch einmal einen asiatischen Imbiss erwähnt: zuerst Martha Kopetzky, dann Zachy. Und er machte sofort einen Gegenvorschlag, vielleicht auch wegen Martha Kopetzky.

»Der Imbiss ist zu weit entfernt«, sagte er.

»Mit dir gehe ich bis ans Ende der Welt«, ließ Zachy den Einwand nicht gelten.

Da trat obendrein Kai Schneeberger aus der Tür und fragte, ob sie mit ihm mittagessen gehen wollten. Zachy wechselte einen Blick mit Anatol, bemühte jetzt selbst das Argument der Entfernung, um Kai abzuwimmeln, von dem er wusste, dass er wenig später noch eine Besprechung hatte. Anatol sagte »Schade« und sah Zachy dankbar an.

Als sie den asiatischen Imbiss schließlich gemeinsam betraten, hob die Kellnerin den Kopf. Zachy grüßte und wollte sich an einen Tisch in der Mitte setzen, während Anatol gleich zum Tisch in der Ecke neben den bodentiefen Fenstern ging. Zachy wechselte zu Anatol, nahm die Karte von der Kellnerin entgegen, bestellte nach Anatol sein Getränk. Aus dem Kühlschrank hinter der Theke holte die Kellnerin ein Mineralwasser und eine Cola light, schloss mit ihrem Bein die Tür aus Doppelglas, brachte die Getränke an den Tisch und notierte die Essensbestellungen. Zachy schenkte sich das stille Wasser ein, griff nach seinem Telefon und tippte eine Nachricht.

»Ich muss etwas für meinen Vater regeln«, murmelte er.

Dann hätte ich gleich alleine essen gehen können, dachte Anatol, der es als unhöflich empfand, obwohl er sich gar nicht pausenlos mit Zachy unterhalten wollte.

Als die Kellnerin mit den Speisen kam, schob Anatol Zachy den Besteckkasten hin. Zu seiner Überraschung griff dieser zu Gabel und Messer. Anatol nahm sich beschwingt eine Stäbchenpackung und brach sie auseinander.

»Zu Hause benütze ich auch Stäbchen«, sagte Zachy, »Wegwerfprodukte versuche ich aber zu vermeiden.«

Anatol schaute auf seine Stäbchen.

»Gar nicht schlecht«, hatte Zachy in der Zwischenzeit probiert. Gar nicht schlecht, dachte Anatol, begann mit seinen Stäbchen zu essen. Eine Weile aßen sie wortlos, bis Zachy im gleichen Tonfall, in dem er das Essen beurteilt hatte, meinte: »Diese Lehrerin habe ich übrigens noch immer nicht los.«

»Martha Kopetzky heißt sie«, sagte Anatol mit Nachdruck.

»Willst du dich wieder um sie kümmern?«, fragte Zachy, Sojasprossen auf seiner Gabel.

Anatol schwieg, biss auf seiner Unterlippe herum. »Sie bombardiert mich weiter mit den immer gleichen Fragen«, beschwerte sich Zachy.

»Könnte an den immer gleichen Antworten liegen«, verteidigte Anatol sie plötzlich.

Zachy zuckte mit den Schultern, sagte bloß: »Sie hat sowieso keine Chance.«

In dem Moment ging die Kellnerin durch den Schnurvorhang. Vielleicht, weil Anatol Zachys Plumpheit etwas Feines entgegensetzen wollte, vielleicht aber auch, weil er an Martha Kopetzky dachte, sagte er: »Dieses Geräusch mag ich.«

»Geräusch?«, fragte Zachy, es lag nur knapp über seiner Wahrnehmungsschwelle; und lachend fügte Zachy hinzu: »Die KREIDE arbeitet auch im Stillen«, und er nahm einen Schluck von seinem Wasser ohne Kohlensäure.

»Dafür kommt sie allerdings recht laut daher«, versetzte Anatol darauf.

Zachy legte seinen Kopf schief. Zachy wird doch nicht etwa mich für das Marktschreierische der Präsentation verantwortlich machen, dachte Anatol und spürte in sich eine Aufwallung.

»Ungehört soll sie ja nicht bleiben«, sagte Zachy und zwinkerte.

»Ich kann sie schon nicht mehr hören!«, platzte es da aus Anatol heraus. Nun schaute Zachy doch überrascht. »Diese gesamte Lernplattform ist absolut entbehrlich«, legte Anatol nach.

»Entbehrlich ist das meiste heutzutage«, versuchte ihn Zachy zu beruhigen. Es hatte ihn von Anfang an gewundert, dass ausgerechnet Anatol aus dem Bildungsministerium mit der Zusammenarbeit betraut worden war.

»Es macht aber einen Unterschied«, brauste Anatol auf, »sobald das Überflüssige auf Kosten von Notwendigem geht!« Die Kellnerin hinter dem Tresen hob ihren Kopf. Anatol atmete durch, bevor er versuchte, ruhiger zu sagen: »Die KREIDE wird den Kindern nichts bringen, eine Zusatzlehrerin hingegen schon.«

»Ich habe gar nichts gegen eine Zusatzlehrerin«, stimmte Zachy zu, die KREIDE bereite indes Kinder auf ihr zukünftiges Leben vor, und er fügte hinzu: »Das hab’ ich irgendwo gelesen.«

»Ihr zukünftiges Leben!«, lachte Anatol über einen der Sätze, die er im ersten Entwurf noch gestrichen hatte. Die Kellnerin blickte erneut herüber. »Soll Schule Kinder wirklich darauf vorbereiten, dass ihre Daten von Kindesbeinen an nicht nur gesammelt, sondern überdies verwendet werden dürfen – im Zweifelsfall gegen sie selbst?«, schnaubte Anatol jetzt.

»Du klingst ja schon wie – Martha Kopetzky«, lachte Zachy, fügte beschwichtigend an: »Nicht das Kind mit dem Bad ausschütten!«

»Aber«, rief Anatol, »die Kinder müssen es ausbaden!«

Zachy meinte, dass doch gerade Anatol durch sein Mitwirken bei der KREIDE das verhindern könne, und er wischte sich den Mund mit der dünnen Serviette ab. Anatol sah direkt in Zachys Augen. Er hatte Giselas Tod nicht zu verhindern vermocht, er allein würde auch nichts gegen Wetterumschwünge ausrichten können, und ebenso wenig würde er die Investition von Millionen in den Ausbau der KREIDE abwenden können. Ich hab’ genug vom Ich, dachte Anatol, zur Abwechslung würd’ ich nämlich mal gerne etwas verändert sehen. Anatol legte stumm seine Stäbchen auf den Tellerrand. Die Kellnerin kam an den Tisch und räumte mit einem Seitenblick auf Anatol die Teller ab. Dass sie zahlen sollten, meinte Anatol, murmelte, er müsse noch etwas besorgen.

»Ich übernehme die Rechnung«, sagte nun Zachy, »das nächste Mal bist du an der Reihe.«

Nächstes Mal, dachte Anatol. Sie verließen den Imbiss und durch die Fensterscheibe konnte Anatol seine silberne Dose und Zachys grüne Flasche stehen sehen, unweit vom Tisch, an dem beim letzten Mal Martha Kopetzky gesessen hatte.

Wortlos gingen sie nebeneinander her, bis Anatol vor einem indischen Supermarkt stehen blieb und im Begriff war, sich zu verabschieden. »Hier finde ich bestimmt eine Köstlichkeit!«, freute sich Zachy und begleitete Anatol ungefragt in das Geschäft.

Das Licht war kalt, die Farben ausgeprägt. Zachy blieb gleich beim Eingang in der Gewürzabteilung hängen, versuchte Schriftzüge zu entziffern. »Urlaubsgefühle!«, tat er Anatol kund, der von solchen meilenweit entfernt war.

Sie gingen zu zweit die vom weißen Licht bestrahlten Regale entlang. Zachy blickte zur Leuchtstoffröhre empor. »So eine Beleuchtung schlag’ ich dem Kai vor«, meinte er. »Die reinste Lichttherapie!« Allerdings schaut man dabei schlechter aus, dachte er mit Blick auf Anatols gräulichen Teint.

»Eine noch bessere Stimmung in der Agentur kann nur tödlich sein«, erwiderte Anatol.

Zachy zeigte auf ein Regal vor ihnen: »Ein Schnurvorhang für dich, Anatol!«, sagte er. »Mochtest du nicht das Geräusch so?«

Anatol winkte ab.

»Die haben sie in allen möglichen Farben da!«, warb Zachy, aber Anatol war schon ein Regal weiter.

Zachy steuerte stattdessen einen Kühlschrank an: »Willst du ebenfalls ein Ginger Beer

Beim Verlassen des Supermarktes sagte Zachy: »Solltest du es dir noch einmal mit dem Schnurvorhang überlegen – ich helfe gerne beim Aufhängen!«

Nicht auszudenken – Zachy auch noch in der Wohnung zu haben, dachte Anatol, als ob es noch schlimmer kommen konnte als Totenstille.

»Warum kaufst du nicht einen für die Agentur«, erwiderte Anatol, sagte: »Am Montag muss ich eh wieder zum Schneeberger.«

»Der Kai ist genau der Richtige für so was«, sagte Zachy.

»Oder ich hänge dem Leguan einen ins Terrarium – der weiß es vielleicht mehr zu schätzen.«

Zachy lachte und gab Anatol zum Abschied eine Dose Ginger Beer mit dem Hinweis: »Erweckt die Lebensgeister!« Bevor er gänzlich aus dem Blickfeld verschwunden war, rief er Anatol noch einmal zu: »Und nicht das Kind mit dem Bad ausschütten!« Damit war Anatol neuerlich allein.

Das Ginger Beer in der Hand, fragte er sich, was er jetzt tun sollte. Nach Hause wollte er nicht, im asiatischen Imbiss war er bereits gewesen. Er blickte auf die Uhr: Bis die Tore geschlossen wurden, wäre noch genug Zeit. Obwohl er erst am Dienstag dort gewesen war, weil eine Besprechung entfallen war, fuhr er mit der U4 zum Karlsplatz und stieg dann gegenüber der Oper in den 71er ein; beim Zweiten Tor stieg er aus.

Auf dem Weg zu ihrem Grab begegneten ihm ein paar wenige Menschen, meistens gebückt und alleine. In der Ferne sah er eine Gruppe in Schwarz gekleidete Rücken. Wieder kam ihm das Bild der an der Seite ihres Vaters zusammengekrümmten Hanna in den Sinn. Beim Nachfolgen des Sarges hatte sie sich seltsam aus dem Gleichgewicht fallend, um Balance ringend fortbewegt. Er war damals ebenfalls – vielleicht nicht getorkelt, aber anders als sonst gegangen. Einem Sarg wurde immer eigen gefolgt, dachte er, egal welchem, selbst wenn ein nervenaufreibender Kollege darin läge – Zachy zum Beispiel.

Anatol bog ab. Eine Familie kreuzte den Weg und blieb auf seiner Höhe stehen. »Exit?«, erkundigte sich der Vater.

»Here«, sagte Anatol und hielt es für einen gelungenen Scherz, der Vater sagte gleichwohl nur: »Thank you«, als glaubte er, Anatol habe ihn nicht verstanden. Dabei verstand in Österreich jeder das Wort Exit; erst recht er, der doch im vom Englisch durchzogenen Sektor der digitalen Bildung arbeitete, dachte Anatol voller Selbstironie, ja, für Kinder im Alter des Sohnes sogar innovative Lernplattformen mitentwarf. Die Frau suchte nun offenbar mithilfe ihres Telefons den Ausgang. Ein Wien-Führer schaute aus ihrem Parka, während das Jüngste der Familie, ein Mädchen, im Kinderwagen auf einem Spielzeugtelefon Knöpfe mit lachenden Gesichtern drückte. »Hello, my friend«, sagte daraufhin eine Stimme.

Die Mutter hatte scheinbar herausgefunden, wohin sie gehen mussten, und langsam, wie sich Familien für gewöhnlich in Gang setzen, führten sie ihren Weg fort. Anatol blickte ihnen hinterher. Sie gingen in die falsche Richtung, dachte er, rief es ihnen auf Englisch nach, sie schienen ihn jedoch nicht mehr zu hören, lediglich der Junge drehte sich noch einmal kurz um.

»Hello, my friend«, hörte Anatol es nachhallen, dachte an die von Zachy aufs Tapet gebrachte, letztendlich von Anatol – Was hätte er denn tun sollen? – abgesegnete Aussage, Technologie bereite Kinder besonders gut auf das zukünftige Leben vor. »Hello, my friend!« Selbst ein Friedhof war heutzutage nicht mehr so still wie Zachys Wasserglas.

Anatol kam nun an den Anfang von Giselas Reihe und legte einen Schritt zu, als könnte er zu spät kommen. Er stoppte am Ende und sagte: »Hallo« – in seiner Stimme lag, was dem Hello, my friend gefehlt hatte: die leicht beschleunigte Atmung, Wärme und die leise Spur der Verlassenheit.

Er ließ sich auf der Umrandung nieder, stellte den Rucksack mit dem Ginger Beer in der Seitentasche vor sich ab. »Das hast du dem Zachy zu verdanken, dass ich schon wieder da bin«, sagte er, rollte mit der Schuhspitze einen Kieselstein hin und her und meinte: »Wenn ich hier bald einzieh’, beklag dich bei ihm!«

Anatol blickte auf der Rückfahrt aus dem Straßenbahnfenster, den Rucksack auf seinem Schoß. Während die alte Straßenbahngarnitur über die Gleise ratterte, dachte er an das Foto in dem ovalen Rahmen am Grabstein. Dachte, dass er ahnungslos gewesen war, als er damals auf den Auslöser gedrückt hatte. Ahnungslos, dass dieses Bild einmal auf eine Weise an sie erinnern sollte, die ein Gedenken war. Sie hatte damals nicht bemerkt, dass sie fotografiert worden war. Der Seidenschal war von einer Schulter gerutscht, ihr Gesichtsausdruck geistesabwesend – was jetzt, nachdem ihre Person beiseitegelegt war, ihre Anwesenheit seltsam unterstrich.

Im Gegensatz zu ihm hatte Gisela von jeher einen Sinn im Tod erkannt. Deswegen gab es auch keinen Grund, sich davor zu fürchten, war sie überzeugt gewesen. Denn Sinn verursache keine Furcht. Anatol dachte wie so oft, dass Gisela mit seinem Tod besser hätte umgehen können, als er es mit ihrem tat.

Die Straßenbahn ließ den elften Bezirk, in dem der Zentralfriedhof lag, hinter sich und fuhr durch den dritten. Als wäre Anatol selbst eine Straßenbahn, die sich seinen inneren Bezirken näherte, musste er daran zurückdenken, wie er bei jedem Krankenhausbesuch mehr das Schwächerwerden ihres Körpers registrierte hatte. Für Anatol war das Warten auf den Tod ein Entzweireißen in Zeitlupe gewesen. Diese Trödelei des Todes hatte ihm lange zu denken gegeben. Er wusste nicht, ob es besser war, im Sterben zu liegen oder vom Sterben überrumpelt zu werden.

An diesen Tagen, an denen Anatol am Abend nach Hause zurückgekehrt war, hatte das Gemeinsame ihrer Wohnung ihn nahezu geblendet. Anatol war zwar alt genug, um schon Erfahrung mit dem Tod gemacht zu haben, aber diese Erfahrung hatte ihm nichts genützt. Seine beiden Elternteile waren früh verstorben, aber keiner dieser Tode hatte ihn mitgenommen. Vielleicht rächt sich der Tod nun an mir, hatte er gedacht und sich auf den Bettrand gesetzt. Auch bei ihm sank die Matratze ein. Ohne sich auszuziehen, legte er sich ins Bett. Er dachte wieder an seine Eltern, die in gegenseitiger Abneigung bis an ihr vorzeitiges Lebensende verharrt hatten, als hätte es kein Entkommen vor dem jeweils anderen gegeben, ja, als wäre der andere bereits der Tod. Anatol schloss die Augen und streckte die Hand aus.

»Der Abschied ist ein Prozess«, sagte ihm eine Krankenschwester kurze Zeit darauf am Gang. »Stimmt genau!« – hätte das seine Antwort sein sollen? »Es hört sich wahr an«, antwortete er.

An einem jener Spitalstage des Wartens hatte die Einsicht darin, dass das Ende unausweichlich war, jedoch etwas an seiner Unerträglichkeit verändert. Es wohnte ihr plötzlich ein beruhigendes Moment inne und Anatol war erstaunt gewesen, dass Panik und Beruhigung derart nah beieinanderliegen konnten. Indem Gisela das Sterben ausgehalten hatte, dachte er, hatte er dazugelernt.

Es musste einer der letzten Tage gewesen sein, an denen Gisela noch ansprechbar gewesen war, als sie gesagt hatte, sie würde ihre Tochter nicht älter werden sehen und dass sie das um eine Erfahrung brachte, die sie unbedingt hatte machen wollen, die Zukunft ihres Kindes zu erleben. Aber dass sie andererseits froh sei, dass ihre Tochter im Gegensatz zu ihr eine Zukunft habe. Und als sie das gesagt hatte, hatte sie für einen Moment glücklich geschienen, und Anatol hatte ihr nur mit Mühe in die Augen blicken können, ohne zu weinen.

Eine Kurve drückte Anatol an das Straßenbahnfenster, er presste den Rucksack an sich.

»Steig’ aus, Anatol!«, unterbrach Gisela da seine Gedanken. Er stand auf und drückte den Türöffner. Sie mischte sich wieder ein.

Doch keinen Schnurvorhang dabei?«, begrüßte Zachy Anatol, den er am Montagmorgen vor dem Lift wartend antraf; er selbst steuerte schon die Stufen an. Kurz vor dem oberen Treppenabsatz drehte er sich noch einmal um und rief dem noch immer wartenden Anatol zu: »Vielleicht besorg’ ich mir auch einen!«, lachte und nahm die letzten zwei Stufen auf einmal. Die Aufzugstür ging auf. Anatol hörte noch, auch er solle seine Schritte täglich zählen lassen, dann ging die Aufzugstür zu.

Als Anatol auf die Vier drückte, musste er an die Knöpfe auf dem Spielzeugtelefon des Mädchens am Zentralfriedhof denken. Wahrscheinlich würden in der Zukunft jegliche Knöpfe mit einem lachenden Gesicht bedruckt werden. Und überall würde Hello, my friend ertönen. Das Lämpchen, das die Stockwerkszahl beleuchten sollte, war kaputt. Anatols Blick streifte den Liftspiegel. Hello, my friend. Ob das überhaupt sein Spiegelbild war? Alles so defekt.

Auf dem Weg zum Meetingraum machte er beim Terrarium halt. »Na, wie viele Schritte hast du heute schon zurückgelegt?«, fragte er den Leguan. Er ging weiter und nahm als Erster im Meetingraum Platz. Während er auf Kai Schneeberger wartete, blätterte er durch die Tageszeitung, die frisch gefaltet über der Ausgabe von gestern auf einer Ablage gelegen hatte. Für wen die Zeitung abonniert wurde, fragte er sich. Extra für mich? An einem Ort wie diesem wurde doch, wenn überhaupt, online gelesen. Vielleicht wird das Papier zum Reinigen der Glasflächen verwendet, dachte er und blätterte die nächste Seite um.

Zweihundert Unterstützungslehrerinnen waren gestrichen worden, las er da. Und ein Gefühl der Ohnmacht, wie es Anatol aus dem Kampf gegen Giselas Krankheit kannte, überkam ihn. Die Berührungspunkte zwischen Politik und Krankheit überraschten ihn immer wieder. Er fand aber, dass im Falle der Krankheit alles Mögliche unternommen wurde. Zweihundert Unterstützungslehrerinnen zu streichen war jedoch, als ob man die Behandlung mitten in der Bestrahlung abbräche, dachte Anatol. »Das Interesse an der KREIDE übertrifft unsere Erwartungen«, kam es da vom Eingang, Kai schloss die Glastür hinter sich: »Zuerst aber Kaffee, den brauche ich nach so einer Nacht dringend!« Er ging schon zur Espressomaschine und in das Erhitzen des Wassers murmelte er: »Und das ist erst der dritte Zahn.«

Martha hatte sich gut auf den Elternabend vorbereitet. Sie hatte alle wesentlichen Aspekte der Lernplattform KREIDE auf einem Blatt zusammengefasst, dieses mehrfach kopiert und drückte den Eltern nun beim Betreten des Klassenzimmers jeweils ein Exemplar in die Hand, bevor sie sie auf den Stühlen ihrer Kinder Platz nehmen ließ. Von ein paar waren sogar beide Elternteile gekommen, von vielen die Mutter, von Sümeyye war der Vater da, von Gerry und Dunja niemand. Lisas Mutter, hochschwanger und außer Atem, betrat den Raum, als Martha gerade alle willkommen hieß.

Martha blickte dabei in Gesichter, die mit denjenigen, die sie am Vormittag angeblickt hatten, Gemeinsamkeiten besaßen, aber nicht ident waren, und Martha faszinierte, wie aus dieser Unvollständigkeit das Vollständige der Ähnlichkeit entstand.

Nachdem Martha alle begrüßt hatte, gab sie erst einen kurzen Überblick über die Funktionen der KREIDE und führte dann jeden einzelnen Aspekt weiter aus. Sie versuchte, die Eltern zu informieren, dabei aber durchaus ihre Einwände deutlich zu machen.

Sie hatte den Eindruck, alle hörten ihr zu. Ab und an sah Lisas Mutter auf ihr Telefon. Nils’ Vater flüsterte seiner Frau gelegentlich etwas zu, während Sümeyyes Vater die Stirn in tiefe Falten legte, sodass Martha versuchte, deutlicher zu sprechen.

Nachdem sie geschlossen und sich nach Fragen erkundigte hatte, meinte sogleich Nils’ Vater, die KREIDE sei kategorisch abzulehnen, blickte dabei seine Frau an, die bekräftigend nickte. »Kinder überwachen, wo kommen wir denn da hin!«

In die lautstarke Zustimmung der anderen Eltern zeigte Sümeyyes Vater auf. Er wollte wissen, ob sie für die Tablets etwas zahlen müssten. Nils’ Mutter warf ihrem Mann einen Blick zu, der aufs Neue die Hand hob, während Lisas Mutter auf die Uhr schaute. Nachdem Martha ihm erneut das Wort erteilt hatte, führte Nils’ Vater an den von Sümeyye gewandt eingehend aus, warum die KREIDE derart problematisch sei. Genau das Gegenteil von seinem schüchternen Sohn, dachte Martha. Sümeyyes Vater lächelte freundlich, nickte, während er daran dachte, dass sein Wecker morgen um vier Uhr dreißig klingeln würde. Lisas Mutter strich sich über ihren Bauch, ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen. Martha dankte Nils’ Vater für die Ausführungen, der dabei war, noch weiter auszuholen, während sich Sümeyyes Vater die Augen rieb und Lisas Mutter auf ihrem Telefon eine Nachricht tippte.

»Wir werden als Eltern Druck machen«, meldete sich jetzt kurzzeitig Nils’ Mutter zu Wort, bevor ihr Mann abermals das Sagen übernahm: »Wir brauchen die Namen der Verantwortlichen der KREIDE und die E-Mail-Adresse der Direktorin.«

Er war es nicht nur gewohnt, dass man ihm zuhörte, sondern auch, dass andere seine Aufträge ausführten, dachte Martha, die Kontaktdaten auf die Tafel schreibend. Lisas Mutter entschuldigte sich kurz und verließ den Raum.

Die Eltern notierten die Mailadresse mit, von Nils gleich beide Elternteile. »Je mehr Anfragen an Frau Blecha erfolgen, desto besser!«, unterstrich Nils’ Vater, steckte seinen Stift ins Jackett.

Sümeyyes Vater erschrak: Direktorin, Anfrage – von ihm?

»Wir dürfen nicht lockerlassen!«, beschwor Nils’ Mutter die Klasseneltern. »Als Eltern müssen wir alle an einem Strang ziehen!«, schloss Nils’ Vater ein womögliches Abweichen von seinem Vorhaben vorweg aus.

Martha nickte zustimmend, leisen Widerwillen spürend, und in ihre Abschlussworte setzte sich Lisas Mutter zurück auf ihren Platz, beugte sich vor und fragte: »Habe ich etwas versäumt?« Sümeyyes Vater zuckte mit den Schultern, zeigte auf die E-Mail-Adresse auf der Tafel, die Mutter rechts von ihm tat beschäftigt.

Martha dankte schließlich allen für ihr Kommen. Lisas Mutter war die Erste, die ihren Mantel, aus dem ihr Bauch hervorschaute, überzog und sich verabschiedete. Nils’ Eltern unterhielten sich noch mit anderen Eltern, während Sümeyyes Vater bei Martha stand, sich entschuldigte, dass er nicht ganz verstanden hatte, und leise fragte, ob man tatsächlich nichts für die Computer zahlen müsste.

Als Martha nach dem Elternabend Izzy durch ihre Wohnungstür schnuppern hörte, obwohl sie noch nicht einmal ihr Stockwerk erreicht hatte, dachte sie: Manche Gerüche kriegt man nicht aus der Nase, und dabei dachte sie an das Parfüm von Nils’ Vater und nicht an den dumpfen Geruch der Jacke von Sümeyyes Vater. Martha drehte den Schlüssel im Schloss und der Hund, der schon an der Tür gekratzt hatte, warf sich auf den Rücken. »Man kann sich nicht jeden seiner Unterstützer aussuchen«, murmelte sie und beugte sich hinunter. Dabei spürte sie das erste Mal seit der Operation einen Schmerz im Rücken.

Ein paar Eltern machen Ärger«, erklärte Kai der Sitzungsrunde mit seiner Kaffeetasse in der Hand. »Frau Blecha hat mich über eine Welle von Anfragen besorgter Eltern informiert. Eine Klassenlehrerin hat sie wohl aufgestachelt.«

Martha Kopetzky!, durchfuhr es Anatol – und Zachy, der das Gleiche gedacht hatte, warf ihm einen Blick zu, aber er sagte nichts.

Kai wandte sich sogleich an Zachy: »Deine Aufgabe wird es sein, diese Eltern zu überzeugen.« Zachy wippte mit seinem Stuhl und nickte.

»Und wenn das nicht gelingt?«, wollte Anatol wissen.

Zachy unterbrach sein Wippen und meinte: »In meinem Leben habe ich schon mit schwierigeren als beunruhigten Eltern zu tun gehabt.«

»Zum Beispiel?«, fragte Anatol und schaute ihn an.

»Mit beruhigten«, erwiderte Zachy, dachte an den Fernsehsessel, und begann wieder zu wippen.

»Die Eltern werden die KREIDE lieben, wenn wir nur hinreichend die Vorteile für ihre Kinder hervorheben«, zeigte sich Kai überzeugt, dass es keine wirklichen Hindernisse für die KREIDE gab.

Wahrscheinlich hat er sogar recht, dachte Anatol, der immer froh gewesen war, ein Vater in der Zwischenzone der Stiefelternschaft zu sein. Denn wenn er sich erinnerte, dann rückte vor allem die Atmosphäre in den Vordergrund, die entstand, wenn etwas ständig bewertet wurde. Und ganz gleich, ob Eltern ein Urteil zu fällen überhaupt vermochten, das eigene hatte Gültigkeit. Mehr als einmal hatte das ihn an die Arbeit einer Behörde denken lassen – gerade weil er selbst in einer saß. Und Anatol hatte noch etwas beobachtet: Es kamen permanent neue Ängste unter den Eltern auf. Dazu schien der Aggressionspegel überall zu steigen. Es kostete schließlich auch immer größere Mühe, in der Welt zu sein, und sich auszuruhen war im Alltag einfach nicht vorgesehen. Weil sich niemand mehr über die eigene Familie hinaus zusammenschloss – so Anatols Theorie –, begann sich der Unmut zu stauen.

Da und dort brach davon etwas hervor, bei seinem Freund etwa, mit dem er in ihrer damaligen Wohngemeinschaft oft bis in die Morgenstunden gefeiert hatte, und der Jahre später plötzlich gesagt hatte, in der Schule ums Eck würden alle möglichen Sprachen gesprochen werden, nur kein Deutsch mehr. Als Anatol darauf die Nachteile zu erörtern begann, die Kindern mit anderen Sprachen als Muttersprache daraus erwachsen konnten, hatte der Freund wortlos das über das ganze Wohnzimmer der neuen Wohnung verstreute Kinderspielzeug aufgelesen. Zum Abschied hatte der Freund gesagt: »Nicht jeder wohnt in einem Innenstadtbezirk.« Dafür habe ich keine Dachwohnung, hatte Anatol beim Einsteigen in den Lift gedacht. Eine andere Freundin, die bei ihren WG-Festen immer unter den letzten Gästen gewesen war, hatte zu ihm gemeint, ihre Kinder sollten natürlich nicht in einer Blase heranwachsen, aber wenn Anatols gerühmte soziale Durchmischung nichts anderes bedeute, als dass wertvolle Lernzeit verloren gehe, sei ihr eine Privatschule lieber. Anatol hatte sie stumm angesehen – gespenstisch, wie bei seinen Freunden Gesellschaft als Bezugspunkt einfach verschwand und dafür nur die eigene Familie zählte, als ob das im Sinne ihrer Kinder wäre. Alles zerrann und stand gleichzeitig still, so kam es Anatol vor. Noch während er der Freundin antwortete, dass man doch gerade im Umgang mit verschiedenen Welten etwas lernen könne, bereute er die ungeschickte Formulierung. Die Freundin rief prompt: »Verschiedene Welten? Es gibt die Welt der Gewinner und die Welt der Verlierer, die keine schöne ist, Anatol – auch wenn von ihnen erwartet wird, dass sie gefälligst lächeln sollen!« Anatol hatte nichts mehr darauf gesagt, er hatte gedacht: Stimmt ja, wer aussortiert wurde, für den gibt’s fortan nur noch das Verdikt ›selbst schuld‹. Und hatten sie bei Hanna nicht ebenso alles dafür getan, dass ihr kein Nachteil erwuchs?

Trotzdem hatte sich der Kontakt zu diesen früheren Freunden gelockert, denn selbst wenn sie alle unter Druck standen, war da ein Kern, steinhart: die Angst, dass das eigene Kind ausgerechnet durch andere Kinder in seinem Potenzial beschnitten werden könnte. Nun, in der Agentur sitzend, dachte Anatol, die KREIDE würde wohl über anfängliche Bedenken seiner Freunde genauso siegen – solange man ihnen weismachen konnte, dass besonders ihr Kind profitierte.

Später auf der Terrasse fragte Anatol Zachy, sich eine Zigarette ansteckend, ob es ihm nichts ausmache, für Kai Eltern aus dem Weg zu schaffen.

»Dir habe ich doch auch« – Zachy betonte den Namen – »Martha Kopetzky vom Halse geschafft«, und Anatol musste schlucken.

Zachy murmelte: »Hoffentlich stoße ich bei den Eltern auf weniger Widerstand.«

Vor ihnen ging die Sonne über Wien unter. »Und deine Eltern – gehörten also zu den Beruhigten?«, fragte unvermittelt Anatol, blies Rauch aus und blickte Zachy von der Seite an.

Zachy hielt den Kopf starr geradeaus, sagte: »Familie gehört längst durch Netzwerke ersetzt« und schlug den Mantelkragen hoch.

Anatol tat einen Zug von seiner Zigarette.

Da sagte Zachy: »Aber mit dir, Anatol«, und er blickte ihn an, »hat deine Tochter Glück gehabt.«

Die Stadt lag vor ihnen im orange-rosa Winterlicht.

Nils’ Vater hielt Martha auf dem Laufenden. Anfangs war er voller Zuversicht, diese brach allerdings bald ein. Er beklagte sich, viele Eltern, die sich ihrem Vorhaben zu Beginn angeschlossen hätten, reagierten plötzlich zurückhaltend. Dabei sei man sich doch am Elternabend einig gewesen, beschwerte er sich. Es sei zudem unmissverständlich klargemacht worden, wie wichtig Geschlossenheit in diesem Punkt sei. Sieht da jemand seine Autorität untergraben?, dachte Martha. Und er tat seinen Ärger darüber kund, dass Sümeyyes Eltern es wiederholt nicht für wert befunden hätten, auf seine Nachfrage zu antworten. Es bleibe zu befürchten, dass ihr Versuch, als Klassenverband bei der Direktorin Druck zu machen, scheitern werde. »Wir werden aber nicht kapitulieren!«, schloss er die letzte Nachricht.

In ihrer Antwort dankte Martha ihm ausgiebig für seinen Einsatz – Nicht, dass er jetzt noch abspringt, dachte sie – und beruhigte ihn mit dem Hinweis, dass sie bereits mit vielen Lehrerinnen im Gespräch sei und daher auf Druck auch von dieser Seite hoffe.

»Ich habe etwas übertrieben«, gestand Martha Frederika zu Mittag bei einem Kaffee. Auf die WhatsApp-Gruppe hin, die sie nach der Informationsveranstaltung in den Weihnachtsferien für die Kolleginnen an ihrer Schule erstellt hatte – inspiriert durch den Rat ihrer Mutter, sie solle die Agentur und die KREIDE mit ihren eigenen Waffen schlagen –, hatte sich bis dato kaum etwas getan; bis auf Spott im Lehrerzimmer: »Ausgerechnet Martha Kopetzky!« oder: »Spaß beiseite! Wann ist der Lesekreis?«

Als sie zu Beginn mehrere Links zu Artikeln verschickt hatte, in denen das Einsickern privatwirtschaftlicher Interessen in den öffentlichen Bildungsbereich über das Forcieren von Technologien aufgezeigt worden war, hatte überhaupt niemand darauf reagiert. Eine Woche später war es ein Link zu einem Interview mit einem Datenschützer gewesen und ein zweiter zu einem Artikel, in dem es um die Höhe der Ausgaben für das Umsetzen und Betreuen digitaler Lernplattformen gegangen war. Von einer Lehrerin hatte sie darauf ein »Daumen hoch« bekommen. Auf den Hinweis auf eine Sendung hin, in der es um den beträchtlichen CO2-Fußabdruck ging, den die Speicherung der anwachsenden Datenmenge hinterließ, schickte ihr eine andere Lehrerin ein GIF, in dem eine Frau in einer Dauerschleife bitterlich weinte. Als sie zehn Tage später eine Studie genannt hatte, in welcher der Anstieg der Motivation bei Schülern dem Neuheitseffekt der Lernplattformen zugeschrieben worden war, hatte sie selbst von diesen beiden Kolleginnen keine Rückmeldung mehr erhalten.

»Ich habe gestern etwas Interessantes gelesen«, sagte da Frederika, Milchschaum an ihrer Lippe, und tippte schon auf ihrem Telefon herum, um Martha das Statement von Vertretern der Medienwirkungsforschung weiterzuleiten. Keinerlei Vorteil für Schüler unter zehn im Einsatz von Bildschirmmedien, las Martha die Überschrift und sogleich das Statement – und ohne sich wirklich viel zu erwarten, teilte sie es auf der WhatsApp-Gruppe.

Am späten Nachmittag schrieb sie dann Frederika: »Du hast eine Diskussion ins Rollen gebracht!« Martha folgte staunend den hereinprasselnden Benachrichtigungen.

»Mehr eine Lawine!«, präzisierte sie am Abend. Und mit dem immer noch anhaltenden Schwung des Triumphes besuchte sie am nächsten Tag ihre Mutter.

Die Straßenbahnanzeige gab an, dass der 71er in zwei Minuten kommen sollte. Anatol blickte unterdessen auf die gegenüberliegende Plakatwand. Vor Kurzem hatte ihm Hanna erzählt, dass man im Durchschnitt Tausende digital nachbearbeitete Körperbilder pro Woche sah. Er dachte daran, dass Gisela die Konsequenz des Körpers, sich zu verändern, fast bewundert hatte. Sie zu beklagen erschien ihr in jedem Fall dumm. Mit dem Älterwerden war sie runder geworden und ihr Gesicht hatte an Kontur verloren. Das Bindegewebe um die Kinnlinie hatte nachgelassen, auch um die Lippen, die etwas von einer flauschigen Hundelefze bekommen hatten, wie Anatol befand. Anatol wäre gerne weiter mit ihr gealtert. Zusammen zu altern empfand er als verbindend. Es war wie ein gemeinsames Sehen: ein Auge von ihm, eines von ihr. Es konnte ruhig auch ein Schielen sein.

Als er wenig später an der Friedhofsmauer entlangfuhr, erinnerte er sich, die Werbeplakate hinter sich lassend, daran, dass er diesen Gedanken einmal Zachy gegenüber erwähnt und darauf etwas in Zachys Gesicht gesehen hatte, was nicht zu dessen alberner Antwort passen wollte: Es war Angst gewesen. Zachy wusste vielleicht selbst nicht, wie ausgeprägt sie war, hatte Anatol gedacht, der es für sich behalten hatte.

Bei dieser Gelegenheit, daran erinnerte sich Anatol ebenso, hatte er sich gleich noch dazu bekannt, dass er die Vorstellung mochte, neben Gisela begraben zu werden. Es hatte für ihn etwas von Nähe; wiewohl nebeneinander beerdigt zu sein nur mehr eine Andeutung von Nähe sein konnte. Zachy hatte es abwegig gefunden, sich so etwas vorzustellen. Er hatte zugegeben, dass er ein Problem mit Nähe hatte, aber angedeutet, dass Anatol ebenfalls eines hatte – bloß in der umgekehrten Richtung.

Anatols Telefon vibrierte kurz in der Hosentasche. Er fischte es heraus – prompt hatte ihm Zachy eine Nachricht geschickt: »Das 21. Jahrhundert setzt sich langsam in den Köpfen durch.« Er hätte die Bedenken der meisten Eltern ausräumen können.

Anatol seufzte. »Wer kann den Schülern jetzt noch helfen?«, schrieb er zurück.

»Das Bildungsministerium«, antwortete Zachy und setzte ein lachendes Gesicht daneben, fügte an: »Martha Kopetzky wird es nicht sein.« Anatol steckte mit finsterer Miene sein Telefon in die Manteltasche.

Beinahe hätte er auch noch die Station Simmering verpasst. Während er aus der Straßenbahn stieg, sah er einen Mann mit verfilztem Haar, einer zerlumpten Hose und aufgerissenen Schuhen den Mülleimer an der Straßenbahnhaltestelle durchforsten. Der lächelnde Mund mit strahlend weißen Zähnen auf dem Plakat hinter ihm war ein wenig geöffnet, als wollte er gleich in den Obdachlosen beißen. Das wird wohl nicht das ganze 21. Jahrhundert gewesen sein, dachte Anatol und überquerte die Straße zur U3-Station, um in Wien Mitte auszusteigen und das Ladegerät endlich gegen das richtige Modell umzutauschen.

Als er auf der Rolltreppe zum Media Markt stand, vibrierte sein Telefon abermals.

»Mein Fahrrad hat einen Platten«, schrieb nun Zachy: »Es wird doch nicht Martha Kopetzky meinen Reifen aufgeschlitzt haben?«

Während Anatol im Media Markt umherirrte, schob Zachy sein Fahrrad in die U-Bahn-Garnitur. Erst in einer halben Stunde wäre die Fahrradmitnahme offiziell erlaubt, aber es erfolgte keine Durchsage. Ein Mann mit einem Akkordeon um den Hals stieg mit ihm zu und begann, sobald sich die U-Bahn in Bewegung gesetzt hatte, »Bella Ciao« zu spielen. Die meisten saßen mit Kopfhörer in den Ohren da.

»Nicht schon wieder«, kommentierte eine Frau in der Nähe von Zachy, die auf einem der Klappsitze im geräumigen Teil des Zugendes saß. Zachy hatte eine Hand an der gelben Halteschlaufe, die andere am Lenker. Die U-Bahn machte plötzlich eine Bremsung und Zachy suchte nach Gleichgewicht, während der Akkordeonspieler mit beiden Händen weiterspielte, als hätte er das Instrument auf hoher See gelernt. Zachy, der beinahe mit dem Reifen das Bein der Frau berührt hatte, murmelte eine Entschuldigung. Die Frau blickte ihn ausdruckslos an, den Mund leicht geöffnet. Er erahnte hinter der Lücke zwischen den Schneidezähnen den Hohlraum der Gereiztheit.

Der Akkordeonspieler näherte sich nun mit einem verbeulten Kaffeebecher den Klappsitzen. Die Frau schaute aus dem Fenster in den U-Bahn-Tunnel. Sie begann ihre Haare zu richten, hübsch zur Feindseligkeit. Zachy kramte mit der Hand in der Gesäßtasche seiner Jeans und ließ eine Münze in den leeren Becher fallen. Als hätte er damit durch den Schlitz ihrer Zähne Geld in die Frau hineingeworfen und sie so zum Leben erweckt, drehte sich der Kopf zu ihm. Ihre Augen hoben sich und sahen Zachy an.

»Danke, Danke«, sagte der Akkordeonspieler hastig, als fürchtete er, mit dem Euro würde sich die Frau in Gang setzen. Im selben Moment läutete sein Telefon und kaum hatte er es aus der Hosentasche gezogen, öffnete sich der Mund der Frau, sagte zwei Worte: »Gesindel« und »Smartphone«. Auf einem der Klappsitze der anderen Seite nickte ein Mann, eine Strähne fiel ihm dabei ins Gesicht.

»Herr Gesundheit«, bedankte sich der Spieler noch einmal, bevor er in das Telefon sprach, das Akkordeon geschultert und den Plastikbecher mit Zachys Münze in der Hand. Die Frau drehte den Kopf missbilligend zu ihm, blieb dabei mit dem Blick an ihrer Seidenstrumpfhose hängen. »Jetzt auch noch eine Laufmasche«, murmelte sie, hob das Bein mit dem gefütterten Winterstiefel und begutachtete die nach unten geglittene Masche. Der Zug fuhr in die Station ein und der Akkordeonspieler stieg aus.

Als die Frau anhob zu »Der soll lieber in seinem eigenen Land –«, betätigte Zachy seine Fahrradklingel und übertönte schrill ihr Nachzischen. Dann schob er in das rot blinkende Türsignal sein Fahrrad auf den Bahnsteig.