Zwar hatte der Schulungsleiter den Teilnehmern aufgetragen, sich nach dem Einstiegsmodul selbstständig weiter zu informieren, doch Zachy googelte stattdessen erst einmal Rauschen im Ohr, nachdem er auf das ärztliche Gespräch bis übermorgen warten musste – die von Anatol empfohlene HNO-Ärztin schien äußerst begehrt. Vielleicht spuckt die Suchmaschine ja irgendein Hausmittel aus, dachte er, denn für morgen Abend hatte er eigentlich eine Verabredung; und er war nicht Anatol, der zur Entspannung nur einen Zigarettenautomaten brauchte.
Während Zachy seine Suche nach probaten Rezepten gegen das Rauschen im Ohr fortsetzte, war das Erste, was Anatol nach dem Betreten der Wohnung wahrnahm, die Stille. Er zog sein Leinenjackett aus – Zigaretten und Imbiss, dachte er –, und hängte es neben ihre Winterjacke, die, seitdem Gisela sie das letzte Mal getragen hatte, unverändert auf dem Kleiderbügel an der Garderobe hing.
Anatol ging ins Bad, putzte sich bereits die Zähne, zog sich im Schlafzimmer den Pyjama an und saß einen Moment auf der Bettkante, bevor er sich hinlegte, obwohl es gar nicht spät war. Gemocht hatte er es, wie die Matratze eingesunken war, wenn Gisela sich zu ihm aufs Bett gesetzt hatte; das Geräusch des Kratzens, nachdem sie ihr T-Shirt ausgezogen hatte und mit ihrer Hand zum Rücken gefahren war, manchmal hatte sie auch ihn darum gebeten. Das hatte zu seinem Leben gehört und wenn er nun in dem Doppelbett lag, wartete er darauf. Mit offenen Augen lag er bei geschlossenen Fenstern im Dunkeln.
Martha hatte auf ihrem Zimmer im Rehazentrum hingegen das Fenster weit aufgemacht und hörte dem Vogelgesang zu.
Während Lynn zu Hause – im Boxring, wie sie es genannt hatte – gegen die Zimmertür ihres Sohnes trommelte und »Leiser!« rief; mehr Cartoonfigur als Boxerin, dachte sie. Die Tür ging gerade mal einen Spaltbreit auf, unverständliches, von der lauten Musik verschlucktes Gebrumme erfolgte als Antwort, bevor sich die Tür schon wieder schloss. Joshua, der die beiden beobachtet hatte, quittierte das Ganze mit einem Schritt auf den Klopfbalkon und dem Anzünden einer Zigarette.
Frederika wurde unterdessen in der eingezäunten Hundezone beim Schottenring in ein Gespräch mit einem angetrunkenen Pitbull-Besitzer verwickelt – während Izzy begeistert Richtung Brutus’ Hinterteil schnüffelte, an das sie allerdings nicht ganz mit ihrer Schnauze herankam. Eine gebrechliche Dame stieß dazu, dessen Dackel Izzy sogleich besteigen wollte, was Brutus nicht gefiel. Nachdem Frederika Izzy, der dies alles nicht das Geringste auszumachen schien, schlussendlich wieder angeleint hatte und der Besuch in der Hundezone somit überstanden war, musste Frederika zu guter Letzt die Drohungen eines Parksheriffs über sich ergehen lassen, weil Izzy diesen – wie Brutus den Dackel eben – angeknurrt hatte. Noch ganze zehn Tage in meiner Obhut, dachte Frederika.
Zachy saß noch immer vorm Bildschirm. Ingwertee – entzündungshemmend, wie er mittlerweile wusste – dampfte aus der Tasse vor ihm. Zachy war inzwischen ganz gebannt von der Anatomie des Ohres. Ein Tippen und Klicken. Türkische Musik erklang im Hinterhof. Von der Straße drang Stimmengewirr durch das offene Fenster hinauf. Eine Gruppe Halbwüchsiger stimmte ein Lied an, von Lachanfällen immer wieder unterbrochen. Irgendwo sprang kurz ein Alarm an. Kinder riefen sich etwas zu, ein Hund kläffte. Autotüren fielen zu, ein wummernder Bass dröhnte, der Wagen brauste mit einem Quietschen der Räder davon. In der Nachbarwohnung ertönte auf einem Klavier der Cancan, Sektkorken knallten. Und Zachys Rauschen verging auch nach der dritten Tasse Ingwertee nicht.
Anatol drehte sich im Bett von einer auf die andere Seite. Der Minutenzeiger seiner Uhr am Nachtkästchen bewegte sich lautlos. Das Ohr auf das Kissen gedrückt, konnte er sein Herz schlagen hören, aber er glaubte, noch ein Geräusch zu vernehmen. Es glich einem unmerklichen Knacken. Er musste an Hanna denken, die als Kind, nachdem sie auf das hauchdünne Eis einer über Nacht gefrorenen Pfütze gestiegen war, steif und fest behauptet hatte, dass es sich genauso anhörte, wenn sie jemanden vermisste. Sie hatte recht, dachte er jetzt. Oder stimmt mit dem Herzen etwas nicht? Der Minutenzeiger seiner Uhr bewegte sich weiter lautlos über die Eispfütze im August.
Der Himmel war wolkenlos, doch in der Früh lag nun die Kühle des Septembers. Anatol musste daran denken, dass Gisela das Abstreifen des Sommers, wie sie es genannt hatte, besonders gemocht hatte. »Ein Gefühl breitet sich in mir aus«, hatte sie dann immer gesagt, »sanft und ungeschliffen.«
Im Büro angekommen fand Anatol eine weitere Nachricht von Martha Kopetzky in seinem E-Mail-Posteingang vor. Er seufzte und blickte einen Moment ratlos um sich. Dabei streiften seine Augen die Schneekugel, die auf seinem Schreibtisch stand und in der ein Foto von ihm mit Gisela steckte – ein Geschenk von Hanna, vor langer Zeit. Er wollte sich der Antwort zuwenden, spürte aber Giselas Blick auf sich. Er sah sie an, wollte fast fragen: »Was hast du?«, schüttelte den Kopf über sich selbst. Und obwohl er gerade eine unfreundliche E-Mail hatte schreiben wollen, verschob er es lieber auf später. Stattdessen holte er den Präsentationsentwurf der KREIDE heraus, den er erst angelesen hatte, wenngleich er ihn dauernd mitschleppte, und dessen Überarbeitung längst anstand.
Er schaute wieder kurz zur Schneekugel, sah jetzt sich selbst vor fünfzehn Jahren. Damals war sein Pädagogikstudium schon mehr als ein Jahrzehnt her gewesen. Als er nach verschiedenen Praktika eine Stelle im Bildungsministerium bekommen hatte, galt das als Karrieresprung und er wurde allseits beglückwünscht.
Anfangs hatte Anatol noch davon geträumt, etwas in Bewegung setzen zu können, viel öfter deutlich seine Meinung kundgetan. Er hatte die Erzählungen seiner ehemaligen Lehrerfreunde ernst genommen, von denen viele täglich in Klassenzimmern standen, in denen die Schultaschen häufig keine Neuware waren. Das änderte aber nichts am Stolz der Mädchen auf ihre mit Prinzessinnen bedruckten Ranzen, hatte ein Freund geschmunzelt und dessen Freundin, die an einer polytechnischen Schule unterrichtete, hatte gemeint: »Prinzessin kann man wenigstens auch ohne Abschluss werden – kein Märchen«, und mit einem bitteren Lachen hinzugefügt: »Oder Spiderman.« Anatol hatte daraufhin getönt, dass er sich dafür einsetzen werde, jedem Kind eine Perspektive unabhängig von seiner Herkunft zu ermöglichen. »Du hörst dich ja schon selbst wie ein Superheld an!«
Anatol hatte sich tatsächlich geradezu in seine Aufgaben gestürzt. Im Laufe der Zeit hatte er jedoch vor allem einen Eindruck gewonnen: dass er in die Pedale drückte und drückte, aber nicht und nicht vorankam. Es war eindeutig: Er besaß keine Superkräfte.
Anatol sah wieder auf die KREIDE-Präsentation vor sich. Vielleicht war es Giselas Blick gewesen oder Martha Kopetzkys erneute E-Mail, vielleicht seine Erinnerung an den Anatol Penzel vor Jahren – jedenfalls begann er mit einer gewissen Entschlossenheit die Überarbeitung: Er strich ganze Sätze und setzte hinter viele Passagen große Fragezeichen. In einem Kommentar machte er sogar einen Ausflug in die Soziologie und wies auf den Bildungshintergrund als für den Lernerfolg entscheidenden Faktor hin. Davon war offenbar noch nichts zur Agentur für Bildung durchgedrungen. Auch daran, dass diejenigen Kinder besser abschnitten, die bei ihren Aufgaben Unterstützung von den Eltern erhielten, würde eine Lernplattform wie die KREIDE nichts ändern – da konnten die Kinder beim Fehlermachen noch so lange gefilmt werden. Gerade Schneeberger mit seiner jungen Familie musste doch bekannt sein, dass Zeit in einer Leistungsgesellschaft nur beschränkt zur Verfügung stand. Aber Schneeberger würde dank der KREIDE immerhin den Nachhilfeunterricht für seine Kinder bezahlen können.
Als er das Bildungsministerium schließlich am späten Nachmittag verließ, hatte er die ganze Präsentation durchgearbeitet. Auf dem Weg nach Hause kam ihm eine mit der gleichen gelben Kappe uniformierte Kindergartengruppe entgegen und ein Skateboarder in kurzen Hosen rauschte vorbei. Die Kinder zog es zum Eissalon, vor dem sich bereits eine Schlange gebildet hatte. Jetzt klammerten sich alle an den Sommer, dachte Anatol. In der Agentur stand Zachy bestimmt mit Kai Schneeberger auf der Terrasse, und Anatol stellte sich vor, wie sie hinabsahen. Überseht mich mal nicht, dachte er, drehte, anstatt seinen Weg fortzusetzen, um und reihte sich in die Schlange vor dem Eissalon ein. Er legte beim Warten den Kopf in den Nacken, beschirmte seine Augen – Zachys gelobtes Vitamin D! –, schlug seine Hemdärmel um, ja, öffnete sogar den obersten Knopf. Und plötzlich machte sich in ihm ein Gefühl breit, sanft und ungeschliffen: Der Anatol Penzel von früher war zurück.
Jetzt erachtet es dieser Anatol Penzel nicht einmal mehr für wert, mir zu antworten«, schnaubte Martha, als sich Frederikas Autotür öffnete. Izzy sprang heraus und an ihr hoch. »Vielleicht schick’ ich dich einmal zur Einschüchterung ins Bildungsministerium.«, meinte Martha, »Ich habe gehört, du hast einen Parksheriff angeknurrt«, und sie streichelte den Hund, der sich vor dem Rehazentrum auf den Rücken geworfen hatte.
»Wir haben außerdem einen einnehmenden Pitbull-Besitzer kennengelernt – falls Verstärkung gewünscht ist«, meinte Frederika, verstaute das Gepäck und fragte, bevor sie den Kofferraum schloss: »Hast du dich auch von allen Reinigungsmaschinen verabschiedet?«
Während Frederika Martha nach Hause fuhr, hielt Izzy von ihrem Platz auf Marthas Schoß ihre längliche Schnauze aus dem heruntergelassenen Fenster. Zum Abschied sagte Frederika: »Die Hundezone beim Schottenring ist mir besonders ans Herz gewachsen.« Zurück zu Hause packte Martha, nachdem sie dem Hund einen Kauknochen gegeben hatte, ihren Koffer aus, telefonierte hernach mit ihrer Mutter, um sich bei ihr gleich für das kommende Wochenende anzukündigen, machte überdies ein Treffen mit Lynn aus und legte schließlich die Unterlagen für den Unterricht morgen zusammen. Sie hatte nur eine Schulwoche versäumt, wenn auch ausgerechnet den Schulbeginn. Daraufhin leinte sie einer Laune folgend Izzy an – die hingegen gab den Knochen nur ungern auf –, um das erste Mal seit Wochen mit ihr spazieren zu gehen. Dass sie wieder zu Hause war und sich ohne Rückenschmerzen bewegen konnte, löste bei ihr regelrechte Frühlingsgefühle aus. Der Hund und sie gingen hinaus in den September.
Indessen stand Zachy auf der Dachterrasse, atmete den Kaffeeduft aus seiner Tasse ein und blickte auf das sonntägliche Treiben in der Stadt. Er musste dabei an die nach wie vor gerissene Jalousie in Anatols Büro, das er erst vorgestern wieder aufgesucht hatte, denken. Auf seine Anmerkung hin: »Die Privatwirtschaft hat durchaus ihre Vorteile« hatte Anatol geantwortet: »Noch sind sie mir erspart geblieben.« Ihn interessierte mehr: »Hat Schneeberger schon etwas zu meiner Überarbeitung gesagt?«
»Von der Dachterrasse der Agentur hat man einen Rundumblick auf die Stadt«, fuhr Zachy unbeirrt fort.
»Meine Aussichten reichen mir«, erwiderte Anatol darauf bloß.
»Wie wär’s mit ein bisschen frischem Wind, Anatol?«, meinte Zachy und zwinkerte.
»Sofern du mit frischem Wind meinst, dass man auf einer Terrasse herumsitzt und dabei eine Lernplattform ausheckt – nein danke!«
»Willst du dich lieber gegen die Zeit stemmen?«, fragte Zachy in der Folge und blickte auf Anatols eine hochgezogene Augenbraue, die ihn unwillkürlich an einen stehengebliebenen Minutenzeiger erinnerte.
»Am Ende wird noch der Mensch ersetzt«, warnte Anatol.
»Die Technik greift dem Menschen doch nur unter die Arme«, wiegelte Zachy ab.
»Na, wenn dir dann im Krankenhaus ein Roboter unter die Arme greift – viel Spaß!«
»Die Abhängigkeit von Menschenhänden ist auch furchtbar«, entgegnete Zachy. Was weißt denn du schon – so sah ihn Anatol an.
»In Japan werden Care-Roboter jedenfalls mit großem Erfolg eingesetzt«, stellte Zachy fest.
»Als würde es jemals ausreichen«, brauste Anatol auf, »Roboter durch Krankenhäuser stolpern oder Kinder von Lernplattformen filmen zu lassen!«, und er fügte hinzu: »Sollte das euer frischer Wind sein, ist Erfrieren garantiert!«
Zachy seufzte, nahm den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und ging nach einem weiteren Blick von der Terrasse zurück ins Büro zur Sitzung, die Kai einberufen hatte. Dieser Kai, der doch die Sonntage mit seiner Familie verbringen wollte.
Anatol hatte nach dem Gespräch mit Zachy vor zwei Tagen tatsächlich gedacht: Was weiß Zachy denn schon? Einen Moment war er nur dagesessen; hatte sich an die Zeit im Krankenhaus erinnert und daran, wie er wochenlang ihre Hand gehalten hatte. Schnell an etwas anderes denken! Er hatte aber bereits das Gewicht der Hand gespürt. Schwer fiel es ihm, in solchen Momenten im Bildungsministerium zu sitzen, als wäre es das Normalste in der Welt, ohne sie weiterzumachen. Dass es für einen wie Zachy leichter wäre, würde Anatol behaupten – Zachy würde in der Alten Donau einfach baden gehen oder auf der Terrasse sitzen.
Als Martha am Montagmorgen die Schulklasse im ersten Stock aufsperrte, war es, als würde sie ihre eigene Wohnung betreten. Gleich würden die Kinder von der Garderobe hereinlaufen – und schon waren sie da und Martha wurde vom ersten umarmt. Gerry boxte noch schnell einen Klassenkameraden in den Arm, dann rannte auch er herbei.
Martha erzählte ihnen von ihrem Aufenthalt, erwähnte natürlich die Scheuersaugmaschinen, und die Kinder schüttelten sich vor Lachen; und alle auf einmal wollten sie ihr zeigen, was sie in ihrer Abwesenheit gemacht hatten. Kleine Hände hielten ihr Hefte und Zeichnungen entgegen, es wurde durcheinandergerufen, bis Martha mit einem Klatschen eine Reihenfolge einforderte. Sie sah, wie sich die Kinder zurückhalten mussten, um einander nicht ins Wort zu fallen. Nur Gerry, wenig überraschend, schaffte es überhaupt nicht, sodass Martha ihn bald vom Warten befreite. Natürlich kippte er dann mit dem Stuhl um, als die letzte Schülerin, Dunja, endlich an der Reihe war. Und alle lachten wieder, Lisa am meisten, sodass ihre Brille etwas hüpfte; Nils versteckte seinen lachenden Mund hinter einer Hand. Martha liebte das Lachen der Kinder, das über das Ohr in ihren Körper drang und dort Wärme erzeugte. Und wenn sie der Spur der Kinder folgte, wurde sie in ihre eigene Kindheit geführt, von der sie das meiste vergessen hatte. Nicht selten kam es vor, dass sie sich auf dem Heimweg auch den Erwachsenen, der ihr zufällig in der U-Bahn gegenübersaß, als Kind vorzustellen versuchte. Manchmal gelang es ihr leicht, oft aber gar nicht.
Martha hatte noch nie eine Lehrerkonferenz übersehen, doch an ihrem ersten Tag nach der Reha passierte es ihr zum ersten Mal, sodass sie ihr Treffen mit Lynn auf den nächsten Tag verschieben musste. Nachdem sie Lynn schnell geschrieben hatte, ging sie die Schulhaustreppe hinunter zum Konferenzzimmer. Um sie herum wieder die Kinder mit ihrem Lachen und ihrer eigenen Art von chaotischer Unterhaltung. Noch kein Schweiß und auch kein verminderter Antrieb, der Körper in seiner Zufälligkeit würde erst gekränkt werden, dachte Martha. Durch das Fenster des Treppenhauses sah sie zwei Schüler mitten am Weg in der Hocke etwas erforschen, ihre Schultaschen achtlos daneben abgeworfen. Die Kinder verschlangen die Welt noch, ohne zu ahnen, dass sie ihren Geschmack verlieren konnte – und Martha musste an Liam denken. Einen Moment lang blieb sie auf der vorletzten Stufe stehen, als ob die Erinnerung an die Zeit mit ihm ein Stehenbleiben einforderte, dann nahm sie schnell den letzten Treppenabsatz und ließ das Stiegenhaus hinter sich.
Die Lehrerkonferenz hatte sich in die Länge gezogen. Als Martha endlich ihre Wohnungstür aufsperrte, lief ihr Izzy freudig entgegen. Martha ging in die Hocke und kraulte ihre Ohren, sagte ihr dabei Koseworte. Sie verstand nicht, wie manche Leute darüber spotten konnten. Die meisten ihrer Schüler mochten Tiere, das Streicheln des Fells beruhigte sie in einer Welt, in der sich selbst Erwachsene ohne ihr Telefon abgeschnitten fühlten. Sie blickte wieder auf den Hund. »Und, Izzy, wie stehst du zu kreativer Intelligenz?«, und Martha dachte daran, wie ausführlich es in der Konferenz um ihre Förderung durch die Lernplattform KREIDE gegangen war. Aberwitzig, hatte Martha gedacht, während die Kolleginnen Frau Blechas Worte mitnotiert hatten. Die Direktorin hatte überhaupt vom Messen des Einsatzes, Erfolges und Scheiterns mit einer Zärtlichkeit gesprochen, die Martha, sobald es um die Kinder gegangen war, vermisst hatte. »Ich sehe schwarz für alles, was sich den Zahlen entzieht«, sagte Martha zu ihrer Hündin, die mit dem Schwanz wedelte: »Darunter fällst übrigens auch du«, und Martha murmelte: »Hauptsache man liebt Kurven, Daten und Kontrolle.« Izzy schaute sie mit ihren runden Augen an. »Klingt nicht nach weich gebettet werden, was«, und Martha fügte an: »Wäre ja noch schöner, wenn Frau Blechas glorreiche Zukunft einfach verschlafen werden würde.« Martha fuhr über das Fell, als müsste sie sich gerade beruhigen. »Ach, Izzy«, seufzte sie, »würden die Menschen sich nur etwas von dir abschauen!« Izzy sprang auf und schüttelte sich. Sie war genug gestreichelt worden, jetzt hätte sie gerne zu fressen.
Anatol entschied an diesem Tag nach Büroschluss noch ein Stück zu gehen, das Wetter war einladend dafür. Während er bei einer Ampel wartete, stach ihm eine Befundtasche in der Hand einer Frau ins Auge. Diagnosezentrum Urania, las er, und etwas in ihm verkrampfte sich. Genau die gleiche blickdichte Tragetasche war damals auf dem Küchentisch gelegen, als er heimgekommen war. Er sah sich den Befund entgegennehmen, den Gisela ihm stumm hinhielt. Seine Augen blieben am oberen Rand bei Fachärzte für Radiologie hängen, als ob sie sich weiter schon nicht mehr trauten. »BI-RADS Kategorie 5«, hörte er sie da sagen. Und obwohl er diese Begriffe nicht zuordnen konnte, war es die Veränderung in Giselas Stimme gewesen, die ihm alles über ihren Mammografie-Befund gesagt hatte. Die Ampel schaltete wieder auf Rot, ohne dass Anatol über die Straße gegangen war.
Auch Frederika hatte einmal aus so einer blickdichten Tasche Befunde herausgezogen. Als Lynn und Martha gehört hatten, dass bei ihr ein Knoten entdeckt worden war, waren beide fassungslos gewesen. Ausgerechnet ihre starke Frederika sollte von einer tödlichen Krankheit eingeholt worden sein? Für die Freundinnen rückte damit plötzlich das Lebensbedrohliche ebenfalls näher. Zuerst einmal müsse man das Ergebnis der Gewbeprobe abwarten, hatte Frederika ruhig gemeint. Von ihrer alleinerziehenden Mutter hatte sie eine Herangehensweise an Belastungen gelernt, die diese mit einem rigorosen Optimismus bekämpfte. Außerdem würde sie sich von keiner Diagnose einschüchtern lassen. Selbst wenn sie sterben müsste, würde sie das mit geballter Faust tun, ließ sie die bestürzten Freundinnen wissen, die das gar nicht lustig fanden.
Martha und Lynn begleiteten sie dann für die Gewebeentnahme gemeinsam ins Donauspital auf die Abteilung für Onkologie. Frederika mit einer Reisetasche über der Schulter, als würde sie wegfahren. Sie waren diejenigen, die während der Operation so oft nervös auf ihre Telefone blickten, dass sogar eine von Marthas Schülerinnen aufzeigte und fragte, ob sie auch einmal auf das ihrer Lehrerin schauen dürfe. Beide saßen sie nach der Operation wieder an Frederikas Bett, eine links, eine rechts. Lynn tippte Fachbegriffe von Frederikas Befund der Gewebeprobe in die Suchmaschine ein, in der Zwischenzeit zeigte Frederika Martha den Verband. Frederika fragte, ob Lynn etwas Neues herausgefunden habe. Lynn schüttelte den Kopf, wobei Martha registrierte, dass sich etwas an ihrem Blick verändert hatte. Aber erst viel später, auf dem Heimweg, als Lynn neben ihr in der U2 saß und ihr verriet, dass der Befund nicht besorgniserregender hätte ausfallen können, wusste Martha, was sie gesehen hatte: dass Frederika mit einem Mal sterblich geworden war.
Als Martha am nächsten Tag wieder im Donauspital an Frederikas Bett saß und Lynn unterdessen der vom Krebs bereits gezeichneten Bettnachbarin etwas zum Trinken einschenkte, brachte Martha das Zittern in ihrer Stimme nur schwer unter Kontrolle, sodass Frederika den Kopf zu ihr drehte und just sie besorgt fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei.
Viel später, längst entlassen und mit einem inzwischen nachgewachsenen Pony aus echten Haaren über der Stirn, hatte Frederika ihnen erzählt, dass ihre damalige Bettnachbarin, obwohl todkrank, ihr auf eine Weise Trost gespendet hatte, wie sie sich als Kind immer Heilige vorgestellt hatte. »Diese Frau werde ich nie vergessen«, sagte sie öfter. Lynn und Martha versuchten sich an das Gesicht der Frau zu erinnern, erinnerten sich allerdings mehr an ihren Ehemann, der oft gekommen war, wenn sie schon gingen. Auch seine Gesichtszüge verschwammen mittlerweile, aber das Zerknautschte und Traurige blieben ihnen deutlich im Gedächtnis, und sein auf seine kranke Frau gerichteter Blick, der sie unabhängig voneinander auf der Heimfahrt über das Lieben hatte nachdenken lassen.
Inzwischen lag Frederikas letzter Krankenhausaufenthalt fünf Jahre zurück, und nun galt sie als geheilt. Als Statikerin blieb ihr jedoch das Wissen vom Riss.
Das Team, das den Präsentationsentwurf ausgearbeitet hat, fühlt sich von einigen der Kommentare angegriffen«, erläuterte Kai Schneeberger Anatol bei ihrem mehrmals aufgeschobenen Treffen, diesmal ohne ihm Kaffee zu kredenzen. Er bat Anatol zukünftig um möglichst sachliche Anmerkungen. Anatol fielen Schneebergers Augenringe auf.
»Kritik ist natürlich immer willkommen«, meinte er, aber sie dürfe nicht über das Ziel hinausschießen. Über das Ziel hinausschießen, dachte Anatol, sein Blick blieb wie schon beim letzten Mal an Kais Händen hängen und er überlegte, ob dessen Füße genauso sorgfältig pedikürt waren. Kai sprach weiter – Anatol blickte wieder auf dessen Augenringe – und als er endlich zu einem Abschluss gekommen war, begann er wieder von vorne. Anatol solle doch im Korrekturprozess die Arbeit, die andere investiert hätten, bedenken. Und was ist mit meiner Arbeit?, dachte Anatol. »Das ist eine Frage der Wertschätzung«, sagte Kai unterdessen, blickte einen Moment mit glasigen Augen ins Leere, als ob er selbst den Satz oft zu hören bekäme. Er gab sich einen Ruck und schaute Anatol erneut an. Die Wertschätzung stehe nämlich bei ihnen an oberster Stelle, sagte er, das seien sie ihren Klienten, den Schülern und Schülerinnen, schuldig, schloss er schließlich das Gespräch ab. Ob Anatol eigentlich einen Kaffee wolle, und mit einer Drehung zur Espressomaschine entschuldigte er sich, dass er ganz vergessen habe zu fragen. Dafür brauche ich keine Entschuldigung, dachte Anatol.
Als Anatol den Meetingraum der Agentur verließ, fühlte er sich von den Umständen einer manikürten Welt niedergedrückt. Sein Blick streifte die Familienfotografie, die heute auf einem anderen Schreibtisch stand. Ob Kai seine eigenen Kinder auch als »Klienten« sah, fragte sich Anatol und ging Richtung Lift.
Dort traf er auf Zachy, der gerade mit einem Packen Kopien die Treppe hochkam. Er bedankte sich bei Anatol noch einmal für die empfohlene HNO-Ärztin. Sie nehme sich viel Zeit und sein Tinnitus sei bereits am Abklingen. Er habe gerade gehört, sagte Anatol verschnupft, dass in der Agentur Kritik immer willkommen sei. »Kai eben«, sagte Zachy und machte eine wegwischende Bewegung, als Anatol das Gesicht verzog. Anatol sog die Luft ein und stieg mit einem knappen Gruß in den Lift.
Zachy wiederum ging an seinen Schreibtisch, lud den Stapel Papier ab und griff nach seinem Fahrradhelm. Als er im Begriff war, das Büro zu verlassen, rief ihm Kai zu: »Eine Kooperation mit dem Bildungsministerium hat ihre Nachteile!«, und mehr zu sich selbst: »Aber ohne das Bildungsministerium – keinen Fuß in der Tür.« »Anatol Penzel mag altmodisch sein, aber er ist verlässlich«, erwiderte darauf Zachy und wünschte Kai ein schönes Wochenende. Er hoffe darauf, dass seine Tochter zur Abwechslung einmal mehr als drei Stunden am Stück durchschlafe, äußerte Kai und rieb sich die Augen.
Als Zachy an der Alten Donau angekommen war, sah er nur mehr wenige Schwimmer. Ein Kind stand am Ufer und warf einem Hund einen Stock ins Wasser. Sobald der Hund ihn zurückgebracht hatte, bellte er laut. Die Mutter saß mit hochgekrempelten Jeans am Ufer, beschirmte ihre Augen und sah glücklich aus.
Zachy zog sich um und ging mit raschen Schritten ins Wasser. Während er schwamm, fragte er sich, was genau Anatol heute in eine solche Laune versetzt hatte. Kai würde nicht für sein Fingerspitzengefühl bekannt werden, wusste Zachy, aber er stand auch unter Druck. Erst gestern hatte Zachy wieder einen Streit am Telefon mit dessen Frau mitbekommen. Und Anatol?, dachte Zachy, ließ sich mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken treiben – toter Mann –, und blickte in den Himmel über sich. Hundegebell vom Ufer.