V
Desserts

Ein paar Wochen später saß Zachy beim Warten auf seine Verabredung in der Bar eines Kinos und warf einen Blick in die abermals von Anatol kommentierte finale Fassung der KREIDE-Präsentation. Zur selben Zeit betrat Martha in einem anderen Bezirk das Restaurant Los Tacos und begrüßte ihre Freundinnen.

Anatol saß unterdessen als einziger Gast im asiatischen Imbiss. Eine Weihnachtsgirlande schmückte jetzt den Ausschank, das Gesicht der Kellnerin wurde nun von ihrem Blinken und den brennenden Lämpchen in den verstaubten roten Lampions über der Theke beleuchtet. Sie kam kurz dahinter hervor, um seine Bestellung aufzunehmen. Da Anatol einfiel, dass er Zachy noch etwas mitzuteilen hatte, rief er ihn kurzerhand an, erreichte ihn aber nicht. In der Zwischenzeit hatte die Kellnerin den Getränkekühlschrank geöffnet. In welchem Stadium der Annäherung sich Zachy wohl in diesem Augenblick befand, dachte Anatol beim Auflegen, ohne zu ahnen, dass Zachy gerade durch den Präsentationsentwurf blätterte und nach Kommentaren von Anatol suchte. Anatol nahm einen Schluck Cola light. Er wollte sich nichts ausmalen – nicht, weil er Zachy um seine für den heutigen Abend geplante, am Nachmittag angedeutete geschlechtliche Aktivität beneidete, sondern vielmehr ging sie ihm in Verbindung mit Zachy auf die Nerven; und Zachy schaffte das ja schon ohne sie. Auf alle Fälle erschien Anatol ein Abend, dem Zachy entgegenfieberte, wie ein riesengroßer Eiswürfel.

Eiswürfel klackerten auch in den Cocktails, die Martha, Lynn und Frederika im Los Tacos schlürften. »Mit zwanzig hat man mich beschwipst noch witzig gefunden«, sagte Frederika, die einen alkoholfreien bestellt hatte.

»Die Kinokarten habe ich bereits«, sagte unterdessen Zachy zur Begrüßung und legte die Präsentation auf die Seite. Was er da gelesen habe, fragte seine Verabredung zum Einstieg. Er erzählte darauf von der KREIDE und darüber kamen sie auf ihre jeweilige Schulzeit zu sprechen. Dass er oft gehänselt worden sei, erinnerte sich Zachy, »mit dem Wegzug in die Stadt hat sich das jedoch geändert.« Seine Gesprächspartnerin meinte, schon als Kind habe sie sich an der Peripherie am wohlsten gefühlt. Sein Telefon klingelte erneut, Zachy dachte, Sicher wieder Anatol, sah aber, dass es sein Vater war. Er könne ruhig das Gespräch annehmen, sagte sie, die sein Schwanken bemerkt hatte. »Nicht dringend«, murmelte Zachy und bestellte ein Achtel Rotwein und für sich ein stilles Wasser.

Anatol nahm im asiatischen Imbiss einen weiteren Schluck von seinem Getränk, als Martha im Los Tacos sagte: »Die Einführung der KREIDE kommt mir wie das Aufstellen von Cola-Automaten in Volksschulen vor.«

»Joshua hat mir erzählt –«, begann Lynn.

»Wie geht’s ihm denn?«, unterbrach Martha.

»Die Arbeit im Kindergarten ist ein Segen – ändert allerdings nichts an der Packung pro Tag«, war Lynns Antwort darauf, bevor sie von vorne ansetzte: »Er hat mir erzählt, dass Kindergartenkinder nun mithilfe einer überdimensionierten Plastikbiene Programmieren lernen sollen«, und sie rollte mit den Augen, während sie sagte: »Den Programmierern gehört schließlich die Zukunft.«

»Den Bienen sicher nicht«, warf Frederika ein.

»Dem Altersheim meiner Mutter fehlen in Zukunft Pfleger, nicht Programmierer«, sagte Martha.

»Viele Kindergärten könnten schon jetzt von einer weiteren Betreuungsperson profitieren – und damit meine ich auch keine Programmierer«, schloss sich Lynn an.

»Aber Hauptsache man liest von nichts öfter als der notwendigen Digitalisierung«, meinte Frederika.

»Ja genau – wie wär’s mal mit Umverteilung als Notwendigkeit«, erwiderte Martha.

»Vorhandenes Geld wird eben lieber in die Digitalisierung gepumpt«, sagte Frederika und spielte dabei mit ihrem goldenen Cocktailschirmchen, »nur so kommt es verdreifacht zurück.«

Lynn antwortete: »Bleibt bloß zu hoffen, dass ein paar Kinder einmal, statt Plastikbienen zu programmieren, den Stachel suchen werden.«

»Ein Getränk geht sich noch aus«, meinte Zachys Gegenüber, »ich übernehme die nächste Runde«, und ob er jetzt ebenfalls ein Achtel wolle. »Lieber ein zweites Mineralwasser«, sagte Zachy und entschuldigte sich kurz, nachdem sein Vater wiederholt versucht hatte, ihn zu erreichen. Während er draußen am Telefon sprach, sah er durch das Fenster, dass sie zu den Getränken eine Packung Gummibärchen bestellt hatte. Als er zurückkam, hielt sie ihm die offene Tüte hin: »Vielleicht Bedarf?«, und Zachy griff hinein. Das Gummibärchen im Mund dachte er daran, dass sein Vater ihn als Kind immer so genannt hatte. Gebirge tauchte auf, Zachy schluckte es hinunter.

In der Zwischenzeit hatte Anatol im asiatischen Imbiss sein Nudelgericht serviert bekommen und eine zweite Cola light bestellt.

Zachys Telefon klingelte erneut. Er seufzte und entschuldigte sich abermals. »Ich wollte sowieso vor dem Film noch eine rauchen«, sagte sie, steckte die Gummibärchen-Packung in die Tasche ihres schwarzen Herrensakkos, klemmte sich eine Zigarette hinter das linke gepiercte Ohr, strich sich über die kurzgeschorenen Haare und mit großen Schritten ging sie neben Zachy vor das Lokal, der schon das Telefon herausgezogen hatte und dabei sah, dass auch Kai gerade eine Nachricht hinterlassen hatte. Sie zog die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf, zündete sich ihre Zigarette an, nahm einen Aschenbecher in die Hand und stellte sich ein wenig abseits. Einmal drehte sie sich zu Zachy und winkte ihm, die Zigarette zwischen den Fingern der linken Hand, die Nägel im Grün der Gummibärchen lackiert.

Anatol blickte von den Fingernägeln hoch, als sich die Kellnerin erkundigte, ob er vielleicht noch eine Nachspeise wünschte. Überrascht von der Frage bestellte er gebackene Bananen.

»Flan de dulce de leche«, las Lynn von der Karte und bestellte eine Portion mit drei Löffeln.

Zachy saß nun schon im Kinosaal, neben ihm raschelte die Packung, die bald leer sein musste. Aus der Vorschau für einen Liebesfilm schickte er noch rasch Anatol eine Nachricht, dann stellte er sein Telefon auf lautlos.

Im asiatischen Imbiss hatte Anatol unterdessen seine gebackenen Bananen aufgegessen und schaute zur Theke, um die Rechnung zu verlangen, aber die Kellnerin mit der silbernen Haarsträhne schickte gerade eine Nachricht. Anatol sah sie mit ihren Fingernägeln schnell auf das Telefon tippen. Als sie hochblickte, gab er ihr ein Zeichen. Sie kam herüber und legte den mit Kugelschreiber beschriebenen Zettel auf den Tisch. Mit einem Nicken bedankte sie sich für das Trinkgeld, entschwand darauf hinter den Schnurvorhang. Als er aufstand und seine Jacke von der Stuhllehne nehmen wollte, blieb diese hängen; er zog so ungeschickt an ihr, dass der Stuhl laut krachend zu Boden fiel. Der Kopf der Kellnerin tauchte hinter dem Schnurvorhang auf, die silberne Strähne wie eine der Perlenschnüre. Anatol hob den Stuhl schnell auf, rückte ihn an den Tisch, verabschiedete sich hastig und verließ den Imbiss. Beim Hinausgehen vibrierte das Telefon in seiner Hosentasche. Zachy hatte ihm eine Nachricht geschickt. »Kai hat sich gerade gemeldet: Er ist ausgesprochen glücklich mit deinen Anmerkungen in der Endfassung.« Weil es kaum welche gibt, dachte Anatol und ließ sein Telefon zurück in die Hosentasche gleiten.

Im Los Tacos kratzten Lynn und Frederika mit den Dessertlöffeln den letzten Rest Flan vom Teller, während Martha nun ihr Cocktailschirmchen in der Hand drehte und dabei meinte: »Diese Zukunft hängt mir schon jetzt zum Hals heraus.«

Anatol erhielt am nächsten Tag eine E-Mail von Kai Schneeberger persönlich, in der er sich für Anatols diesmal äußerst konstruktives Vorgehen bedankte. Die Arbeit an der KREIDE-Präsentation dürfte somit vorerst abgeschlossen sein. Anatol starrte einen Moment auf den Bildschirm. Reflexartig widmete er sich darauf Meldungen aus aller Welt, bevor er sich erneut seinen Aufgaben widmete. Kais Nachricht blieb unbeantwortet.

Auch den restlichen Tag über verdrängte Anatol jeden Gedanken an die Präsentation, selbst abends verschwendete er keinen an sie. Die aktuellen politischen Schlagzeilen hatte er mittlerweile mehrmals geprüft, sogar den Wetterbericht. Für die kommende Woche war ein Absinken der Temperatur unter null Grad vorausgesagt.

Beim Aufwachen aber erinnerte er sich wieder an Kais Lob. Das Bildungsziel »Anpassungsfähigkeit« habe ich hiermit schon einmal erreicht, dachte Anatol, seufzte beim Gedanken, dass er es angeführt hatte, erhob sich und zog sich an.

Als er auf die Toilette ging und dabei durch die halb offene Tür in den Flur blickte, tauchte sie plötzlich auf. Gisela schaute durch den Türspalt und winkte, wie sie es früher so oft gemacht hatte. Sie mochte besonders gerne den Moment, in dem er seinen Penis abschüttelte, das hatte sie ihm zu seinem Erstaunen einmal verraten. Für den Hinterbliebenen war es schwer, beim Abschütteln zu bleiben, als er seine Frau vor der Tür entdeckte und gleichzeitig wusste, dass sie dort nicht stand.

Dass sich etwas ändere in der Gesellschaft, in der sich ja genug ändern müsse, kommentierte sie wie eh und je das Weltgeschehen vom Spalt in der Tür aus, aber wirkliche Änderungen seien nirgends in Sicht. Es sei eine allgemeine Anspannung, die sich mit jedem Tag mehr bemerkbar mache, und sie meinte, dass es unheimlich sei, dass man dies so unmittelbar wahrnehmen könne. Unheimlich, dich so unmittelbar wahrzunehmen, dachte er. Es sei, als ob man einen Wetterumschwung spürte: »Du bist doch wetterfühlig.« Anatol erhob sich, zog Unterhose und Hose hinauf. In das Rauschen der Spülung hinein sagte er: »Das Wetter spinnt.« Und lauter: »Bleib noch ein bisschen!«

Auch Zachy holte andernorts seinen Penis hervor und auch Zachy sah vor sich eine Frau in einem Türspalt auftauchen. Im Gegensatz zu Anatols war diese nackt. Und sie blieb nur, solange er das Gerät eingeschaltet ließ.

Anatol überraschte nach so einer Frühe nicht, dass er den ganzen Vormittag über im Büro daran denken musste, wie er im Krankenhaus Giselas Hand gehalten hatte.

Zachy, frei von jeder Erinnerung an den Morgen, jedoch erfrischt von seinem Akt der Selbstfürsorge, rief Anatol an, um die letzten Details für die Einführungsveranstaltung zur KREIDE zu besprechen. Dazwischen bescheinigte er Anatol: »Martha Kopetzky ist tatsächlich hartnäckig«, und zum Schluss meinte er: »Sollte es dir entgangen sein, weil die Jalousie noch immer nicht repariert ist: Es schneit«, fügte hinzu: »Aber du kannst natürlich auch deine Schneekugel schütteln.« Damit beendete er das Gespräch, nicht ohne vorher noch einmal betont zu haben, wie zufrieden Kai jetzt mit der Präsentation sei. Anatol blickte zur Schneekugel auf dem Schreibtisch: Er mit Gisela – Hand in Hand. Er wandte sich zum Fenster und starrte auf die gerissene Lamelle. Schlussendlich erhob er sich, quälte sich aber nicht mit der Zugschnur, sondern öffnete gleich das Fenster. Flocken wirbelten gewichtslos durch die Luft. Anatol streckte kurz seine Hand hinaus, zog sie schnell zurück, blieb am offenen Fenster stehen und schaute dem Schneien zu.

Erst nachdem er sich unwillkürlich über die Hemdärmel gestrichen hatte, schloss er das Fenster und nahm wieder in seinem Bürosessel Platz, um seine Arbeit fortzusetzen. Die Erinnerung an das Händehalten war in seinem Kopf wie in einer Schneekugel der Schnee.

Als er am späten Nachmittag das Büro verließ, schneite es noch immer. Mit knirschenden Schritten ging er in der Winterdämmerung zu Fuß nach Hause. Die Straßenbeleuchtung sprang im selben Moment an, in dem er die Haustür erreicht hatte. Er sperrte auf, ließ die schwere Tür hinter sich ins Schloss krachen. Anatol klopfte seine Schuhe über dem im Boden eingelassenen Eisengitter ab, tastete im Hochsteigen nach dem Wohnungsschlüssel am Schlüsselbund und schloss schließlich die Wohnungstür auf. Er warf die Schlüssel auf den Küchentisch, beutelte seinen Mantel aus, knüllte Zeitungspapier zusammen und stopfte es in seine durchnässten Schuhe. Er spülte sich in der Küche ein Glas ab, holte eine Dose aus dem Kühlschrank, schloss die Tür mit einem Stups seiner Schulter, rückte den Stuhl weg, stellte beides auf den Tisch und nahm seufzend Platz. Nachdem er die Dose mit einem Zischen geöffnet hatte, schenkte er die Cola ins tropfnasse Glas ein und hob es an den Mund. In dem Moment war es so still, dass er die Bläschen der Cola light hören konnte. Auf dem Fensterbrett stand ein Schokoladen-Nikolaus neben dem anderen. Und da saß Anatol nun in seiner Küche, unfähig, einen Schluck zu nehmen – und er begann zu weinen, lautlos wie der Schnee, angestrahlt von der Straßenbeleuchtung.

Während in der Nacht der Schnee weiter fiel, träumte Anatol, dass er zu Zachys Präsentation der KREIDE in die Schule mitgekommen war. Sie standen in einem vollen Turnsaal. Lehrer hingen sogar an den Sprossenleitern. »Dabei gibt’s gar keine Schokolade gratis«, sagte Zachy zu Anatol und ging mit seinem Tablet zu einem Rednerpult. Anatol setzte sich in der ersten Reihe auf eine Turnbank. Hinter Zachys Rednerpult wurde der Schriftzug KREIDE auf die Turnsaalwand projiziert. Anatol Penzel las Anatol groß darunter und blickte hinab auf seine manikürten Hände. Die Direktorin sagte ein paar Worte zur Begrüßung, darauf übergab sie an Zachy. »Die KREIDE«, begann er, wiederholte: »Die KREIDE«, machte dazu nun Schwimmübungen und bewegte sich so auf Anatol in der ersten Reihe zu, er sagte Schwimmzüge mit den Armen vollführend immer wieder »Die KREIDE«, nicht mehr, blickte Anatol schließlich hilfesuchend an. Anatol sprang sofort auf und sprach von Messungen der Augenbewegungen, sah Zachy mit seinen Armen jetzt rudern, redete von Begabungsprofilen, sagte »haarscharf« – mehrmals schnell hintereinander, als würde er einen Basketball dribbeln. Eine Lehrerin mit einer Brille grün wie der Zopfgummi ihres Pferdeschwanzes, zu dem die ergrauten Haare gebunden waren, schwang an den Ringen, während sie in ein Luftholen Anatols hinein fragte, was denn mit den Lerndaten der Kinder sei. »Lerndaten!«, rief Zachy, seinen Hänger vergessen, und zwinkerte Anatol zu. Und warum, sagte die Lehrerin mit fester Stimme, niemand darüber sprach, dass ein Kind durch den zufälligen Bildungshintergrund seiner Eltern dazu geboren werden konnte, für alle Zukunft hinterherzuhinken. Alle brachen daraufhin in Gelächter aus. Die Lehrerin nahm neuen Anlauf, die Brille rutschte ihr dabei von der Nase, der Pferdeschwanz wippte hin und her. Zachy machte Anstalten, zu ihr hinüberzuschwimmen. »Nachhilfe für die Kopetzky, Nachhilfe für die Kopetzky!«, wurde er von den anderen angefeuert. Anatol bereitete sich unterdessen einen Kaffee mit Kais Espressomaschine zu, drückte gerade den Hebel hinunter, da wurde er wach.

Er setzte sich im Bett auf, schüttelte mehrfach den Kopf und rieb sich die Augen. Er griff nach seiner Uhr am Nachtkästchen. Erst in einer halben Stunde würde der Wecker klingeln. Anatol schlug die Decke zurück, erhob sich und ging auf die Toilette. Er ließ die Tür extra einen Spalt offen – doch umsonst.

Beim Betreten von Schulen überkam Zachy immer ein Gefühl der Beklemmung. Allein der mit Zeichnungen voller Kinderträume behängte Gang – alles nur Dekoration; dazu die Weihnachtsbasteleien mit Wünschen für die Welt, die ihn in ihrer Gottergebenheit bedrängten. Wie ungelenkig die Gesellschaft war, wenn es um die Organisation ihrer Beziehungen ging, war schon in den Schulen erkennbar, dachte Zachy. Er klopfte an eine Tür, auf deren Schild nüchterne Druckschrift statt eines Schnörkels klarmachte, dass von hier aus der Täuschung, dass alle Möglichkeiten offenstehen würden, Vorschub geleistet wurde.

Die Direktorin begrüßte Zachy. Während Frau Blecha auf dem Weg zur Aula ohne Unterlass davon sprach, wie glücklich die Kinder sich schätzen müssten, dass ihre Schule die erste sei, an der die KREIDE eingeführt wurde, dachte Zachy: Ist Frau Blecha nicht ideal dafür, Frohsinn zu verordnen? Schließlich zeigte sie ihm, der noch immer nichts gesagt hatte, das Rednerpult. Bald würde sich die Aula füllen. »Die Anmeldungen versprechen einen enormen Zulauf«, sagte Frau Blecha, zahlreiche Direktoren und Lehrerinnen auch aus anderen Schulen hätten sich angekündigt, nahm sie ihn weiter in Beschlag, bis er vorgab, seinen Beitrag nochmals durchgehen zu wollen.

Unterdessen schwoll der Lärmpegel immer mehr an. Die hinteren Reihen waren schon längst besetzt, selbst die vorderen Sitzplätze wenig später fast alle vergeben, sodass freie Plätze knapp vor Beginn bereits gesucht werden mussten.

Um Punkt achtzehn Uhr hieß Frau Blecha die Anwesenden willkommen. Zachy dachte mit Blick ins Auditorium: Die sind voreingenommen und leicht gelangweilt. Wahrscheinlich bekamen sie nicht zum ersten Mal etwas über den Einsatz neuer Technologien im Unterricht zu hören. Geduldig ließen sie die einleitenden Worte der Direktorin über sich ergehen. Endlich erhielt er das Wort.

»Die KREIDE – Kreative Intelligenz durch E-Learning – misst präzise wie niemals zuvor die Ausführung von Schulaufgaben«, begann Zachy ohne Umschweife. »Neben Geschwindigkeit und individuellen Fehlerquellen wird der Grad der Aufmerksamkeit der Lernenden durch das Auswerten ihrer Augenbewegungen aufgezeichnet und analysiert.«

Es war sehr ruhig für eine volle Schule. »Die Messungen ermöglichen es, ein haarscharfes Begabungsprofil jedes einzelnen Schülers anzulegen. Es gibt kein besseres Instrument der Talentförderung als die KREIDE – und jedes Kind verdient sie, denn jedes Kind ist talentiert.«

Und je länger Zachy Anatols Argumentationslinie folgte, desto interessierter blickten die Anwesenden – einige nickten zustimmend. Als Zachy schließlich schloss, dass sich dank der KREIDE ein ganzheitliches Bild einer Schülerperformance ergebe, spürte er, dass er die Mehrheit von ihnen gewonnen hatte. In Kürze könnte er zusammenpacken und seine Abendgestaltung in Angriff nehmen. Lediglich eine Person zeigte auf und hatte offenbar noch Fragen. Er nickte der Frau zu, die ihren Arm kerzengerade hochgestreckt hielt. Sie stellte sich als Martha Kopetzky vor, und Zachy dachte, Darauf hätte ich wetten sollen!, während sie in die bereits entstehende Unruhe, die das Ende der Veranstaltung vorwegnahm, fragte, ob sie dafür wirklich die ganze Privatsphäre von Kindern opfern und sie unter die totale Kontrolle stellen sollten. Zunächst reagierte niemand auf ihre Frage, stattdessen packten alle weiter ihre Sachen zusammen. Erst als Martha aufstand und laut über die Köpfe hinweg wiederholte: »Dafür soll die ganze Privatsphäre von Kindern geopfert und sie unter die totale Kontrolle gestellt werden?«, hoben die Anwesenden ihre Köpfe. Einen Moment lang war es absolut still.

Mit gekonnt unterdrücktem Unmut entgegnete Zachy der Lehrerin, die so unerwartet den Erfolg seiner Präsentation gestört hatte: »Natürlich sind sämtliche Daten der Kinder geschützt!« Aber keiner rührte sich, niemand sprach, und Zachy ärgerte sich darüber, dass es jetzt sogar noch stiller im Saal war als bei seinem Vortrag. Lächelnd sagte er, solange das Lernen Privatsache der Kinder sei, könne von gleichen Chancen keine Rede sein. Dass die KREIDE eine objektive und effektive Maßnahme der Förderung sei, könne vor diesem Hintergrund nicht genug betont werden. Marthas Wangen färbten sich rot. Noch bevor sie etwas erwidern konnte, unterstrich Zachy: »Die KREIDE hat schließlich nur das eine Ziel: jedem Kind, wirklich jedem Kind den Lernerfolg zu garantieren.« So leicht kommst du mir nicht davon, dachte Martha. Was denn die Instandsetzung und Betreuung der KREIDE kosten solle, fragte sie in die wieder zunehmende Geräuschkulisse. »Kosten?«, fragte Zachy. »Es geht um nichts Geringeres als eine Investition in die Zukunft!« Das habe ich ihr doch schon alles schriftlich beantwortet, dachte er. »Und wir hier Anwesenden«, Zachy machte ein Geste in das Auditorium, »sind uns wohl einig darin, dass für Kinder die Kosten nie zu hoch sein können.« Zufrieden bemerkte er, dass ein abermaliges Nicken durch die Reihen ging, und mit einem letzten Lächeln verkündete er nun das Ende der Informationsveranstaltung, nicht ohne vorher allen frohe Weihnachten gewünscht zu haben. Martha Kopetzky würdigte er keines Blickes mehr.

Im Vorgarten des Altersheimes war kaum noch Schnee von letzter Woche übrig, als Martha am darauffolgenden Tag ihre Mutter besuchte.

»Niemand interessiert sich für meine Einwände«, meinte Martha missmutig und wehrte das Kirschkompott ab, das die Mutter ihr über den Tisch schieben wollte.

»Sie glauben, ich hätte was gegen Technologie«, sprach Martha weiter. »Sie halten mich für alt.«

»So geht es mir immer«, antwortete die Mutter, langte nun selbst nach der Glasschale mit dem Kompott.

»Kinder überwachen!«, Martha schüttelte den Kopf.

»Ja, wir werden hier auch überwacht«, sagte die Mutter mit Blick in die Glasschale.

»Dagegen habe ich was«, sagte Martha trotzig wie ein Teenager. »Dann musst du sie mit ihren eigenen Waffen schlagen«, meinte die Mutter und nahm einen Löffel vom Kirschkompott.

Martha schaute auf, als ihre Mutter gerade einen Kirschkern ausspuckte.

»Da beiß’ ich mir ja die Zähne aus!«, rief sie und schob das Kompott weg.

Als Martha später das Gebäude verließ, drehte sie sich nach ein paar Schritten zum flacheren Anbau um und schaute hinauf zu ihrer Mutter, die am Fenster stand. Die automatische Eingangstür des Altersheimes öffnete und schloss sich unterdessen, als würde sie mit den Besuchern Blut durch das Gebäude pumpen. Martha hob ihre Hand und die Mutter winkte zurück, im selben Moment schloss sich wieder die Eingangstür. Etwas daran stimmte Martha traurig; auf und zu würde die automatische Eingangstür gehen, auf und zu – auch dann, wenn das Herz ihrer Mutter nicht mehr schlüge. Da riss die Mutter das Fenster auf und rief lachend: »Wenn sie übrigens dort« – und sie zeigte hinüber zum Altersheim – »die Leute überreden wollen, ihre Medikamente zu schlucken, versprechen sie ihnen ein zweites Dessert!«

Ein munterer Zachy erzählte Anatol am Telefon, die Präsentation der KREIDE gestern in der Schule sei ein Traum gewesen. »Schade, dass du nicht dabei warst!« Mein eigener hat mir gereicht, dachte Anatol an seinen Traum zurück.

»Sogar diese Lehrerin hat passen müssen.«

»Martha Kopetzky heißt sie«, sagte Anatol, selbst erstaunt über seinen Ton.

Zachy ging nicht weiter darauf ein und meinte nur: »Weihnachten steht nun nichts mehr im Weg.«

Anatol wünschte ihm einen schönen Skiurlaub.

»Skiurlaub«, murmelte Zachy und eine kurze Pause entstand, sodass Anatol sich fragte, ob er etwas falsch erinnert hatte.

»Hoffentlich gibt es Neuschnee«, meinte Zachy da geschwind und wünschte Anatol frohe Weihnachten – er müsse nun los, noch einmal zur HNO-Ärztin, eine Kontrolle. Er sei schon spät dran, und er fügte an: »Aber mit dem Fahrrad bin ich ja blitzschnell.«

»Blitzschnell kann man auch überfahren werden«, erwiderte Anatol.

»Freu dich endlich über die gelungene Präsentation und hör auf, alle nahe einem Unglück zu sehen!«, antwortete Zachy.

Einen Moment war es so ruhig am anderen Ende der Leitung, dass Zachy fürchtete, Anatol habe gar einen Herzstillstand erlitten, was der Konversation eine unnötige Pointe verliehen hätte. Doch dann hörte er Anatol matt sagen: »Frohe Weihnachten«, und es rutschte ihm geradezu heraus: »Brich dir nichts beim Skifahren!«

»Solange es nicht das Genick ist!«, antwortete Zachy fröhlich, bevor er auflegte.

Auch im Bildungsministerium wurden Anatol von allen Seiten schöne Feiertage gewünscht, was er stets erwiderte. Vielleicht waren solche Routinen ja ein Mittel, so zu tun, als könnte einen ein Unglück nicht jederzeit treffen, dachte Anatol mit Zachys Ermahnung im Ohr. Über die gelungene Präsentation konnte er sich trotzdem nicht freuen; dafür über die Nachricht, die ihm Hanna geschickt hatte.

Ihr Vater muss doch vor zwei Tagen angekommen sein, dachte Anatol, und trotzdem hat sie mich nicht vergessen. Er schrieb ihr direkt zurück. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, Vater und Tochter nicht zu stören, aber nachdem sie sich selbst gemeldet hatte, hatte er nicht mit einer Antwort gezögert.

Anatol war schließlich einer der letzten Mitarbeiter, der aus dem Tor des Bildungsministeriums kam. Auch Martha war am Nachmittag eine der Letzten gewesen, die die Schule nach Unterrichtsschluss verlassen hatten.

Vor beiden lagen vierzehn Tage zu Hause. Martha freute sich schon auf Treffen mit Freunden, die sie schon länger nicht mehr gesehen hatte, und natürlich mit Frederika und Lynn. Die Feiertage würde sie mit ihrer Mutter verbringen. Sogar die Weihnachtsfeier im Altersheim würde sie in Kauf nehmen, obgleich die Mutter sie aufs Neue davor gewarnt hatte.

Anatol würde viel spazieren gehen. Er kannte diese Art Weihnachten jetzt schon. Die Leerstelle verursachte einen Schmerz, gegen den er allein in die Kälte hinausging. Er glaubte, dass ihm das mehr half, als die Feiertage in Gesellschaft zu verbringen. An Angeboten seiner Freunde hatte es ihm auch dieses Jahr nicht gefehlt, aber er hatte wie beim ersten Weihnachten ohne Gisela alle Einladungen abgelehnt.

Stattdessen stieg er regelmäßig in die Buslinie 38A, die ihn auf den Kahlenberg brachte. Am Busfenster zogen geschmückte Fenster und bunte Lichter vorbei. Gisela hatte einmal – gegen Ende war es gewesen – zu ihm gesagt, dass sie sich als Schwerkranke isoliert fühle: »Wer gesund ist, wirft nur einen kurzen Blick auf meine Seite.« Anatol hatte sich darauf nicht zu sagen getraut, dass er sich ebenfalls ausgeschlossen fühlte.

Als der Bus die Häuser hinter sich ließ und vorbei an Weinbergen mit zurückgeschnittenen Weinstöcken die Kurven der Höhenstraße hochfuhr, wich seine Bedrücktheit. Anatol stieg bei der Endstation aus und spazierte lange durch den Wienerwald. Auf seinen Ausflügen in die Kälte begegnete er kaum jemandem. Wenn er dann frierend im grauen Winterlicht nach Hause kam, hielt die Betäubung seines Schmerzes auch in der Wärme noch ein wenig an.

Am Weihnachtstag nahm er allerdings nicht den Bus 38A, sondern die Straßenbahn 71. Er stieg beim Zweiten Tor aus und als es zu schneien begann, konnte er sich sogar darüber freuen. Schon in der Nacht hatte es das leicht getan, sodass seine Schritte knirschten. Auch der Wind pfiff, schnitt ihm allerdings so ins Gesicht, dass er sich mit seinem neuen Schal vermummen musste. Genau das richtige Weihnachtsgeschenk, Hanna, dachte er, der es bereits in der Früh geöffnet hatte. Dick eingepackt ging er den Weg entlang, während auf den Gräbern die Flocken tanzten.

Hinter der Wasserentnahmestelle, die im Winter abgedreht wurde, bog Anatol nach rechts ab zu ihrer Reihe. Beim Näherkommen sah er, dass das Nebengrab ausgehoben war. You are my candy girl. Es schneite in die Grube. Eine Decke dünn wie ein Zuckerguss lag über Giselas Grab.