VIII
Kreide fressen

Anatol bekam seine Registrierung per E-Mail zugeschickt mit der Bitte, die Daten zu überprüfen und einem Dank dafür, dass er neuartige Ideen teilen wolle. BETT – die British Educational Training and Technology Show – werde eine Erkundungstour in die Zukunft der Bildung sein. Er solle unbedingt seine E-Mail-Updates beachten, in denen aufregende Vorhaben, die in London auf ihn warteten, mit ihm geteilt würden. Über kein Teilen sonst hört man mehr, dachte Anatol, höchstens, dass sich eine ganze Schule eine einzige Unterstützungslehrerin teilen muss; und ihm kam wieder Martha Kopetzky in den Sinn. Ob sie sich wohl inzwischen geschlagen gegeben hatte? Unwillkürlich blickte er zur Schneekugel. »Du bist ihr noch Antworten schuldig«, sagten Giselas Augen. »Ich habe gesagt, dass es mir leidtut«, murmelte Anatol. »Ich spreche von Antworten«, entgegneten ihre Augen.

Anatol seufzte. Gedämpfter Stimmung klickte er auf die Registrierung. Anatol Penzel, Curriculum Consultant, KREIDE – auf solch einer Messe war er natürlich nicht einfach einer der Verantwortlichen für Lehrpläne, sondern ein Curriculum Consultant.

Ein paar Tage später bekam er eine E-Mail mit seinem elektronischen Ausweis zugeschickt, der ihm Zutritt zum »weltweit größten EdTech-Event« verschaffen sollte. Und ab jetzt bekam Anatol jeden Tag neue Informationen von der BETT-Messe.

Wenn er von dem »Gewinn weltverändernder Gedanken durch inspirierende Weltklasseredner« las, saß er für Minuten bewegungslos da, hörte Koerners Stimme und starrte auf den Bildschirm.

Mit Gisela wäre er für all das gewappnet gewesen, dachte Anatol traurig mit seinem Blick zur Schneekugel und erinnerte sich an ihr Lachen und ihren Scharfsinn. Egal, wie zermürbt er von seiner Arbeit nach Hause gekommen war, sie hatte es jedes Mal vermocht, ihm eine neue Richtung aufzuzeigen. Und im Gegensatz zu vielen, mit denen er den Tag über zu tun gehabt hatte, hatte sie als Schlüssel, um Kinder zu begeistern, die Neugierde angeführt – »Frag eine Bibliothekarin!«, hatte sie lachend gesagt, hinzugefügt: »Einfach nur Neugierde«, und nicht, wie sie es nannte, das »ganze künstliche Brimborium!« Stets war sie ihm beigesprungen, etwa wenn er mit Leuten zu tun hatte, die den Schlüssel vorsätzlich versteckten; und das waren keine Kinder mehr.

Und jetzt?, dachte Anatol. Mit jedem neuen Tag schien sich sein Handlungsspielraum zu verringern. Früher hatte er allen Widerständen zum Trotz noch das Gefühl gehabt, in seiner Abteilung des Bildungsministeriums da und dort, im Kleinen, aber immerhin, etwas verbessern zu können. Nun drohte ihm dieses Gefühl gänzlich abhandenzukommen, obwohl die Agentur – und erst recht die BETT – ohne Unterlass von Fortschritt sprach.

Gerade gestern hatte Kai Schneeberger ihn wissen lassen, die KREIDE werde eine ganze Generation von Schülern prägen. Und er hatte hinzugefügt, dass das Bildungsministerium durch die Zusammenarbeit mit der Agentur größeren Einfluss als je zuvor haben werde. »Die Agenda des Staatlichen wird durch den Privatsektor vorangetrieben«, hatte Kai fröhlich gemeint, mit dem Nachsatz: »Bei aller Liebe für das Träge«, und Anatol hatte an seinem Daumennagel herumgebissen.

Es war, als würde sich die Agentur mit einer Lösung brüsten, für die sie aber erst das Problem suchen musste, dachte Anatol; und er war dabei gezwungen, sein Problem damit auszublenden.

Und während ihn andere im Bildungsministerium um seine Reise nach London beneideten, empfand er bloß Ödnis, wenn es galt den Blick für das große Ganze zu gewinnen – wie es Kai Schneeberger gestern auch ausgedrückt hatte. Denn schließlich könne nur Neues schaffen, wer über den eigenen Tellerrand schaue. Darauf hatte Kai Anatol in die Seite geknufft. Ebendarum werde eine Partnerschaft zwischen der Agentur, dem Bildungsministerium und einem schwedischen Start-up, das auf der Londoner Messe eine der KREIDE ähnliche Lernplattform präsentieren wolle, angestrebt. Termine waren schon fixiert worden.

Anatol ächzte bei dem Gedanken daran.

»Ist alles mit dir in Ordnung?«, fragte da Zachy, der im Türrahmen von Anatols Büro stand.

Anatol sah Zachy einen Moment an. Dann stieß er bloß einen weiteren Seufzer aus – und für einen kurzen Augenblick war das Gesicht mit der hochgezogenen Augenbraue wie eingefroren.

Dass sie doch für heute einen Termin ausgemacht hätten, vergewisserte sich Zachy.

»Die Sprache der BETT-Messe –« und Anatol griff sich an den Kopf.

»Coca-Cola spricht nicht anders«, erwiderte Zachy: »Ein gewisser Anatol Penzel trinkt sie mit großem Genuss!«; und nach einer Pause legte er ihm eine Mappe auf den Tisch. Das habe er ihm gleich mitgenommen, zum Aufarbeiten, die Ergebnisse des Programms für internationale Schülerbewertung.

»Wie bitte?«, Anatol war nicht bei der Sache gewesen.

»Nicht an eine Cola denken!«, rügte Zachy, »Hier – die PISA-Studie!«

»PISA-Studie? Kinder unter zehn bleiben doch noch davon verschont«, sagte Anatol schwach.

»Wir können trotzdem einhaken«, erwiderte Zachy: »Schlechte Ergebnisse sind auch unser Markt«, und er zwinkerte Anatol zu.

Als Martha das Gebäude betrat, hing noch immer Essensgeruch in den Gängen, obwohl das Altersheim bereits aus dem Mittagsschlaf erwachte. Aus dem Speisesaal drang leises Geklimper von Besteck. In der Bibliothek, an deren offener Tür Martha vorbeikam, sah sie eine Frau mit dem Gesicht dicht an den Bücherrücken stehen. Als Martha schließlich um die Ecke bog, kam im selben Augenblick ein Mann mit einem Rollator aus der anderen Richtung. Beinahe hätte er ihn in sie hineingeschoben. Sie wich aus und entschuldigte sich. Der Mann schob sich weiter, den Kopf gesenkt. Vielleicht war er auf dem Weg zum Aufenthaltsraum, dachte Martha, sie hatte einen kurzen Blick hineingeworfen, manchmal saß ihre Mutter dort. Sie kam jetzt zum Lift, stieg im zweiten Stock aus und klopfte an der Tür der Mutter, die verschlossen blieb. Sie steuerte darauf den Computerraum an, der allerdings unbesetzt war, sodass sie beschloss, zurück ins Erdgeschoss zu fahren, um nochmal genauer im Aufenthaltsraum nachzusehen. Im Erdgeschoss angekommen begegnete ihr erneut der Mann mit dem Rollator. Martha ging aus der Bahn wie zuvor, blickte ihm nach. Als Martha kurz vorm Aufenthaltsraum über die Schulter blickte und den Mann schon wieder aufkreuzen sah, schüttelte sie den Kopf und bog schnell in den Raum.

Sie ließ ihren Blick über die Lehnstühle mit den hohen Rückenlehnen in kräftigen Farben und den dazwischen verstreuten leichteren Korbstühlen schweifen. Martha erkannte ihre Mutter letztendlich an den Pantoffeln unter den vielen weggestreckten Beinen. Sie ging zum Lehnstuhl und erst, als sie kurz davorstand, erblickte sie deren Kopf hinter der Rückenlehne. Sie begrüßte sie, strich mit der Hand über ihre Wange. Die Mutter zuckte leicht zurück. »Auch für nächste Woche ist Frost angesagt«, meinte Martha und zog einen Korbsessel herbei, der in der Mitte des Raumes stand.

»Den habe ich weggeschoben«, kam es prompt aus der Nähe, so als sollte jegliche Gruppierung unterbunden bleiben. Die Mutter winkte ab. »Ist ja Gott sei Dank leicht«, antwortete Martha und nahm Platz.

Einen Moment war es ganz still. Martha betrachtete die verschiedenen aus den Sesseln ragenden weggestreckten Beine, da und dort ein angelehnter Stock wie der ihrer Mutter, neben dem Sessel gegenüber war eine Gehhilfe aus Aluminium abgestellt. Sie zog ihren Mantel aus und legte ihn sich über den Schoß.

»War’s schön in der Schule?«, fragte die Mutter. Noch bevor Martha antwortete, beugte sich jemand aus einem grünen Polstersessel, sagte: »Die Schüler von heute schneiden ganz miserabel ab!« und hielt eine Zeitung zum Beweis hoch.

»Die Schüler meiner Tochter würden jeden Test bestehen!«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Marthas Mutter. Martha machte eine beschwichtigende Geste.

»Miserabel«, wiederholte die alte Dame im grünen Polstersessel, raschelte mit der Zeitung, »Österreich liegt abermals hinter den Deutschen!«

Die Mutter flüsterte: »Soll ich deinen Kampf gegen den Lerncomputer ins Spiel bringen?«

»Nur ja nicht!«, beschwor Martha sie.

»Nicht alles, was gedruckt wird, stimmt«, schaltete sich die Frau ein, die moniert hatte, dass Martha den Korbsessel herangerückt hatte.

»Das ist eine Studie!«, drehte sich die Frau im grünen Polstersessel in ihre Richtung.

»PISA«, pflichtete eine sorgfältig gekleidete Seniorin bei, schaute von ihrem Telefon mit extra großen Tasten auf.

»Japan ist ja ganz vorne dabei«, ertönte es nun aus einer Ecke, ein Mann ließ sein Sudoku-Heft sinken und schaute über den Rand seiner Lesebrille.

»Ich hab’ bis vor zwei Jahren einen Toyota gefahren«, war von einer Frau, die sich aus ihrem blauen Polstersessel lehnte, zu vernehmen.

»Ganz vorne ist Japan dabei«, erschallte es aufs Neue von dem Mann aus der Ecke.

»Beim Selbstmord unter Schülern«, sagte jetzt doch Martha. Einen Moment fiel kein Wort, stumm wurde Martha angestarrt. Marthas Mutter lächelte.

»In Mathematik«, verbesserte sie der Mann mit dem Sudoku, »ganz vorne in Mathematik!«

»Die jungen Leute tun mir leid«, mischte sich eine Frau mit zittriger Stimme und gekrümmten Rücken ein.

»In Ihrem hohen Alter ist sicher auch nicht alles leicht«, sagte die Pensionistin, die bis vor zwei Jahren noch Auto gefahren war.

»Nicht jeder wird über neunzig!«, erwiderte die Frau mit der zittrigen Stimme, lehnte sich zurück.

»Manche können nicht einmal bis hundert rechnen«, meinte darauf die alte Dame im grünen Polstersessel.

»Mag jemand ein Schlückchen?«, kam es in dem Moment vom Türrahmen. Der Mann mit dem Rollator!, dachte Martha. Er zog eine bauchige Flasche und Becher aus dem Korb seines Rollators.

»Mozartlikör!«, war die über Neunzigjährige erfreut.

»Mozart war ein Genie!«, rief die Frau im grünen Polstersessel.

»PISA schreibt man mit langem i«, sagte da Marthas Mutter und pochte mit ihrem Stock auf den Boden. Martha hielt die Luft an. Die Frau im grünen Polstersessel musterte kurz die Mutter, dann streckte sie ihre Hand nach einem Pappbecher aus.

»Unser Gast zuerst«, wandte sich der Herr mit dem Rollator an Martha, die ausatmete, schnell abwehrte: »Ich muss noch Aufsätze korrigieren« und dachte: Frederika und Lynn werden mir kein Wort glauben.

Am Abend vor seinem Flug ging Anatol noch einmal in den asiatischen Imbiss. Der Fernseher, sonst vergessen in der Ecke, war heute eingeschaltet. Die Kellnerin folgte aufmerksam dem Bericht, während sie Gläser mit einem Tuch abtrocknete: In Norditalien war ein erster Fall des neuartigen Coronavirus nachgewiesen worden.

Anatol sollte nun endlich einen Blick in die Mappe mit den Ergebnissen der PISA-Studie werfen. Er öffnete sie und zwang sich, bei der Studie zu bleiben, selbst beim Essen legte er sie nicht weg. Erst bei der Hälfte hob er erneut den Kopf Richtung Fernseher, dem die Kellnerin längst den Rücken zugekehrt hatte. Auf dem Bildschirm wurden jetzt Pappschilder von Menschen in den USA in die Höhe gehalten, auf die mit weißer Farbe gepinselt stand: Climate change is fiction. Anatol seufzte und sah nach draußen zur Autokolonne, die auf Grün wartete. Die Fahrzeuge werden immer größer, dachte er, und in keinem davon saß mehr als eine Person. Und er selbst würde morgen mit dem Flugzeug für eine Messe nach London fliegen. Was war auf seinem Pappschild zu lesen? Wie wäre es mit: Der eigene Wahnsinn ist immer der unsichtbarste. Anatol seufzte erneut, wollte gerade wieder den Kopf wenden, da sah er Martha Kopetzky den Gehsteig entlangkommen. Schon fast war sie auf seiner Höhe, eilig klopfte er gegen die Glasscheibe. Erstaunt hob sie den Kopf, ihr Schritt verlangsamte sich. Er hob die Hand, und sie winkte zurück. Ihre Gesichter waren einen Augenblick nur durch die Glasscheibe getrennt. Sie strich sich mit ihrem Fäustling eine Locke aus dem Gesicht. Dann bewegten sich ihre Lippen. Anatol hielt seine Hand ans Ohr. Sie hob ihre Hände, bildete einen Trichter und wiederholte es lauter. Anatol zog die Augenbrauen hoch. Noch ein Lächeln im Weitergehen, und schon war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Er schüttelte den Kopf und beugte sich vor zur Scheibe, glaubte, noch ihren Rücken auszumachen, bevor er ihn aus den Augen verloren hatte. Er lehnte sich wieder zurück. Was hatte sie gesagt? Fight back? Er musste sich geirrt haben. Schnell trank er aus und verlangte die Rechnung. Als er auf den Gehsteig trat, blickte er unwillkürlich in die Richtung, in die sie gegangen war. Er sah vor sich ihre Hände abermals einen Trichter bilden, die Lippen sich bewegen: Fight back. Außer Zweifel. Noch einmal blickte er nach links die Straße hinunter. Ob sie aufs Neue auftauchen würde – ob sie vielleicht sogar in der Nähe wohnte?

Zu Hause holte er dann seinen Koffer hervor. Er wusste nicht, wann er ihn das letzte Mal gepackt hatte, aber zuletzt musste Gisela ihn benutzt haben, denn er fand ihren roten Seidenschal in einer Seitentasche. Der Schal war wie ein Souvenir aus einem Leben, dessen Besuch er sich nur einmal hatte leisten können. Erst da kam ihm zu Bewusstsein, dass sie ihn auch auf dem Foto am Grabstein trug. Er beließ ihn in der Seitentasche, legte seine olivgrüne Schirmmütze mit Fischgrätmuster dazu. »Wie ein Entenjäger siehst du damit aus«, hatte Gisela ihn gerne aufgezogen. Er nahm die Mütze nochmals heraus, setzte sie sich auf und stellte sich – was er schon lange nicht mehr getan hatte – vor den Spiegel im Vorraum. Er schnitt eine Grimasse.

Nachdem er den Koffer fertig gepackt hatte, verspürte er das Bedürfnis, Hannas Stimme zu hören. Wie immer schaltete er die Kamera nicht ein. Ihre Stimme klang leicht verzerrt, aber hatte den hellen Klang von Neuigkeiten an sich. Sie erzählte sogleich, dass sie in einem neuen Team aus Forschungstauchern arbeitete. Anatol meinte eine Verliebtheit herauszuhören, was allerdings durchaus an der Verzerrung liegen konnte. Er berichtete ihr, dass er morgen mit Zachy zu einer EdTech-Messe nach London fliegen würde.

»EdTech?«

»Ja, die Abkürzung für«, und er erhob die Stimme feierlich: »Education and Technology

»Wie bitte?« Er wiederholte es, die Verbindung verschlechterte sich jedoch zusehends. Hanna sagte darauf etwas, bei ihm kam jedoch nur an: »In Peru« – »eine Kampagne« – »Laptop für jedes Kind« – »aber nicht einmal funktionierende Toiletten«.

»Ich höre dich nur abgehackt«, sagte Anatol.

»Laptops mussten weggesperrt« und »sonst geklaut«, kam als Antwort.

»Mir kann die KREIDE auch gestohlen bleiben!«, rief jetzt Anatol ins Telefon, als ob er durch erhöhte Lautstärke die schlechte Verbindung wettmachen könnte.

Anatol glaubte, Hanna darauf etwas von einer Studie sagen zu hören, dann: »verzeichnete keine Effekte« und »hocke nun auf den Laptops«.

»Ja, die Ärmeren werden daran kleben bleiben!« – abermals rief es Anatol ins Telefon – »Wie an Süßigkeiten, Fast Food und Limonade!«

»Limonade?«, fragte Hanna, die das als Einziges verstanden hatte.

»Man kann dann auf sie herabschauen!«, rief Anatol ins Telefon. Hanna schlug vor, aufzulegen und nochmals anzurufen. Aber auch beim erneuten Versuch stabilisierte sich die Verbindung nicht. Nach einem vollständigen Satz war sie schon wieder unterbrochen. Sie legten schließlich auf, Anatol vernahm noch etwas, das »Gute Reise« bedeuten konnte, und ein »Wann« mit einem überraschend deutlichen »endlich«. Und er schloss, dass sie wohl gefragt hatte, wann er sie endlich besuchen werde; Zumindest musste ich so nicht darauf antworten, dachte er.

Er konnte nämlich nicht die Wahrheit sagen: Dass er sich davor scheute, sie zu besuchen. Denn er fürchtete, dass ein Besuch das Gleichgewicht, das sie schließlich zu zweit gefunden hatten, stören könnte. Da er, im Unterschied zu ihrem Vater, kein zwangsläufiger Bestandteil ihres Lebens war, machte ihn das nach dem Tod ihrer Mutter verwundbar. Und würde Hanna irgendwann beschließen, ihn nicht mehr an ihrem Leben teilnehmen lassen zu wollen, dann würde ihn nichts darüber hinwegtrösten können.

Damals war Anatol gemeinsam mit Hanna bei Gisela in den letzten Stunden ihres Lebens im Krankenhaus gewesen. Hanna hatte die Hand ihrer Mutter gehalten und Anatol war am Bettende gestanden und hatte auf die kleine Zehe, die unter der Decke herausgeschaut hatte, geblickt. Er deckte diese vorsichtig zu, als machte es noch einen Unterschied. Hanna hielt die Hand ihrer Mutter immer fester, ja, umklammerte sie geradezu und Anatol schien es, als wäre Hannas Hand wieder zu einer Kinderhand geworden, er war darüber sogar erschrocken.

Mit dem Handrücken wischte Hanna sich gelegentlich die Tränen aus dem Gesicht, ließ dabei die Hand ihrer Mutter nicht los; von Ferne hätte man gar meinen können, die Mutter striche ihr die Tränen aus dem Gesicht. Und Anatol starrte auf die Bewegung der Hand, erinnerte sich, wie Hanna einmal zu ihm gesagt hatte, dass jeder seine eigene Art und Weise hatte, anderen die Tränen zu trocknen, zum Beispiel ihre Mutter. Und sie hatte hinzugefügt: »Und du hast deine Art.«

Dass es zu dämmern begonnen hatte, fiel ihnen nicht auf, bis eine Krankenschwester kam und das Licht einschaltete. Es surrte leise.

Als der Tod eintrat, war es schon lange Abend. Er und Hanna sahen sich nicht an und sie berührten sich nicht. Es fand nun alles über den toten Körper hinweg statt. An- und Abwesenheit, Achtung und Bestürzung.

Sie waren zu dritt in dem nackten Raum und Anatol packte der Schwindel, als der leblose Körper weggebracht wurde.

Es gab keinen festen Boden mehr. Anatol hatte seinen Halt verloren.

Nur noch ihre Stimme von weit her.

Pling, ertönte es ununterbrochen neben Anatol, der einen Seufzer nicht unterdrücken konnte.

»Dieser Ton – Perlen gleich!«, machte sich Zachy das Vergnügen zu behaupten. Anatol verdrehte die Augen.

»Oder meinetwegen wie ein Schnurvorhang!« Anatol blickte zur Decke.

»In London finden wir sicher auch einen asiatischen Imbiss«, plauderte Zachy munter weiter. Noch sind wir nicht einmal ins Flugzeug gestiegen. »Und einen indischen Supermarkt«, fügte Zachy hinzu. Wieder ertönte das Pling.

»Vielleicht winkt mir ja sogar Unterhaltung«, sagte Zachy daraufhin.

»Unterhaltung«, wiederholte Anatol abschätzig. Zachy ließ das Telefon einen Moment sinken und meinte, Anatol solle sich nicht immer so abkapseln.

»Abkapseln – schön wär’s«, murmelte Anatol.

»Warum auf das Leben verzichten?«, entgegnete Zachy. Anatol drehte den Kopf zu ihm. Er war nicht bereit, Zachys Wahllosigkeit etwas abzugewinnen. Doch er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, um nicht noch für alt erklärt zu werden.

»Ich brauche keine Ablenkung«, antwortete er.

»Bist du dir da sicher?« Anatol wandte den Kopf ab.

Man dürfe nie einfach stehen bleiben, behauptete Zachy und widmete sich wieder seinem Telefon. Anatol dachte an den Schnurvorhang, dachte an Martha Kopetzky.

Beim nächsten Pling schlug Anatol sein Buch auf. Das sei Ada Mazur gewesen, ließ ihn Zachy wissen, die Schulungsassistentin. Anatol linste zum Monitor mit der Boarding Time.

»Sie hat einen Freund«, sagte Zachy, »einen komplizierten.« Anatol blickte ihn an. Mach es nicht noch komplizierter, könnte jetzt Zachy in seinen Augen lesen.

»Schöne Mütze, übrigens«, sagte da Zachy und fügte hinzu: »Am Ende haben wir den gleichen Geschmack.«

»Für die Mütze bin ich schon ausgelacht worden«, erwiderte Anatol.

Es ertönte erneut das Telefon. Anatol klappte das Buch zu – so konnte er unmöglich lesen.

»Der Kai wünscht uns eine gute Reise«, sagte Zachy.

»Den Kai halte ich nicht mehr aus«, murmelte Anatol.

»Der Kai hält sich doch selber nicht mehr aus«, sagte Zachy. »Das Treffen mit dem schwedischen Start-up ist übrigens auf übermorgen verschoben«, informierte er Anatol weiter und boxte ihn leicht in die Seite. Die erzwungene Nähe im Flugzeug machte Anatol langsam Sorgen.

Die Schweden freuen sich aufs Kennenlernen, las Zachy vor.

»Ich bin auf der Hut«, antwortete Anatol und zog sich die Entenjägermütze tief ins Gesicht.

Martha stand gerade beim Fotokopierer im Lehrerzimmer, als das Flugzeug mit Anatol und Zachy abhob.

»Ich möchte noch unbedingt Ihre Petition unterschreiben!«, kündigte die Werklehrerin an und hob dabei eine Kiste Sägen hoch.

»Jederzeit!«, meinte Martha.

Zwei Kolleginnen, die sich etwas weiter weg unterhalten hatten, drehten kurz den Kopf, bevor sie ihr Gespräch wieder fortsetzten. Auch ohne euch wird die Liste lang genug sein, dachte Martha und öffnete die Klappe des Kopierers. Während sie ein Arbeitsblatt auf das Vorlagenglas legte, hörte sie die eine sagen: »Mein Mann wird nochmal ausgezeichnet, so ernst wie er das Aufräumen der Garage –« und weil Martha eben auf die Taste des Kopierers gedrückt hatte, konnte sie nicht hören, ob er darüber hinaus etwas ernst nahm, sah nur die Frau mit den Augen rollen. Ermüdung durch die Eigenschaften des anderen, dachte Martha, griff nach den Kopien, während, wie Martha aus den Augenwinkeln bemerkte, die andere jetzt ein Foto auf ihrem Telefon herzeigte: »Wir haben uns gerade erst kennengelernt –« und in das anerkennende Nicken der Kollegin hörte Martha: »Das koreanische Restaurant ist sehr empfehlenswert.«

Weniger gibt es über eine Person nicht zu sagen, dachte Martha. Aber Hauptsache, man konnte ein Foto herzeigen – und das Essen war gut. Mit dem Stapel Kopien verließ sie das Lehrerzimmer.

Im Ganggetümmel der Pause musste Martha im Anschluss darüber nachdenken, dass ihre Volksschulkinder erst am Anfang der Verstrickung standen. In ein paar Jahren würden sie vom Verlangen geflutet werden, vielleicht würde das Sehnen – Martha seufzte unwillkürlich – von ihnen Besitz ergreifen, im Moment folgten sie der Anziehung gänzlich unbeschwert. Und Martha, die ihre Schüler beobachtete, empfand Respekt vor diesem Gefühl, das sie schon als Abgrund gesehen hatte. Sie grüßte die Religionslehrerin, die soeben ihre Klasse verlassen hatte, legte die Kopien auf ihr Pult, setzte sich nieder, blickte einen Moment in das Pausengeschehen, drehte den Kopf und sah aus dem Fenster. Sie hatte sich gefreut, als er gegen die Scheibe geklopft und ihr zugewinkt hatte, dachte sie noch, dann läutete schon die Schulglocke.

Anatol und Zachy fuhren mit dem Heathrow Express zur Paddington Station. Von dort konnten sie zu Fuß das Novotel erreichen. Sie bezogen ihre Zimmer im achten Stock und verabredeten sich bei der Hotelbar.

Während Anatol mit seinem Zeigefinger den Schriftzug Diet Coke entlangfuhr und Zachy Erdnüsse aus einer Schale neben seinem stillen Wasser fischte, sprach am Flachbildschirm über der Hotelbar der Pentagon-Chef auf CNN. Anatol, der Zachy beneidete, wie selbstverständlich ihm das Englisch nicht nur über die Lippen kam, sondern er auch jeden auf Anhieb verstand, bemühte sich, den Worten zu folgen.

Er glaube nicht daran, sagte der Pentagon-Chef, dass die Kriege auf der Welt in hundert Jahren noch von Menschen auf Schlachtfeldern geführt werden würden. Anatol lehnte sich etwas nach vorne. »Die Menschen werden nicht mehr selbst töten. Sie lassen lediglich töten«, und der Pentagon-Chef schwärmte, kam es Anatol vor, von Nexter Optio, einem unbemannten Kampfpanzer. Ein Pling ertönte in Zachys Brusttasche, der sein Telefon hervorholte. Sein Gesicht wurde ernst.

»Es wird doch nicht der Pentagon-Chef sein«, sagte Anatol.

»Bloß mein Vater«, murmelte Zachy, tippte schnell etwas, seufzte kurz.

»Kriegsmüde – das wird Nexter Optio nie werden«, kommentierte Anatol den weiterlaufenden Fernsehbericht. »Und das Desertieren ist gleich mit abgeschafft, ganz zu schweigen vom Mitleid.«

»Kriegsmüde, Desertieren, Mitleid«, murmelte Zachy so, als ob es eine Bewandtnis für sein Leben hätte.

»Das Machbare verändert das Zumutbare«, erklärte unterdessen eine Ethikprofessorin, die für den Fernsehbericht interviewt wurde. Anatol runzelte angestrengt die Stirn, hoffte auf eine Übersetzung von Zachy.

»Und wenn nichts mehr zu machen ist«, sagte Zachy nur leise. Anatol wiederholte den Satz geistesabwesend.

Der Pentagon-Chef, der erneut eingeblendet wurde, betonte: »Niemand soll mehr töten müssen.« Von der Bar ertönte das Zerkleinern von Eiswürfeln. Zachy beförderte eine Handvoll Erdnüsse in seinen Mund. Anatol nahm einen Schluck Diet Coke. Zachy wischte das Salz von seiner Hand und griff nach seinem Mineralwasser, das er austrank. Auf dem zurückgestellten Glas hafteten Salzreste. Er steckte sein Telefon in die Brusttasche und erhob sich: »Ich treffe noch eine Bekannte«, sagte er, stieß dabei gegen den niedrig gehängten Lampenschirm.

»Um neun sollten wir morgen auf der BETT-Messe sein«, erinnerte Anatol.

»Wir sehen uns um sieben beim Frühstücksbuffet!«, versprach Zachy und über die Schulter rief er noch: »See you tomorrow

Anatol nahm die letzte Erdnuss aus der Schale und blickte ihm nach. »See you tomorrow«, murmelte er, der mandarinfarbene Lampenschirm über ihm schaukelnd.

Beim Frühstücksbuffet am nächsten Morgen erzählte Zachy, dass er gestern vergeblich auf seine Verabredung gewartet habe. Es schien ihn weder zu ärgern noch zu beschäftigen, ganz so, als hätte er Verständnis dafür, dass er versetzt worden war. So bekannt ist sie ihm also noch gar nicht gewesen, die Bekannte, schloss Anatol.

»Wir sind sowieso wegen der Messe hier«, erinnerte sich Zachy.

»Ich würde lieber ins Museum gehen«, murmelte Anatol.

»Heute wird es ohnehin reichlich Möglichkeit geben, sich auszutauschen«, meinte Zachy. Von welcher Art Austausch Zachy sprach, war sich Anatol nicht ganz sicher.

»Gespräche ohne Ende«, stellte sich Zachy offenbar vor.

»Ich freue mich schon jetzt aufs Bett«, erwiderte Anatol, allein vom Gedanken an die vielen Gespräche erschlagen.

»BETT ohne Ende!«, sagte Zachy und lachte.

Anatol und Zachy brachen schließlich zum Messegelände auf. Sie nahmen zuerst die U-Bahn zur Station Tower Hill, überquerten dort die Straße und wechselten, den Tower of London hinter sich, bei der Station Tower Gateway in die Docklands Light Railway.

Anatol mochte nicht nur diese Bahn ohne Fahrer, wie er kurz vorm Einsteigen kundtat, er beneidete sie sogar um ihre Fahrtüchtigkeit ohne menschliche Anwesenheit. »So stelle ich mir meinen Idealzustand vor.«

Zachy blickte ihn verwundert an. »Du?« Als er noch etwas hinzufügen wollte, war Anatol schon drinnen und hatte einen Platz ganz vorne ergattert.

Die Bahn setzte sich in Bewegung und sie durchquerten den Osten Londons. Anatol konnte den Verlauf der Schienen wie ein Lokführer durch die Fensterfront vor sich sehen. Ein zentraler Computer steuere die Bahn mithilfe von Sensoren auf den Gleisen, lieferte Zachy unaufgefordert Informationen von seinem Telefon, während sie durch die Docklands fuhren. Halbhohe Gebäude aus den Fünfzigern, heruntergekommene Sozialsiedlungen aus den Sechzigern, dazwischen Brachland, erneut abgelöst von braun-rötlichem Backstein. Zachy tippte auf die Scheibe rechts: Gläserne Wolkenkratzer ragten empor.

»Ich mag verspiegelte Fenster«, sagte Anatol. Zachy sah ihn von der Seite an. Im Grunde war Anatol selbst so undurchsichtig wie ein verspiegeltes Fenster, dachte er. Beim nächsten Halt fielen ihm Anatols lautlose Lippenbewegungen auf. Ob er die Fenster tatsächlich zählte, fragte sich Zachy.

Anatol sah weiter auf das vorbeiziehende London. Das schmutzige Rot der Gebäude, das abblätternde Senfgelb der Kräne im Hintergrund, das Grau der sie flankierenden Straßen, die braunen Äste der kahlen Bäume. Strahlende Farben hingegen in der BETT-Broschüre, in der Zachy jetzt blätterte. »Ewiger Frühling«, kommentierte Anatol, als er einen kurzen Blick darauf warf. Dann schaute er wieder hinaus auf die verrührten Farben des ausklingenden Winters.

Immer mehr Personen stiegen zu. Aber sie mussten sich nicht durchdrängeln, um auszusteigen, die Mehrzahl verließ an der Station Custom House (for ExCeL) die Bahn. Als wären sie in der Zeit stecken geblieben, machten Bahnwärter mit Trillerpfeifen auf den Spalt zwischen Bahn und Bahnsteigkante am viel zu engen Bahnsteig aufmerksam. Es ging nur im Schritttempo voran und Anatol beäugte dabei die Menschen, die zur BETT-Show kamen. Durchschnittliche Menschen, die eher ihm als Zachy glichen, dachte er.

Während der Menschenstrom mehr und mehr ins Stocken geriet, zeigte Zachy auf die Ankündigung der Key Speaker auf einem Plakat. Vielleicht werde Anatol ja auch noch ein Top Educational Influencer. »An der Massentauglichkeit müsste man bloß ein wenig drehen«, meinte Zachy. »Mmh«, machte Anatol. »Soll ich dich auf Zack bringen?« Nein, Zac. »Ein klitzekleines bisschen auffrischen und schon –!« Ein Pfiff ertönte aus der Trillerpfeife.

Über dem Einlass prangte in Pfauengrün: BETT – eine Reise ins Morgen! Ihre Ausweise wurden gescannt und gefaltet in eine Schutzhülle gesteckt. Als Anatol die Halle betrat, das rote Band mit seinem Namen und Curriculum Consultant um den Hals, blieb er einen Moment stehen. Grenzenloses Lernen stand in riesengroßen Lettern auf einem Banner, geziert von vier Quadraten in Gelb, Türkis, Hellgelb und Weiß. Darunter Wissen durch Erleben auf einer bonbonfarbenen Stellwand, an der VR-Brillen hingen. 21st Century Skills unweit davon in Neongelb vor schwarzem Hintergrund. Auf zum Mars – unsere virtuelle Mission! war in Glitzerschrift über einem raumschiffartigen Gebilde zu lesen. Bei dem Verkaufsstand gegenüber zeigten sich junge Frauen, die Haare zu Zöpfen geflochten, in blassblauen knöchellangen Kleidern mit zugeknöpftem Kragen beschäftigt. Sie verkauften tatsächlich Holzprodukte.

»Anatol, das ist doch was für dich!«, sagte Zachy und Anatol dachte konsterniert, ob er in Zachys Augen genauso fremd wirkte wie diese Frauen in seinen. Zachy zog ihn am Ärmel. Ein überlebensgroßer Roboter stakste an ihnen vorbei. Auf einem Board, das der Roboter in seiner Drahthand hielt, stand in blinkenden Buchstaben: Mein Sohn hat mich gebaut. Anatol blickte ihm nach. Der Roboter stieß mit einem seiner ungelenken Beine leicht gegen einen Stand. Die darauf gestapelten Kugelschreiber in Mintgrün rollten auf den Boden. Ein Schriftzug leuchtete im Dunkeln auf, wie Anatol bemerkte, als einer der Kugelschreiber unter einem Stand zum Liegen kam. Der Roboter war inzwischen nach rechts abgebogen und unter Kreieren-Kombinieren-Brillen verschwunden. »So einen Stift bring’ ich Kais Sohn mit!«, rief Zachy und bückte sich. Anatol legte den Kopf in den Nacken. Von der Decke hing ein Wort aus sechs Buchstaben, thronte über allem, bunt wie ein Karussell und funkelnd wie ein Edelstein: Google.

Nach der Besprechung kam Martha mit einem erhellten Gesicht aus dem Direktorinnenzimmer. Die kopierte Unterschriftenliste lag jetzt auf dem Pult der Direktorin, unübersehbar.

Mit ihren eigenen Waffen geschlagen!, frohlockte Martha, die es bis vor Kurzem nicht für möglich gehalten hätte, dass aus der allseits belächelten WhatsApp-Gruppe tatsächlich eine lange Unterschriftenliste folgen könnte. Am Ende hatten beinahe alle Lehrer unterschrieben. Damit sich in einem nächsten Schritt doch noch die Eltern überzeugen ließen, sollte sie sich bald etwas überlegen.

Aber jetzt rief sie erst einmal ihre Mutter an: »Wie oft hast eigentlich du jemanden mit den eigenen Waffen geschlagen?«

»Nun ja«, sagte die Mutter.

Nach dem Auflegen fiel Martha ein, wie ihre Mutter vor ein paar Monaten zum Altersheim nebenan herübergedeutet und erklärt hatte: »Wenn sie drüben wollen, dass die Leute ihre Medikamente schlucken, versprechen sie ihnen ein zweites Dessert!« Martha schlug sich an den Kopf: »Ein zweites Dessert!« Ja, genau so musste sie es mit den Eltern angehen! Am besten würde sie heute noch zu tüfteln beginnen – und das Süßen keineswegs Nils’ Vater überlassen.

Auf jeden Fall sollte auch Frederika von ihrem Sieg erfahren. »Zertrümmert die Träume, Kinder zu überwachen!«, freute sich Frederika mit ihr.

»Das muss gefeiert werden!«, rief Martha ins Telefon.

»Lynn ist bestimmt dabei«, meinte Frederika, merkte an: »Am Klopfbalkon hat ja schließlich bloß eine Person Platz.«

Martha zählte unterdessen auf: »Der Hund, den ich dir zu verdanken habe, das Ende der KREIDE – was könntest du sonst noch in die Wege leiten?«

»Irgendwo ein Kandidat zum Verlieben? Nenne mir den Namen und ich nehme alles in die Hand!«, hatte Frederika sofort eine Idee.

Mir würde da schon einer einfallen, dachte Martha; fragte sich, ob er ihr die Unterschriftenliste übel nehmen würde.

»Ich bin ganz Ohr!«, sah Frederika ihre Zeit gekommen. Martha lachte jedoch nur.

Die Unterschriftenliste im Blick, tätigte Frau Blecha in ihrem Büro verschiedene Telefonanrufe und setzte eine Lehrerkonferenz für Anfang nächster Woche fest. Sie saß deswegen am Abend noch in der Schule, während in einem anderen Land mit einer Stunde Zeitverschiebung für Zachy und Anatol der erste Tag der BETT-Messe zu Ende ging. Obwohl Zachy bereit gewesen wäre, in der Bahn ganz nach vorne zu stürmen, winkte Anatol bloß ab und setzte sich auf den erstbesten Platz. Zachy ließ sich neben ihm nieder. Dabei fielen ihm mehrere Kugelschreiber aus der Jackentasche.

»Ich dachte, du wolltest nur Kais Sohn einen mitbringen?«, sagte Anatol mit müder Stimme.

»Sie leuchten so schön im Dunklen«, erwiderte Zachy und hielt Anatol einen hin: »Hier – damit du unsere Reise nicht vergisst!«

»Niemals«, sagte Anatol, und mit schlaffer Hand nahm er den mintgrünen Kugelschreiber entgegen und steckte ihn ein. Sobald die DLR-Bahn losgefahren war, lehnte er seinen Kopf gegen die Glasscheibe. Unterdessen durchforstete Zachy die gesammelten Faltblätter von der Messe. London zog ein weiteres Mal an Anatols Augen vorbei, schwer seine Lider.

»Das ist ja eine bemerkenswerte Sache«, rief Zachy zwischendrin, und: »Das zeig’ ich morgen den Schweden!«, und: »Das wird auch Kai interessieren!«

Wie schaffe ich es jemals wieder auszusteigen, dachte Anatol und drehte seinen Kopf an der Scheibe zum aufflackernden Pfeil – Notausgang.

Tags darauf trafen sich Anatol und Zachy direkt vor dem Eingang zur Messehalle. Obwohl sie diesen Treffpunkt am Abend davor vereinbart hatten, hatte Anatol beim Frühstücksbuffet nach Zachy Ausschau gehalten.

Zachy winkte Anatol bereits von Ferne und meinte dann: »Ich hab’ dich gleich an deiner Mütze erkannt!« Gemeinsam gingen sie hinein. Sie bewegten sich durch die verschiedenen Sektoren, vieles hatten sie gestern schon gesehen. Immer wieder mussten sie warten, um voranzukommen, so groß war der Andrang. Sogar ganze Schulklassen wurden durch die Halle manövriert. Anatol beobachtete, wie die Schüler blödelten. Vielleicht die beste Antwort auf die Verblödung hier, dachte er mit einem Rundumblick. Da hörte er Zachy rufen: »Die Schweden!«, drehte den Kopf, sah ihn auf ein Schild unweit zeigen. Freedom! Empowerment! Innovation! Willkommen im neuen Lernen, las Anatol beim Näherkommen, während Zachy längst Hände schüttelte. Für einen Moment verfolgte Anatol die Probeschulstunde am Computerschirm, an dem »Süßigkeitenmengenlehre« eingeblendet stand und der blonde Kopf einer Lehrerin darunter zu sehen war – mit dem Hinweis, dass aus Sicherheitsgründen alles aufgenommen wurde –, dann kam auch er zum Stand.

»Nice to meet you«, ein Mann mit schwarzen dichten Augenbrauen streckte Anatol die Hand entgegen. Er sagte ein paar weitere Sätze, und obwohl es sich um Floskeln handelte, reichte es aus, um in Anatol eine Befürchtung zu wecken, die sich in einem Gespräch mit Schweden nur als wahr entpuppen konnte: Abermals sprach jemand viel besser Englisch als er.

Nach diesem Treffen, das nicht allein den ganzen Vormittag in Anspruch genommen, sondern überdies ein gemeinsames Mittagessen inkludiert hatte, bei dem die Pläne für eine Zusammenarbeit konkretisiert worden waren, war Anatol so ausgelaugt, dass er am liebsten ins Hotelzimmer zurückgekehrt wäre. Er trottete neben dem von den Schweden schwärmenden Zachy weiter die Messegänge ab.

Als der Roboter wieder einmal vorbeikam, fragte Zachy: »Willst du nicht deine Mütze lüpfen, Anatol?« Der Roboter schritt mit seinen steifen Beinen an den jungen Frauen in den langen Kleidern und den von ihnen angebotenen Holzprodukten vorüber. Zachy wies auf das Transparent über ihren geflochtenen Zöpfen, glaubte es für Anatol übersetzen zu müssen, schließlich war er bei den Schweden öfter eingesprungen: »Sobald du aufhörst zu lernen, beginnst du zu sterben – Einstein.«

»Der Roboter darf also nicht einmal sterben«, brummte Anatol bloß und stieß beinahe gegen eine hölzerne Werkbank.

»Ob das Einstein wirklich je so gesagt hat«, stellte unterdessen Zachy infrage, wandte sich an eine der jungen Frauen. Die Frau erwiderte Zachy ungerührt: »Alles, was hier gesagt wird, ist ja niemals zuvor gesagt worden.«

Anatol hatte sich lieber eine Broschüre genommen, blätterte sie durch, las: »Unsere Produkte fördern das Learning By Doing«, schaute auf – hatte Zachy ihn gerufen? – las weiter: »Grundlegend für den späteren Gebrauch elektronischer Technologie«, steckte sie ein und blickte sich nach Zachy um. Er sah ihn schon am nächsten Stand vorbeischlendern, dort holte er ihn ein.

»Das waren übrigens Hutterer«, sagte Zachy und zeigte zurück.

»Hutterer?« Anatol runzelte die Stirn.

»Gehören zu den Täufern – radikal-reformatorische Christen«, wusste Zachy jetzt, nachdem ihm die junge Frau Auskunft gegeben hatte, während Anatol die Broschüre – weniger aufmerksam, wie er zugeben musste – studiert hatte, und Zachy hängte an: »Auf einen Smoothie später hat sie sich allerdings nicht treffen wollen.«

»Täufer auf einer Tech-Messe« – Anatol amüsierte sich.

»Vielleicht kommt sie ja doch noch zum Smoothie-Stand«, meinte Zachy und peilte nun die Aula an, die in der Mitte der Halle zeltartig aufragte. Er schlug vor, sich einen Vortrag über ein Lernprogramm anzuhören. »Solange er nicht von Jeff Koerner ist«, antwortete Anatol.

Sie betraten die abgedunkelte Aula. Zachy visierte eine der vorderen Sitzreihen an, und Anatol musste daran denken, wie sich Zachy im asiatischen Imbiss sogleich an einen Tisch in der Mitte setzen hatte wollen. Er nahm neben Zachy Platz und sah auf die raumfüllende Leinwand, sein Blick durchkreuzt von Zachys Arm beim Ausziehen seiner Lederjacke. Die Vortragenden betraten wenig später die Bühne, das Scheinwerferlicht auf sie gerichtet, die Headsets bereit. Sie gaben einen Einblick in die Entstehungsgeschichte ihres Lernprogramms – zu Anatols Überraschung problemlos zu verstehen –, zitierten Studien, die zeigten, dass der Einsatz neuer Technologien eine verbesserte Lernleistung für Schülerinnen mit speziellen Bedürfnissen bewirkte, und luden zu einem kurzen Film ein. »In unserem Film kannst dann du etwas zur Entstehungsgeschichte der KREIDE sagen«, meinte Zachy zu Anatol, der einen Seufzer ausstieß.

Unterdessen sah man auf der Leinwand einen Jungen vor einem Computer. George, sieben Jahre, wurde eingeblendet, Autismus-Spektrum-Störung. Die Filmszenen wurden von Musik untermalt. Anatol sah, wie seine Sitznachbarin Tränen wegblinzelte. »George schaut nicht besonders froh aus, gefilmt zu werden«, flüsterte Anatol. Zachy legte den Zeigefinger auf den Mund. Die Kamera schwenkte zu den Eltern. Die Technologie sei eine Entlastung, sagte Georges Vater, sichtlich erschöpft.

Der Film erhielt am Ende Applaus, der George aller Wahrscheinlichkeit nach trotz des Lernprogramms sein Leben lang verwehrt bleiben würde, dachte Anatol. Die Vortragenden kamen zurück auf die Bühne und meinten, dass der Erfolg des Lernprogramms alle überrascht habe. Und es fänden Überlegungen statt, dieses generell an britischen Schulen einzuführen. »Warum generell?«, fragte Anatol in das erneute Klatschen. Zachy tippte etwas in sein Telefon. Bei Koerner hatte er sich noch mit einem Stift Notizen gemacht, dachte Anatol. Die Vortragenden verbeugten sich und als sie die Bühne verließen, ertönte Musik. Zachy erhob sich: »Ich werde beim Smoothie-Stand erwartet.« Er hat sich gar keine Notizen gemacht, wurde Anatol klar und er sagte mit dem gleichen Abenteurerlächeln: »Ich habe mir eine Zigarette verdient.«

Warum er eigentlich das Rauchen geradezu hochhalte, fragte darauf Zachy, aber jede technologische Erfindung als Lobbyprodukt abtäte, und schlüpfte in seine Lederjacke: »Wenn hier etwas Opfer von Kapitalinteressen geworden ist, dann ist es die Lunge von Anatol Penzel und nicht irgendein Schülerhirn.«

»Hauptsache, die Seele bleibt gesund wie ein Smoothie!«, rief ihm Anatol hinterher.