X
Nebelwald

Anatol stand vor der Scheibe und lugte hinein. Eine Stehleiter aus Holz befand sich in der Mitte des Raumes. Mehrere weiße Kübel standen darum herum. Tische und Stühle waren zusammengeschoben und gestapelt worden. Der Getränkeschrank war mit der Vorderseite zur Wand gedreht, der Stecker lag herausgezogen am Boden. Die Theke war mit einer Plastikplane abgedeckt und nicht nur die Kette mit den chinesischen Lampions abgehängt, sondern auch der blaue Schnurvorhang. Einen Hinweis, wann die Renovierungsarbeiten beendet sein würden, gab es noch immer keinen. Nur das Schild Vorübergehend geschlossen hing nach wie vor an der Glastür.

»Hoffentlich sperrt er bald wieder auf«, sagte da eine Stimme neben ihm. Anatol drehte seinen Kopf abrupt zur Seite: Es war Martha Kopetzky! Sie lächelte ihn an, während ihr Hund an ihm schnüffelte.

»Sie ist nicht zu allen so freundlich«, meinte sie.

»Dann scheine ich ja Glück zu haben«, sagte Anatol, ließ sich beschnuppern, fragte, nachdem der Hund schon kurz danach von ihm abließ: »So schnell das Interesse verloren?«

»Sie hält Sie wohl nicht für einen Feind«, rückte Martha es zurecht, dachte: Oder Erzfeind. Einen Moment lang schauten sie darauf alle in den Imbiss, sogar der Hund.

»Ich hätte der KREIDE keinen Preis verliehen«, sprach Anatol unvermittelt in das Spiegelbild.

»Die Begeisterung wird sich auch wieder legen«, erwiderte Martha, ohne den Kopf zu wenden.

»So wird es geschehen«, murmelte Anatol.

»Warum nicht nachhelfen«, meinte Martha und drehte den Kopf zu ihm. Anatol schwieg lieber, bevor er etwas Falsches sagte.

»Ich habe eine neue Petition gestartet«, teilte Martha ihm da mit.

»Das überrascht mich nicht im Geringsten«, erwiderte Anatol, war allerdings mehr als verblüfft.

»Sie läuft bis Mitte Juni.«

Anatol blickte in den Imbiss.

»Ich schick’ sie Ihnen an die Adresse, die ich vom Bildungsministerium habe«, sagte sie. »Man kann ja nie wissen«, fügte sie hinzu, lächelte, strich sich noch eine Locke aus dem Gesicht, dann richtete sie sich an Izzy, sprach: »Vielleicht stöbern wir einen weiteren Befürworter auf!«, verabschiedete sich von Anatol und ging davon.

Anatol sah ihr lange nach. Und tatsächlich: am Ende der Straße drehte sie sich, bevor sie abbog, nochmals um. Er hob die Hand und sie winkte zurück.

Auf dem Heimweg hallten Marthas Worte in Anatol nach: »Sie läuft bis Mitte Juni«, »Ich schick’ sie Ihnen an die Adresse, die ich vom Bildungsministerium habe«. Und bei sich zu Hause angekommen rief er sogleich seine E-Mails ab. Aber keine Nachricht von Martha Kopetzky. Die letzte, überschlug er, musste mehr als ein halbes Jahr zurückliegen. Er hatte sie an Zachy weitergeleitet, weil er sich selbst nicht mehr damit befassen wollte, dachte er beschämt. Er blieb einen Moment am Küchentisch sitzen. Seine Augen wanderten zum Kühlschrank mit der Schneekugel aus seinem Büro und der Teilnahmebestätigung der BETT-Messe an der Tür – hatte er sie nicht als Warnung aufgehängt?

In dem Moment erfolgte der Benachrichtigungston einer eingetroffenen E-Mail. Sosehr er sich immer über Zachy lustig gemacht hatte, dass sein Blick sich sofort aufs Gerät heftete, tat seiner nun dasselbe. Die Nachricht war von Zachy. Immer mehr Schulen würden ein konkretes Interesse an der KREIDE zeigen und sich bald mit seiner Abteilung in Verbindung setzen, schrieb er. Nur Kai, der mache ihm jetzt wirklich Sorgen. »Er hebt das Telefon nicht mehr ab«, berichtete Zachy, »das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war auf WhatsApp: ›Terrasse‹ hat er geschrieben, in acht Mitteilungen – in jeder ein Buchstabe«, und Zachy folgerte: »Vor Herbstbeginn wird wohl kaum mit ihm zu rechnen sein.«

Während Anatol noch Zachys weitere Zeilen las, erschien eine neue Nachricht im Posteingang. Der Absender: Martha Kopetzky! Anatol öffnete die Mail sofort. Kommentarlos hatte sie ihm das Link zur neuen Unterschriftenliste geschickt. Er hätte abgestritten, dass er darüber enttäuscht war. Hörte er nicht ohnedies ihre Worte: »Sie läuft bis Mitte Juni«, »Man kann ja nie wissen«. Wieder und wieder wirbelten ihre Sätze durch seinen Kopf.

»Man kann ja nie wissen«, wie viele Befürworter hatte sie wohl aufgestöbert? Er ging zum Kühlschrank, griff nach der Schneekugel und schüttelte sie. Er stand mitten im Gestöber, aber hielt dabei Giselas Hand.

Du hast ihm tatsächlich die Petition geschickt?«, fragte Frederika Martha im Los Tacos.

»Mit einer Unterschrift würde er sich Probleme einhandeln«, sagte Lynn, nippte an ihrem Cocktail.

»Er wird sowieso nicht unterschreiben«, meinte Martha, seufzte.

Lynn legte ihren Kopf schief. Frederika betrachtete sie neugierig.

»Er arbeitet im Bildungsministerium«, versuchte Martha damit jegliche Spekulation aus der Welt zu schaffen, »in der Abteilung für die«, sie zog es in die Länge: »KREIDE

Lynn zuckte mit den Schultern: »Joshua und ich hatten die Buchmalerei, verbindet bei Gott nicht jeden – und schau uns jetzt an!«

»Er ist wahrscheinlich verheiratet, hat vielleicht sogar Kinder«, sprach Martha mehr zu sich.

»Das heißt gar nichts«, erwiderte Lynn und winkte ab.

»Hat Joshua nicht zu rauchen aufgehört?«, fragte Frederika da, wertete es als gutes Zeichen, schließlich hatte es sich Lynn lange genug gewünscht. »Aber uns anzuschweigen schaffen wir nicht uns abzugewöhnen«, antwortete Lynn traurig.

»Soll ich mich einmal mit ihm unterhalten?«, meinte Frederika: »Wer Krebs gehabt hat, versteht was vom Glück.«

Weil Frederika lachte, erlaubte es sich Lynn ebenso. Martha wiederholte gedankenverloren: »Glück.«

Anatol ging vor zur Wallensteinstraße und bestellte im türkischen Imbiss einen Kebab zum Mitnehmen. Es war noch vor zwölf, aber er hatte nichts gefrühstückt. Mit dem Sack am Handgelenk sperrte er die Wohnungstür auf. Er steuerte den Küchentisch an, schob seinen Laptop auf die Seite, stellte das Essen ab, wusch sich die Hände und wickelte den Kebab aus der Frischhaltefolie. Er setzte sich hin und biss in das Fladenbrot, ein Zwiebelring fiel auf eine der mitgegebenen Servietten.

Beim Kauen dachte Anatol an all die Anfragen an seine Abteilung wegen der KREIDE, die noch abgearbeitet werden mussten. Es wurde scheinbar mit jedem Bissen mehr. Er wischte sich den Mund mit einer frischen Serviette ab, warf sie in die Folie zu der mit dem Zwiebelring und knüllte alles zusammen. Er säuberte die Tischplatte, griff nach dem Laptop und öffnete das E-Mailprogramm.

Auf einmal fühlte er sich bleiern. Er erhob sich ächzend vom Küchentisch, um sich eine Cola zu holen. Als er die Kühlschranktür aufmachte, hielt er inne. Die Teilnahmebestätigung der BETT-Messe fehlte plötzlich. Er starrte die Kühlschranktür an. Kalte Luft drang aus dem geöffneten Spalt. Der Bildschirm mit den unbeantworteten Nachrichten schaltete in den Ruhezustand. Der Zwiebelring schwitzte in der Folie.

Da erst blickte Anatol auf den Boden. Die Teilnahmebestätigung war halb unter den Kühlschrank gerutscht, mit der bedruckten Seite nach unten. Er bückte sich, die Kühlschranktür noch immer einen Spalt offen, hob das Blatt auf und setzte einen der Magneten darauf. Dann holte er die Dose Cola light heraus und warf die Tür zu. Schnee wirbelte in der Kugel auf. Der Kühlschrank brummte.

»Worauf wartest du?« Der Bildschirm schwarz wie eines der Fenster in London. Der Cola light-Schriftzug ihr roter Seidenschal. »Worauf wartest du?«

Anatol machte mit einem Mal das Radikale keine Angst mehr.

Er rief Marthas E-Mail auf, öffnete das Link, das sie ihm zugeschickt hatte, und unterzeichnete die Petition. Hinter seinen Namen setzte er: Bildungsministerium.

Sehr geehrte Frau Kopetzky, sollte ich Ihre Fragen in der Vergangenheit nicht zufriedenstellend beantwortet haben, so tut es mir leid. Meine Unterschrift finden Sie auf der Petition. Mit freundlichen Grüßen, Anatol Penzel.«

Martha zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie die Nachricht las. In der Schule war gerade die Pause vor der fünften Schulstunde. Die Kinder spielten draußen im Hof. Dunja rannte ein paar Buben hinterher, die im Slalom davonjagten, vorbei an der Schaukel, Richtung Ballkäfig, in dem ihre Klassenkameraden den Korb zu treffen versuchten. Dunja rief im Laufen zur Schaukel nach Verstärkung, aber ihre Freundinnen, die dort konferierten, waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft.

Martha schickte heimlich – wie eine Schülerin – eine Nachricht: »Er hat unterschrieben!«, schrieb sie an Frederika und Lynn.

»Martha Kopetzky kann man nicht widerstehen, wusste ich’s doch!«, kam von Frederika zurück.

Lynn schrieb: »Gratuliere! PS: Joshua hat sich verliebt – in eine Lungenfachärztin. Kein Witz. Ihr Kind geht in seinen Kindergarten.« Das Book of Kells – mehr als tausend Jahre alt! – einfach zerrissen: Das schrieb Lynn nicht.

Martha antwortete sogleich und Dunja bekam im selben Moment einen ihrer Mitschüler am Ärmel zu fassen. Doch der machte einen Satz nach vorne, stieß dabei gegen Martha, sodass ihr das Telefon aus der Hand fiel. Er schaute sie erschrocken an, während Dunja das Telefon aufhob und Marthas Antwort langsam laut vorlas: »N-i-k-o-t-in u-nd L-ie-be: kom-p-l-i-z-ier-t.« Die Mädchen bei der Schaukel schauten interessiert herüber, aber Martha hatte das Telefon schon wieder in ihren Besitz gebracht.

»Spielt nur weiter!«, rief Martha, auf nichts mehr erpicht, als weiter Nachrichten zu versenden.

Die Kinder zerstreuten sich wieder, die Mädchen bei der Schaukel steckten flugs ihre Köpfe zusammen, bloß eines beobachtete kopfüber von der Stange aus, wie ihre Lehrerin mit roten Wangen auf ihrem Telefon herumtippte.

Und Anatol las kurz darauf: »Sehr geehrter Herr Penzel, hiermit haben Sie alle meine Fragen beantwortet. Nur eine hätte ich noch: Was haben Sie im asiatischen Imbiss immer bestellt? Mit freundlichen Grüßen, Martha Kopetzky.«

K 13, sehr geehrte Frau Kopetzky!«, schrieb Anatol mit beschleunigtem Herzschlag. »Litschisaft habe ich übrigens noch nie probiert«, fügte er an. Er hat bemerkt, was ich getrunken habe, dachte Martha, während sie antwortete: »Wäre nicht gerade ein Anatol Penzel im Imbiss gesessen, hätte ich auch einen Tee bestellt«, ließ ihn wissen: »Nächstes Mal hätte ich es nicht so eilig!«, reichte nach: »Sehr geehrter Herr Penzel!«, dachte, Wenn Frederika und Lynn mir jetzt über die Schulter blicken könnten.

»Liebe Martha Kopetzky, verzeihen Sie, dass ich Sie damals verscheucht habe. Manchmal schlage ich mich selbst in die Flucht.« Warum habe ich das mit dem Tee bloß geschrieben, dachte Martha, schaute auf die Uhr, die Pause war gleich um, tippte schnell: »Lieber Anatol Penzel, Litschisaft kann ich Ihnen dafür nun empfehlen!«

»Ich werde es mir überlegen!«, kam es sofort zurück. »Meine Cola light wird er aber eher nicht ablösen«, und Anatol tat einen Schluck aus der Dose, die vor ihm am Küchentisch stand. Er nahm noch einen Schluck, und noch einen. Doch es traf keine Antwort ein.

Martha stand bereits in der Klasse und verteilte über verschiedene Tischgruppen Aufgaben, die die Kinder gemeinsam bearbeiten sollten. Die Tablets waren davor in ein Regal befördert worden, das Martha dafür freigeräumt hatte. Während die Kinder konzentriert arbeiteten, musste sich Martha zurückhalten, einen Blick auf ihr Telefon zu werfen; sie erhob sich, ging in der Klasse auf und ab, schob Gerrys Tablet etwas weiter in das Fach, damit es nicht hinunterfiel, rückte ein Bild zurecht.

Anatol wartete nach wie vor am Küchentisch, die Dose in seiner Hand knackte schon, er erhielt statt einer Nachricht von Martha eine von Zachy. Anfang kommender Woche werde er wichtige Besprechungen mit gleich drei Schuldirektorinnen haben, ließ er Anatol wissen und wünschte ihm damit ein schönes Wochenende. Noch weiß er nichts von meiner Unterschrift, dachte Anatol, aber weil er sich davor scheute, es ihm mitzuteilen, verschob er einen Anruf auf Montag. Über das Wochenende sollte er es von niemand anderem erfahren, rechnete sich Anatol aus, schaute auf den Bildschirm, hoffte insgeheim auf ein Pling, das eine Nachricht von Martha anzeigte.

Als die Schulglocke klingelte, sprangen die Kinder – gerade eben vertieft – auf, und Martha rief wie fast jedes Mal: »Und die Tablets nicht vergessen!« Sobald das letzte Kind die Klasse verlassen hatte, schnappte Martha ihr Telefon, öffnete die gekippten Fenster bis zum Anschlag, stellte sich an eines der Fenster und tippte: »Lieber Anatol Penzel, einen Litschisaft haben Sie bei mir gut!«

Anatol, der lange den Laptop angestarrt hatte und schließlich über sich selbst den Kopf schüttelnd aufgestanden war, hatte daraufhin absichtlich das Telefon in der Küche zurückgelassen, weswegen er das Eintreffen der Nachricht nicht sofort gehört hatte. Als er wieder aus dem anderen Zimmer kam und endlich bemerkte, dass Martha geschrieben hatte, ärgerte er sich deswegen. Eilends antwortete er: »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, löschte es aber, weil es ihm zu förmlich vorkam, schrieb nun: »Das freut mich sehr!«, löschte auch dies, weil es ihm wiederum zu vertraut erschien, schrieb schließlich: »Das K13 geht dann auf mich!«

Martha schrieb sofort zurück: »Abgemacht!«

Ihre formellen Anreden waren längst am Weg zueinander verloren gegangen.

Anatol schrieb: »Jetzt muss nur noch der asiatische Imbiss aufsperren!«

Martha dachte: Und wenn nicht?, hätte am liebsten geschrieben: »Das dauert zu lange«, stattdessen schrieb sie: »Der Augarten ist offen.«

Anatol zögerte plötzlich mit einer Antwort. Und weil von ihm unmittelbar nichts kam, ließ es Martha kurzerhand darauf ankommen: »Morgen um drei Uhr beim Haupteingang?«

Als Martha in der Früh die Augen öffnete, regnete es in Strömen. Sie rief sogleich den Wetterbericht auf. Für den ganzen Tag war starker Niederschlag angesagt und die Temperatur war um fast zehn Grad gefallen. Niemand würde bei diesem Wetter einen Spaziergang machen, dachte Martha, sogar der Hund sträubte sich bei seiner Morgenrunde. Sie kamen so nass zurück, dass Izzys Haare stiftartig abstanden, als Martha das Hundefell mit einem Handtuch abrubbelte.

Martha setzte sich an ihren Schreibtisch, bis zum Nachmittag gab es noch einiges zu korrigieren. Hoffentlich würde der Regen doch nachlassen. Aber im Gegenteil wurde er nur stärker. In regelmäßigen Abständen überprüfte Martha ihre Nachrichten, eine Absage von Anatol war zum Glück nicht dabei.

Anatol, der den ganzen Vormittag nervös auf und ab gegangen war, das Telefon nicht aus den Augen lassend, weil er befürchtete, dass Martha das Treffen auf einen trockeneren Tag verschieben wollte, erschrak, als tatsächlich eine Nachricht eintraf. Es war allerdings nur Geschäftliches von Zachy. Anatol beantwortete kurz die Nachricht, hielt jedoch plötzlich inne: Er konnte nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Er löschte den Text, legte das Telefon hin. Immerhin war es Samstag und nicht mit einer Antwort vor Montag zu rechnen – worauf er allerdings erneut das Telefon aufnahm. Keine Frage, es war richtiger, es gleich zu tun, und er wollte schon Zachys Nummer wählen. Andererseits ist es bereits einen Tag später, dachte er, ließ das Telefon wiederholt sinken. Aber er würde sowieso nicht darum herumkommen, versuchte Anatol es mit Vernunft, rührte sich indes nicht. Ich würde mich zweifellos hintergangen fühlen, musste er bekennen und darauf wählte er endlich die Nummer. Je eher du es hinter dir hast, desto besser, sprach er sich noch Mut zu, dann hob Zachy schon ab.

»Dass du mich anrufst, hätte ich an einem Samstag nicht verlangt«, sagte er am anderen Ende mit einem Anflug von Sorge. Anatol beruhigte ihn und suchte den richtigen Anfang, der nicht gelingen wollte. Gänzlich unvermittelt sagte er daher: »Ich habe die Petition unterschrieben.«

»Petition?«, fragte Zachy.

»Die von Martha Kopetzky.«

»Das ist doch längst passé«, sagte Zachy, etwas verwirrt.

»Sie hat eine neue gestartet«, eröffnete ihm Anatol.

»Wie bitte?«, rief Zachy entrüstet. Dann war es ruhig.

»Zachy?«, fragte Anatol in die Stille.

Zachy holte tief Luft, presste hervor: »Und du hast auch noch unterschrieben?«, und er murmelte: »Gut, dass der Kai schon sein Burn-out hat.«

»Nimm’s nicht persönlich«, sagte Anatol.

»Das Bildungsministerium könnte es persönlich nehmen«, erwiderte Zachy knapp.

»Das werde ich aushalten müssen«, meinte Anatol.

»Von mir kannst du dann keinen Trost erwarten«, kam es darauf vom anderen Ende kühl.

»Zachy«, stammelte Anatol.

Zachy räusperte sich und versuchte, siegessicher zu klingen: »Keine Petition wird mehr etwas der KREIDE anhaben können!«

Martha wartete schon, als Anatol zum Haupteingang des Augartens kam. Sie winkte, verlegen blickte er sie an. Die Unmittelbarkeit ihrer Nachrichten hatte sie vergessen lassen, dass sie sich im Grunde kaum kannten.

»Das ist ja ein Hundewetter«, richtete sich Anatol als Erstes daher an Izzy, die bei Anatols Anblick mit dem Schwanz zu wedeln begonnen hatte. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Hanna hat sich als Teenager immer einen Hund gewünscht«, sagte er inmitten des Tätschelns, es rutschte mehr aus ihm heraus.

»Hanna?«, fragte Martha, dachte: Hab ich’s doch gewusst, er ist nicht allein.

»Meine Tochter, also eigentlich Stieftochter«, verbesserte sich Anatol, und weil er spürte, dass damit eine Frage zwischen ihnen hing, sagte er: »Sie ist nach Giselas Tod« – seine Stimme brach kurz – »für ihre Forschung nach Costa Rica gegangen.«

Martha sah zu ihm, er wich jedoch ihrem Blick aus. Deswegen hat er im Imbiss damals so traurig gewirkt, dachte Martha, wollte sogleich nachfragen, aber fürchtete, ihm zu nahe zu treten, fragte also stattdessen, ob er auch schon einmal in Costa Rica gewesen sei.

Anatol schüttelte den Kopf. »Vielleicht diesen Sommer«, murmelte er. Martha nickte.

Sie setzten sich in Bewegung, gingen das erste Stück schweigsam. Tief hingen die Wolken über dem dunkel gefärbten Kies und der Regen ging auf sie hinunter. Der Hund zockelte an der Leine neben ihnen her. Außer ihnen niemand weit und breit.

»Gisela mochte jeder auf Anhieb«, sagte Anatol da in die Einsamkeit des Parks, fügte leise hinzu: »Mich ja eher nicht.«

Ich mag dich, dachte Martha, schaute auf die Kieselsteine unter ihren Füßen – gut, vielleicht nicht ganz auf Anhieb.

»Gisela war«, begann Anatol, brach ab, schaute in den Regen. Schweigend gingen sie nebeneinander weiter.

»Sie war«, begann er von Neuem, seufzte auf. In dem Moment hörte er Gisela laut: »Anatol, bitte! Das ist so eine gescheite Frau!« Anatol warf Martha, die nachdenklich auf ihre nassen Schuhspitzen sah, einen Seitenblick zu.

Er räusperte sich, meinte: »Der KREIDE eins auszuwischen – das hätte Gisela gefallen.«

Martha drehte den Kopf, lächelte.

»Nicht nur ihr«, sagte er, lächelte ebenfalls.

Martha blieb stehen – ihre Schirme berührten sich –, blickte ihn an, sprach ernst: »Ich kann mir vorstellen, dass das Bildungsministerium nicht sehr erfreut über Ihre Unterschrift sein wird.«

Anatol zuckte mit den Schultern. Nach ein paar weiteren Schritten stoppte er aber abrupt und es brach aus ihm heraus: »Über was ich dort alles die letzten Jahre nicht erfreut war!«

Der Hund schüttelte Tropfen aus seinem Fell.

»So sollte man es machen können, einfach alles abschütteln!«, wünschte Anatol mit Blick darauf und begann davon zu erzählen, was ihm alles aufstieß – ganz abgesehen von der KREIDE –, und Martha hakte ein, erzählte im Weitergehen von ihrem Unterricht, den Problemen, ihren Ideen und wenig später fingen sie zusammen an, Pläne für eine ganz andere Schule zu entwerfen – und damit hatten sie endgültig das Siezen hinter sich gelassen. Die Gedanken des einen spann der andere weiter, sie schweiften in Träume ab, kamen zurück auf die gegebene Situation, Martha knüpfte an die Vorschläge Anatols an und umgekehrt, sie teilten Bedenken, heckten konkrete Schritte aus – so, als hätten sie schon die längste Zeit nichts anderes gemeinsam getan. Der Regen trommelte dabei gegen die Schirme. Izzy blickte immer wieder zu Martha hoch, immer lustloser ging sie, aber sie nahmen einfach nicht den Ausgang, zu dem die Hündin bereits ein zweites Mal zog. Nur kurz einmal blieb Anatol stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Die Blätter der Bäume glänzten nass und es roch nach feuchter Erde. Anatol schickte sich an, die Packung aus der Hosentasche zu ziehen. Zuerst fiel ihm der Regenschirm aus der Hand, als Nächstes die Zigarettenpackung. Nachdem er beinahe noch auf sie gestiegen wäre, hatte er sie zu allem Überfluss falsch herum aufgehoben, sodass die Hälfte herausrutschte und sie einzeln auf den nassen Boden rollten. Martha musste laut lachen, klaubte sie auf und reichte ihm die Zigaretten, von denen die aufgeweichten im Mülleimer landeten. Schließlich hatte er eine brauchbare in der Hand und als er das Feuerzeug zückte und eine hohe Stichflamme erschien, nahm es ihm Martha ab, drehte am Rädchen und gab ihm schließlich Feuer. Mit dem Trommeln der Tropfen im Ohr nahm er den ersten Zug. Das Rot der Glut leuchtete auf. Er blies den Rauch unter seinem Schirm hervor.

Sie setzten sich erneut in Bewegung, gingen eine weitere Runde. Die ganze Zeit waren sie sonst niemandem begegnet, nur ein oder zwei Schirme in der Ferne. Als am Ende der Allee ein Jogger auftauchte, sagte Anatol im Scherz: »Bei so einem Wetter kann das eigentlich nur Zachy Reisinger sein!« Martha wollte sich gerade über Zachy äußern, da blieb Anatol wie angewurzelt stehen, zeigte auf den näherkommenden Jogger und hörte schon seine Stimme.

»Anatol Penzel mit Martha Kopetzky!« Zachy rief es so, als hätte er seinen Vorzugsschüler beim Anzünden der Schule erwischt. Anatol blickte verlegen unter seinem Schirm hervor. Zachy blieb stehen, das entgeisterte Gesicht regennass, starrte Anatol und Martha an, schlug sich dann gegen die Stirn: »Ich hätte es mir doch gleich denken können!«

Izzy knurrte leicht, sodass Martha die Leine knapper zog: »Ist schon gut, Izzy!«, und mit Blick auf Zachys tropfendes Haar: »An dem könntest du dir einmal ein Beispiel nehmen.« Der Hund schaute verdrossen zu ihr hoch.

»Anatol Penzel mit Martha Kopetzky!«, wiederholte Zachy, im Regen stehend, machte mit den Armen eine Geste Richtung Himmel, sodass der Hund nun verwundert schaute. Zachy ließ die Arme sinken, strich sich mit einer Hand das nasse Haar aus der Stirn, räusperte sich und wandte sich darauf direkt Martha zu: »Eines muss ich Ihnen lassen – die Anwendung der KREIDE haben Sie beispielhaft gezeigt!« Seine Stimme war voller Anerkennung.

»Ich konnte die Kinder nicht im Stich lassen«, erwiderte Martha und da blickte Zachy sie einen langen Moment an.

»Aber die Kinder haben sie bereits satt«, resümierte Martha, »der ewige Bildschirm«, und nach einer Pause verkündete sie: »Deswegen habe ich eine neue Unterschriftenliste gestartet.«

»Vor wenigen Stunden erfahren!«, rief Zachy in den Regen, sein Blick fiel hierbei auf Anatol, der gänzlich verstummt war.

Martha versuchte, an Anatols Gesicht abzulesen, ob dieser nur die Petition offenbart oder schon seine Unterschrift gebeichtet hatte, entschied sich vorsichtshalber, diese nicht zu erwähnen, sagte stattdessen: »Sie wollen wahrscheinlich nicht unterschreiben.«

Zachy lachte auf. »Eine Unterschrift aus unserem Lager reicht fürwahr!«, und blickte wieder Anatol an, dann meinte er: »Dabei kommt doch jetzt erst recht Schwung in die KREIDE

»Schwung hat auch unser Flügel«, sagte Martha und sah Anatol an, der darauf schüchtern lächelte. Zachy betrachtete die beiden, nickte und meinte: »Dann will ich mal nicht weiter stören!«

So viel Diskretion hätte ich ihm gar nicht zugetraut, dachte Anatol. »Ich muss ohnedies noch Ärger abbauen!«, sagte Zachy, verabschiedete sich – und joggte im Regen davon. Die Hand hob er im Laufen noch einmal, ohne sich umzudrehen.

Anatol blickte ihm nach. »Er versucht sein Bestes«, meinte er zu Martha, »ganz so schlimm ist er gar nicht«, Zachy bog um die Ecke, »für ihn sind wir halt Dinosaurier.«

»In der Kreidezeit!«, sagte Martha und lachte, auch er musste lachen.

Kurz standen sie unschlüssig da. Hätte einer der beiden aufbrechen wollen, wäre es jetzt der Moment gewesen. Sie gingen jedoch ein weiteres Mal die Allee entlang, und der Hund zog wiederholt umsonst Richtung Ausgang. Dafür nützte er den nächsten Halt, um endlich etwas vom Boden zu fressen. Anatol spürte dabei, wie sein Telefon in der Manteltasche seines Trenchcoats vibrierte. Wahrscheinlich hatte ihm Zachy eine Nachricht geschickt, dachte er. Aber sie konnte warten. Alles konnte warten. Er blickte zu Martha unter ihrem Schirm, ihre Lachfalten, umrahmt von ein paar Locken, die sich gelöst hatten, ihre Hand, die beim Sprechen auf und ab ging, mit ihr die Leine, sodass Izzy zu Martha hochschaute, ob sie vielleicht doch den halben Hotdog im Gras bemerkt hatte.

Der Regen ging weiter auf sie nieder, sie setzten ihre Runde fort, Anatol erzählte mit dem Rauschen des Regens im Hintergrund zum ersten Mal von seinem Gefühl, dass er versagt hatte, weil Gisela gestorben war, von einer Angst, die klebrig war, und von den Besuchen am Zentralfriedhof. Er beschrieb sogar den Weg zu ihrem Grab, weil eine Wegbeschreibung ihm half, seine Stimme wieder in den Griff zu bekommen. Martha nickte, einmal legte sie kurz die Hand auf seinen Arm, ein anderes Mal sagte sie, das kenne sie von ihrer Freundin Frederika, erzählte darauf von deren Krankheit.

Nachdem sie so oft am Ausgang vorbeigegangen waren, war der Hund überrascht, als sie ihn tatsächlich nahmen. Sie verabschiedeten sich vor dem Tor, noch immer die Schirme in der Hand, die Schuhe durchnässt, die Hosensäume feucht, die Beine schlammbespritzt.

Bei sich angekommen, zog Anatol die mit Wasser vollgesogenen Schuhe aus, auch die Socken, ging barfuß ins Bad, spannte den Schirm auf, von dem ein Rinnsal im Treppenhaus stammte, stellte ihn in die Wanne, ging in die Küche und nahm sich eine Cola light. Jetzt erst blickte er auf das Telefon. Zachy hatte ihm tatsächlich eine Nachricht geschickt: »Habe ich es nicht schon lange vorhergesagt: Deine Martha Kopetzky!« Anatol schüttelte den Kopf, tat einen Schluck, das Telefon vibrierte in seiner Hand. Martha schrieb ihm: »Soeben hat es zu regnen aufgehört.«

Anatol ließ die halb volle Dose auf dem Küchentisch stehen, ging in das an die Küche anschließende Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett und schrieb: »Das war der schönste Tag nach langer Zeit.« Er legte sich zurück und schloss die Augen; Marthas Stimme und ihr Lachen in ihm nachklingend.

In der Früh wachte Anatol mit einem neuen Gefühl auf. Er blieb einen Moment im Bett liegen, was er sonst immer vermied. Er dachte an den gestrigen Spaziergang. Etwas Leichtes war in der Luft gewesen, trotz ihrer ernsten Gespräche. Abermals hörte er Martha lachen, spürte ihre Hand kurz auf seinem Arm. Als er aufstand und ins Bad ging, pfiff er vor sich hin. Er nahm den getrockneten Schirm aus der Badewanne und spannte ihn ab. Dass wir auch ausgerechnet Zachy treffen mussten – wie verdutzt sein Gesicht war, hatte Anatol es erneut vor Augen und musste lächeln. Er duschte, zog sich an, ging wieder pfeifend in die Küche, schmierte sich sogar ein Honigbrot. Fast hätte er Zachys Ginger Beer, das noch immer in seinem Kühlschrank stand, dazu getrunken, kochte sich dann jedoch einen Tee. Damit setzte er sich an den Küchentisch und rief schließlich seine E-Mails ab. Er hatte auf eine Nachricht von Martha gehofft. Dass er an einem Sonntag eine Nachricht seines Vorgesetzten vorfand, überraschte ihn doch – dennoch wusste er sofort weshalb. Er öffnete sie und seine Stirnfalten wurden immer tiefer. Dass man von der Unterschrift auf der Petition erfahren habe. Von wem wohl?, fragte sich Anatol, war es womöglich Zachy gewesen? Eine Unterschrift auf einer solchen Petition, las er weiter, sei nicht mit seinem Dienstverhältnis vereinbar. »Nicht mit meinem Dienstverhältnis vereinbar?«, Anatol war aufgebracht. Und als er die Forderung las, er solle seine Unterschrift zurückziehen – und das möglichst schnell, bevor sie Aufsehen erregen konnte –, rief er erbost: »Die Unterschrift zurückziehen!«, ergänzte wutentbrannt: »Das nennt sich Bildungsministerium?«, sprang auf, ging zum Kühlschrank, griff nach der Schneekugel, schüttelte sie, sprach: »Das Wetter spinnt, alle spinnen!«, stellte sie zurück, blickte auf die Teilnahmebestätigung der BETT-Show, stieß hervor: »Ich war doch lange genug gewarnt!«, schnappte darauf das rote Band vom Haken im Vorzimmer, zog das Namensschild heraus und zerriss es. Anatol Penzel, Curriculum Consultant, KREIDE segelte in Papierstücken auf den Boden wie der Schnee in der Schneekugel. Dann setzte er sich zurück an den Computer und tippte: »Hiermit erkläre ich den Austritt aus dem Dienstverhältnis.«

Eine Stunde später saß Anatol in der 71er-Tram Richtung Simmering, während Kais Blick ins Leere ging, sein Sohn neben ihm, einen Cowboyhut auf, seine Hände über den Stift von der BETT-Messe haltend, um das Take Off zum Leuchten zu bringen. Unterdessen wartete Ada am Gepäckband des Shahjalal International Airport auf ihren Rucksack; und Frederika riet der rachsüchtigen Lynn, am besten eine Reise mit ihrem Sohn nach New York zu unternehmen. Zur selben Zeit erklärte im Altersheim Marthas Mutter dem neuen Nachbarn, wie man den Computer bediente; und Zachys Vater stand vor der Spüle, wo er die volle Flasche in den Mülleimer warf und wieder herausnahm, um sie erneut wegzuwerfen; die Reinigungsmaschine brach im Rehazentrum diesmal durch die Hintertür aus und Martha, den Hund zu Füßen, tippte in ihr Telefon: »Wo bist du gerade, Anatol?«

Er hatte sie als Erstes über seine Kündigung informiert. Anatol gefiel die Art der Frage. Jetzt kennen wir uns, dachte er froh. »Ich bin auf dem Weg zum Zentralfriedhof«, antwortete er: »Melde mich nachher von zu Hause! Heute scheint die Sonne!«

Zachy wiederum war eben bei der Alten Donau vom Rad gestiegen, als er Anatols Nachricht mit dem Betreff »Austritt aus dem Dienstverhältnis« erhielt. Zachy zog die Augenbrauen hoch. Er ließ sein Rad ins Gras fallen, daneben seine Sachen und ging ans Ufer. Dort tippte er in sein Telefon: »Am Schluss bleibe ich der KREIDE als Einziger erhalten – und der Leguan!«, sah einen Moment aufs Wasser; schrieb noch: »Deine Unterschrift hat tatsächlich schon hohe Wellen geschlagen«, blickte wieder aufs ruhige Wasser, fügte an: »Von mir wissen sie’s übrigens nicht!«

Plötzlich fühlte er sich, als würde ihn ein Gewicht nach unten ziehen. Ermattet setzte er sich auf die Steine. Ein Schwan schwamm vorbei, tauchte den orangen Schnabel ins Nass. Zachy hob einen flachen Stein auf, fuhr über dessen glatte Oberfläche. Ein Pling ertönte und eine Nachricht von Kai erschien auf seinem Telefon – nur hatte Kai nichts geschrieben. Zachy seufzte, dachte an Kais Burn-out und an Anatols Kündigung. War da ein leises Rauschen in seinem Ohr? Der Schwan spazierte nun am Steg entlang. Zachy warf den flachen Stein über das Wasser, blickte ihm nach. Während der Stein über die Oberfläche hüpfte, hatte Zachy unvermittelt das Gefühl, festzustecken. Der Schwan breitete seine Flügel aus. Zachy warf einen weiteren Stein. Schwarze Schwanenfüße in der Luft. Ob Ada bereits in Dhaka war? Er dachte daran, wie er gestern Anatol und Martha getroffen hatte. Kurzerhand nahm er sein Telefon, tippte: »Hast du Jeff schon entlassen?«, schickte unmittelbar darauf eine zweite Nachricht: »Und wann kommst du wieder zurück?« Kurz darauf ertönte erneut sein Telefon. Gar Ada?, dachte Zachy und die Hoffnung erhellte sein Gesicht. Aber seine Lider wurden augenblicklich schwer, als er die Nachricht öffnete. Eine Interviewanfrage. Er las nicht einmal weiter, dachte auf einmal lustlos: Immer diese Interviews, er fühlte sich nur schlapp.

Hatte Anatol ihn etwa doch angesteckt?

Das Erste, was Hanna zurückschrieb, nachdem er ihr die Neuigkeit verkündet hatte, war: »Nun steht Costa Rica also nichts mehr im Weg!«, und: »Ich kann dir eine Mitreise auf einem Forschungsschiff organisieren, mit einem umweltschonenden Schiffsbetrieb.« Sie fügte hinzu: »Du hast ja jetzt Zeit – ich habe etwas mehr als fünfzig Tage gebraucht.«

Und während Martha im Gehen abwechselnd mit Frederika und Lynn am Telefon sprach, tippte Anatol – er saß gerade in der Straßenbahn – in Google ein: »Flug Wien–San José«. Fünfzig Tage mit dem Schiff – knapp sechzehn Stunden mit dem Flugzeug; und die Flugtickets waren günstig. Aber schließlich studierte Hanna die Versauerung der Ozeane aufgrund des Kohlendioxidausstoßes anhand von tropischen Korallen. Da würde er nicht einfach weiterspinnen und in ein Flugzeug steigen können, auch wenn dies an der Versauerung der Ozeane wenig ändern würde.

Beinahe hätte er die Station verpasst. Schnell stieg er aus, überquerte den Parkplatz und ging durch das Zweite Tor. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel. Er machte eilige Schritte, roch das frisch gemähte Gras, als er am Komposthaufen vorbeikam. Vom Brunnen tönte das Auffüllen einer Gießkanne. Hastig bog er nach rechts zu Giselas Grab ab.

Leicht außer Atem begrüßte er sie und rief: »Austritt aus dem Dienstverhältnis: Ich hab’ alles los!« Für einen kurzen Moment blickte er auf das eingravierte Geburts- und Todesdatum, sagte, der Atem ruhiger: »Ich werde schon etwas Anderes, Sinnvolles zu tun finden!« Er bückte sich: »Etwas Sinnvolles zu tun – das könnte man zur Abwechslung einmal Kindern beibringen!«, sprach er in das geöffnete Laternentürchen und holte das Grablicht heraus. Eine Brise kam auf. Während er es anzündete, sagte er: »Von Hanna lass’ ich mir das Tauchen zeigen.« Als die Kerze nach dem zweiten Versuch brannte, stand Anatol eine Zeit lang da. Schließlich räusperte er sich, nahm seinen Rucksack von den Schultern und holte die Dose Ginger Beer heraus, die er kurz entschlossen eingepackt hatte. Mit einem Zischen öffnete er sie. »Erweckt die Lebensgeister!«, erinnerte sich Anatol an Zachys Worte, schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck. Die Schärfe des Ingwers breitete sich prickelnd im Mund aus. Zachy hatte einmal nicht zu viel versprochen. Anatol nahm einen weiteren Schluck.

Die Blätter raschelten. Die Lautlosigkeit der Gräber am Grund. Anatol streichelte über Giselas Gesicht. Das Licht brach sich in den Blättern und die Zweige bewegten sich in der Sommerluft. Kohlensäurehaltig der Vogelgesang. Der Schal leuchtete lampionrot – Gisela im Seidenglanz.

Plötzlich bellte ein Hund. Anatol drehte sich um.

Martha war mit Izzy hereingeschneit, einen Strauß Blumen in der Hand.