»Puh«, brach Hunter schließlich das Schweigen. »Echt ein verrückter Abend, was?«
»Eigentlich gar nicht«, widersprach Nate, der die Reste einer großen Schüssel Popcorn nach den letzten vollständig aufgepufften Exemplaren absuchte, in denen sich kein harter Kern versteckte. »So läuft das an dieser Schule. Irgendwas Schreckliches passiert und dann sitzen wir alle hier und heulen rum, wie schrecklich doch alles ist. Wir lernen’s einfach nicht.«
Stevie versetzte ihm einen sanften, aber nachdrücklichen Ellbogenstoß in die Rippen. Sie hockte neben ihm auf dem Sofa, während Hunter im Hängesessel vor dem knisternden Kaminfeuer hin und her schwang. Gegenüber von ihm saß Janelle mit Pix. Sie hatte auf dem Weg nach Hause ununterbrochen geweint.
»Das waren ganz normale Paintball-Kartuschen«, beteuerte sie schluchzend.
»Ist ja gut«, sagte Pix und nahm sie in den Arm. »Es war nicht deine Schuld.«
»Doch«, fauchte Janelle unter Tränen. »Ich hab die Maschine gebaut, also bin ich auch dafür verantwortlich. Die Kartuschen hatten den ordnungsgemäßen Druck. Die Regler waren ganz niedrig eingestellt. Ich verstehe einfach nicht, was da passiert ist. Alles war abgesichert, die Maschine ist komplett harmlos. Ich hab es doch Dutzende Male getestet.«
Darauf fiel Pix nichts mehr ein und den anderen schien es genauso zu gehen. Schließlich meldete sich Hunter zu Wort.
»Diese CO2-Kartuschen sind wirklich total gebräuchlich«, sagte er. »Haben superviele Leute zu Hause in der Küche stehen, in diesen Wassersprudlern, wisst ihr?«
»Wie jetzt, Kohlensäure?«, fragte Stevie.
»Solche hast du doch benutzt?«, wandte sich Hunter an Janelle. »Oder was anderes?«
»Nein, Kohlensäure«, bestätigte Janelle. »Und genau, seht ihr, damit macht man Sprudelwasser!«
Ein Zittern lief durch Stevies Körper.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie.
Hektisch stolperte sie in ihr Zimmer und riss ihren Lackmantel, Bademantel und ein paar andere Klamotten von den Wandhaken – alles, was die Klebezettel verbarg, die sie am Abend zuvor aufgehängt hatte.
Ihr Blick richtete sich auf die hellblauen.
Hayes Major: Kohlendioxidvergiftung/Trockeneis
Ellie Walker: Unterkühlung/verdurstet (im Tunnel gefangen)
Dr. Irene Fenton: Feuer
Sie schnappte sich den blauen Block und riss einen neuen Zettel ab.
Janelles Maschine: Unfall mit Kohlensäurekartusche
So langsam bestand wirklich kein Zweifel mehr. Irgendwer hatte da seine Hand im Spiel – eine Hand, die lautlos ins Geschehen eingriff und es in falsche Bahnen umlenkte. Die Trockeneis deponierte, Türen verschloss, Gashähne aufdrehte und jetzt womöglich auch Janelles Maschine manipuliert hatte.
Warum zum Teufel sollte jemand eine Rube-Goldberg-Maschine zerstören wollen? Sie starrte auf die vier Zettel, als könnten diese ihr das Geheimnis verraten, ihr verstehen helfen. Was hatten Hayes, Ellie, Dr. Fenton und … irgendwelche vollkommen zufällig betroffenen Schüler gemeinsam?
Tja, zumindest in zwei Fällen … Janelle.
Jemand hatte Janelles Chipkarte benutzt, um an das Trockeneis in der Werkstatt zu kommen. Und der Grund, warum Janelle überhaupt Zugang zur Werkstatt hatte, war ihre Maschine, die jetzt in Trümmern lag. Aber das stand beides in keinerlei Zusammenhang zu dem, was Ellie und Dr. Fenton passiert war, es sei denn, da draußen lief ein Mörder rum, der es sich nebenbei zum Ziel gesetzt hatte, ein paar Schülerprojekte an der Ellingham zu ruinieren.
Stevie nahm sich weitere Klebezettel und hielt darauf alles fest, was ihr im Kopf herumschwirrte:
Janelles Chipkarte
Die Botschaft an der Wand
Unfälle mit CO2
Es klopfte leise an die Tür und in der nächsten Sekunde kam Nate ins Zimmer geschlurft. Stevie schnappte sich ihren Bademantel und Handtücher und startete einen halbherzigen Versuch, die Zettel an der Wand zu verdecken, aber Nate hatte sie längst gesehen.
»Du glaubst nicht, dass es ein Unfall war«, stellte er fest. »Wenn du so plötzlich abhaust wie gerade, bedeutet das meistens, dass du das, was passiert ist, nicht für einen Unfall hältst. Ist fast so was wie dein Markenzeichen.«
»Hältst du es denn für einen?« Stevie gab es auf und warf ihren Bademantel Richtung Bett, das er allerdings um gut und gerne einen Meter verfehlte und sich stattdessen dramatisch auf dem Boden ausbreitete.
»Nein.« Nate setzte sich auf Stevies knarzenden Schreibtischstuhl. »Ich halte hier gar nichts mehr für Un- oder Zufälle. So sehr glaube nicht mal ich ans Schicksal. Ich find’s nur seltsam, dass irgendwer es anscheinend speziell auf unser Haus abgesehen hat. Ist ja fast wie in einer Parabel.«
»Und was will die uns sagen?«, wollte Stevie wissen.
»Keine Ahnung.« Nate kreiselte mit dem Stuhl einmal um sich selbst. »Schule ist lebensgefährlich?«
»Ich hab das Gefühl, es ist direkt vor meiner Nase, aber ich kann es trotzdem nicht sehen«, seufzte Stevie kopfschüttelnd. »Unsere Schule ist berühmt für ihre Morde. Dieser gesamte Ort ist in Legenden gehüllt. Ist es vielleicht leichter, etwas Schreckliches anzurichten, wo sowieso alle ständig mit etwas Schrecklichem rechnen? Hier sind eine ganze Menge Menschen gestorben und dafür muss es irgendeinen Grund geben. Vielleicht ist es sogar immer derselbe. Vielleicht zieht sich ja ein roter Faden von 1936 bis heute.«
Sie zog ihre Kommodenschublade auf und holte die zerbeulte Teedose heraus, die sie in Ellies Zimmer gefunden hatte und die ihr zum entscheidenden Durchbruch im Ellingham-Fall verholfen hatte. Sie öffnete sie behutsam, klaubte den Inhalt heraus und verteilte die Sachen neben ihrer Haarbürste und ihrem Deo auf der Kommode.
»Eine weiße Feder«, sagte sie und hielt sie hoch. »Eine Lippenstifthülse. Ein schuhförmiges Döschen. Ein Stofffetzen. Fotos. Und ein Gedicht. Irgendwer hat diese Sachen damals in den Dreißigern gesammelt und versteckt. Alles wertloses Zeug, aber das sind Hinweise ja meistens. Irgendwelcher Schrott, Teile, die bei einem Unfall vom Auto absplittern. So ein Mord hinterlässt jede Menge Müll und genau den muss man sich vornehmen, wenn man herausfinden will, was passiert ist. Auf irgendeine Weise hat dieser Krempel es bis zu uns in die Gegenwart geschafft, zu diesen Unfällen mit CO2 und Feuer und verschlossenen Tunneln. Auf dieser Schule liegt kein Fluch. So was gibt es nicht. Es sei denn, Geld ist einer.«
»Ist es ja auch, auf gewisse Weise«, erwiderte Nate. »Nicht, dass ich welches hätte. Na ja, ein bisschen vielleicht. Von meinem Buch. Okay, bei näherer Betrachtung hab ich schon welches. Aber ich hab keine Ahnung, was ich damit anfangen soll. Außer Steuern zahlen.«
»Geld«, wiederholte Stevie. »Bei den Entführungen ging es um Geld. Wenn Fenton richtiglag, wenn es wirklich irgendwo diesen Testamentsnachtrag gibt, laut dem derjenige, der Alice tot oder lebendig aufspürt, ein Vermögen erbt …«
»Aber hat Charles nicht gesagt, dass der gar nicht existiert?«
Stevie starrte auf die Gegenstände auf ihrer Kommode. Die Perlen auf dem Stofffetzen schimmerten. Gedankenverloren rollte sie mit einem Finger die Lippenstifthülse hin und her.
»Da steckt irgendwas Größeres dahinter, das alles zusammenhält«, sagte sie. »Aber wie soll ich jemals herausfinden, was es ist? Ich weiß langsam nicht mehr weiter. Ich hab keine Ahnung, wie genau man in einem Fall ermittelt. Klar hab ich haufenweise darüber gelesen, aber ist ja nicht so, als stünde mir ein forensisches Labor zur Verfügung. Und Zugriff auf Polizeidatenbanken oder die Berechtigung, irgendwelche Leute zu befragen, hab ich auch nicht. Alles, was ich tun kann, ist, Sachen aus der Vergangenheit zu recherchieren, nur wie soll ich das, was jetzt passiert, angehen? Das hier ist echt. Und es hört nicht auf.«
»Dann erzähl jemandem davon«, schlug Nate vor.
»Was soll ich denn sagen? Dass hier meiner Meinung nach ein böser Mörder umgeht? Und als Beweis zeige ich meine Klebezettel, oder wie?«
»Ja, wieso nicht?«
Es klopfte und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Hunter schob seinen blonden Kopf hindurch und biss sich nervös auf die Unterlippe.
»Darf ich reinkommen?«, bat er. »Drüben ist es irgendwie komisch. Janelle ist total fertig und ich will sie weder ignorieren noch anstarren …«
»Klar …« Stevie trat unauffällig vor ihre Klebezettel und versuchte, sich lässig an die Wand zu lehnen. Ihre Teedose kannte Hunter sowieso schon, das war also kein Problem – aber die Verschwörungstheoretiker-Wand des Todes war möglicherweise doch eine Spur zu heftig.
»Schätze mal, das dicke Ende kommt noch wegen dieser Sache mit der Maschine«, sagte er.
»Muss nicht unbedingt sein«, erwiderte Stevie. »Die Schule hat schon Schlimmeres überstanden. Zum Glück wird das hier nicht durch sämtliche Nachrichten gehen wie letztes Mal und uns noch mehr unter Druck setzen. Solange –«
»Fällt das hier unter Nachrichten?«, fragte Hunter.
Er hob sein Handy.
EXKLUSIVER BATT-BERICHT: Erneuter Unfall an der Ellingham Academy, lautete die Schlagzeile.
»Germaine«, knurrte Stevie. »Verdammt, Germaine.«
Das dicke Ende kam in Form einer schulweiten SMS, die Stevie am nächsten Morgen um sieben Uhr aus ihrem unruhigen Schlaf riss. Wie so oft in letzter Zeit war sie am Abend zuvor in Hoodie und Jogginghose ins Bett gekrochen und das Handy versteckte sich irgendwo unter der Decke. Bevor sie es hervorkramen und nachsehen konnte, was los war, stand auch schon Janelle in ihrem Katzenpyjama in der Tür. Ihre Augen glänzten feucht.
»Oh Gott«, klagte sie. »Die machen wegen mir die Schule dicht.«
»Hm?«, war alles, was Stevie rausbekam.
Janelle ließ sich neben sie aufs Bett plumpsen, legte ihr Handy vor sie und brach in Tränen aus.
Heute um 9:00 Uhr Schulversammlung im Speisesaal. Anwesenheit verpflichtend. Sämtlicher Unterricht fällt aus.
Eine Weile später schloss sich das Minerva-Grüppchen der kleinen Völkerwanderung über das Schulgelände an. Janelle hatte gerade erst aufgehört zu weinen. Nates Hände steckten so tief in seinen Taschen, dass sie sich inzwischen auf Kniehöhe befinden mussten. An der Haustür war Vi zu ihnen gestoßen, um sich gemeinsam mit ihnen auf den Weg zum Speisesaal zu machen. Sie trug heute Hemd und Krawatte und hatte Janelle zur Aufheiterung einen Strauß Papierblumen gebastelt. Auch Hunter war mitgekommen, obwohl er kein Ellingham-Schüler war und darum streng genommen nicht dazu verpflichtet. Aber da er nun mal neu und ein bisschen schüchtern war und seinen Platz hier noch nicht gefunden hatte, ging er eben mit.
»Das ist alles meine Schuld«, schniefte Janelle. »Alles, was jetzt passiert.«
»Stimmt doch gar nicht«, widersprach Vi. »Und wahrscheinlich passiert überhaupt nichts. Sicher wird nur wieder irgendeine neue Regel in Kraft gesetzt oder es geht um was ganz anderes. Den Schnee zum Beispiel – soll ja ein richtiger Monstersturm werden.«
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf die Wettervorhersage.
»Hört euch das mal an«, verkündete sie. »Bis zu einem Meter Schnee und hohe Windgeschwindigkeiten, darum ist mit beträchtlichen Verwehungen zu rechnen. Morgen früh soll’s losgehen, anfangs nur so fünf, sechs Zentimeter pro Stunde, aber dann rasch zunehmend.«
»Alles meine Schuld«, jammerte Janelle wieder.
Als sie die große Rasenfläche erreichten, blieb Hunter stehen.
»Ich muss auf dem Weg bleiben«, erklärte er. »Ist schon okay, wir treffen uns einfach dort.«
»Wir können uns ja aufteilen«, schlug Vi vor.
Lasst mich am besten mal kurz mit ihr allein, schien ihr Blick ihnen zu sagen.
»Okay, klar.« Stevie nickte.
Und so gingen Vi und Janelle geradeaus weiter über die Rasenfläche, während Hunter, Nate und Stevie den Umweg über das Rondell nahmen.
»Tut mir leid«, sagte Hunter. »Aber meine Krücke bleibt sonst dauernd im Gras stecken.«
»Quatsch, dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen«, erwiderte Stevie. »Und die beiden mussten eh mal in Ruhe miteinander reden.«
»Wozu wohl die Schulversammlung?«, fragte Hunter.
»Ist kein gutes Zeichen«, orakelte Nate. »So was ist nie ein gutes Zeichen. Zumindest nicht hier.«
Die gesamte Ellingham traf sich im Speisesaal. Im Cafébereich mit den gemütlichen Sofas und Sitzsäcken prasselte ein Feuer im Kamin. Dort saßen die meisten Leute oder – genauer gesagt – hatten sich über sämtliche verfügbare Oberflächen drapiert, manche noch im Schlafanzug mit hastig drübergezogenen Kapuzenjacken. Die Luft schien vor Anspannung zu pulsieren. Lehrer eilten mit Kaffeetassen durch den Raum. Vi und Janelle hatten an einem Tisch Platz gefunden. Vi versuchte Janelle gerade zu ein paar Bissen von ihrem Pfannkuchen zu überreden, jedoch ohne Erfolg. Ein Stück weiter hatte sich Germaine Batt hinter ihrem Laptop verschanzt und starrte hochkonzentriert auf den Bildschirm.
»Bin gleich wieder da«, erklärte Stevie Nate und Hunter.
Sie ging zu Germaines Tisch und setzte sich neben sie. Germaine blickte nicht auf.
»Spar’s dir«, sagte Germaine.
»Was?«
»Mir zu erzählen, dass ich den Artikel nicht hätte posten dürfen. Schließlich hab ich nirgends behauptet, es wäre Janelles Schuld gewesen.«
»Du schreibst, ihre Maschine wäre explodiert«, warf Stevie ihr vor. »Dabei stimmt das gar nicht.«
»Dieses Ding hat Mudge den Arm gebrochen.«
»Aber explodiert ist es trotzdem nicht. Es …«
Germaine klappte resolut ihren Laptop zu und sah Stevie an. »Pass auf«, erklärte sie. »Mir ist klar, dass das alles für Janelle nicht schön ist, aber ich hab bloß berichtet, was gestern passiert ist. Fertig. Genau wie du nach Hayes’ Tod angefangen hast, selbst Ermittlungen anzustellen. Und wir wissen ja wohl beide, was dabei herausgekommen ist.«
Es war, als hätte jemand Stevie einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Sie prallte regelrecht nach hinten, dann stand sie auf und taumelte benommen zurück zu ihren Freunden. In dem Moment betraten Nennt-mich-ruhig-Charles und Dr. Quinn entschlossenen Schrittes den Speisesaal. Ihre Mienen waren ernst, als sie sich in der Nähe der Tür mit ein paar Lehrern unterhielten.
»Nicht gut«, flüsterte Nate.
Jetzt trat Charles in die Mitte des Cafébereichs und stieg auf ein massives Holztischchen.
»Wärt ihr so nett, alle ein Stück näher zu kommen oder euch zumindest in meine Richtung zu drehen?«, begann er.
Es wurde schlagartig still im Raum. Selbst auf diese Entfernung hörte Stevie das Feuer im Kamin knistern.
»Wir haben euch heute Morgen hierhergebeten, weil wir euch etwas mitzuteilen haben«, fuhr er fort. »Dieses Jahr ist eines der schlimmsten in der Geschichte der Schule. So etwas hat es hier noch nie gegeben, zumindest nicht seit den Dreißigerjahren. Wir haben den Tod zweier Schüler zu beklagen. Dieser Verlust hat einige Fragen über die hiesige Sicherheitssituation – sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht – aufgeworfen. Bis heute waren wir der Ansicht, dass es besser für die Schule und für euch alle wäre, den Unterricht weiterhin stattfinden zu lassen. Jetzt jedoch …«
Jetzt jedoch klang nicht gut. Gar nicht gut.
»… und ich möchte betonen, dass daran niemand die Schuld trägt …«
Janelle entfuhr ein Schluchzer, den sie hastig als Hüsteln zu tarnen versuchte.
»… sind wir zu dem schweren Entschluss gekommen, dass wir zumindest dieses Halbjahr vorzeitig beenden sollten.«
Eine Gruppenreaktion wie die, die jetzt wellenartig durch die Menge brandete, hatte Stevie noch nie erlebt – ein kollektives Nach-Luft-Schnappen, das jeglichen Sauerstoff aus dem Raum zu saugen schien, gefolgt von einem Wimmern, einem Aufschrei, einem »Ach, du Scheiße« und mehreren »Oh Gott«.
»Was? Aber wie soll es denn dann weitergehen?« Maris. Sie hatte sich katzengleich vor dem Kamin zusammengerollt und trug eine schwarze samtartige Pyjamahose und einen übergroßen Flauschpullover. Melancholisch wie die tragische Heldin eines Stummfilms blickte sie zu Charles hoch.
»Unser Plan sieht wie folgt aus«, antwortete dieser. »Erstens: Was eure Ausbildung anbelangt, braucht ihr euch keinerlei Sorgen zu machen. Wir werden einen Weg finden, wie ihr von zu Hause aus weiterlernen könnt. Euer akademischer Fortschritt wird nicht darunter leiden. Nicht im Geringsten.«
Aus irgendeiner Ecke ertönte ein erleichterter Seufzer.
»Normalerweise würden wir euch gern alle Zeit der Welt gönnen, um die Ereignisse zu verarbeiten und darüber zu reden, aber leider kommen uns dabei gerade die äußeren Umstände in die Quere. Ihr habt ja sicher von dem Schneesturm gehört, der auf uns zusteuert. Sieht aus, als würde das ziemlich schlimm. Gut möglich, dass morgen um diese Zeit die Straßen schon nicht mehr passierbar sind. Und darum müssen wir die Schule unglücklicherweise bereits heute Abend evakuieren …«
Der Raum schien sich auszudehnen. Alles fing an, sich zu drehen. Stevie sah hoch zu den hölzernen Dachbalken, die dem Gebäude das Flair einer Skihütte verliehen. Sie roch den warmen Ahornsirup, das Feuer und den unvermeidlichen Essensmuff, vor dem keine Cafeteria gefeit war.
»Mir ist klar, dass das knapp wird«, fuhr Charles fort. »Macht euch keine Gedanken darüber, wie ihr nach Hause kommt – das wird alles von uns arrangiert und finanziert. Momentan sind wir dabei, Flüge für diejenigen von euch zu buchen, die darauf angewiesen sind. Der Flughafen ist voraussichtlich bis heute Abend noch geöffnet, deswegen mussten wir diese Versammlung hier auch direkt für heute Morgen einberufen. Den Transport per Zug und Auto organisieren wir ebenfalls. Ihr müsst nicht mal groß packen. Nehmt einfach mit, was ihr für eine Woche braucht, den Rest senden wir euch nach. Jeder von euch erhält in Kürze eine Nachricht von uns mit seinen persönlichen Reiseinformationen –«
»Kommen wir denn wieder zurück?«, wollte jemand wissen.
»Das wird sich noch zeigen«, erwiderte Charles. »Aber ich hoffe es sehr.«
Er redete noch fünf Minuten weiter, irgendwas über Gemeinschaft und Gefühle, aber Stevie kriegte kaum etwas mit. Der Raum verzerrte sich immer mehr und ihr Puls raste. Sie hatte nicht daran gedacht, ihren Rucksack mit der Notfalltablette mitzunehmen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als fest die Augen zu schließen und zu atmen. Ein, bis vier zählen. Halten, bis sieben zählen. Aus, bis acht zählen.
Als sie kurz darauf den Speisesaal verließen, kam Pix ihnen entgegen. Sie drückte sie der Reihe nach an sich, abgesehen von Nate, der nicht so der Umarmungstyp war.
»Mein Flug nach San Francisco geht um zwei«, verkündete Vi nach einem Blick auf ihr Handy.
»Meiner um vier«, sagte Janelle.
Die beiden fielen sich in die Arme. Stevie spürte ein Vibrieren in der Tasche, aber sie guckte nicht nach.
»Wir sehen uns gleich zu Hause. Tut mir furchtbar leid. Aber es kommt schon alles wieder in Ordnung«, versprach Pix.
Wer’s glaubte.
In einer langsamen, schweigenden Prozession marschierten sie zurück zu Minerva. Vi kam mit, Hand in Hand mit Janelle. Stevie dachte an die Stelle aus dem Großen Gatsby, die sie nicht losließ.
Zwar war sie sich noch immer nicht ganz sicher, was damit gemeint war, aber irgendwie jagte sie ihr Angst ein. Sie rief ihr in Erinnerung, dass es in ihrem Inneren finstere, unerforschte Korridore gab, dass die Welt groß war und manche Dinge sich bei näherer Betrachtung veränderten. Und solche Gedanken konnte man nun wirklich nicht gebrauchen, wenn man sich von all seinen Träumen von Schule, Freundschaft und dem Ausbruch aus einem mittelmäßigen Leben verabschieden musste – gerade als man glaubte, sie seien Wirklichkeit geworden. So viele letzte Male. Das letzte Mal, dass sie vom Speisesaal zurück nach Hause liefen. Das letzte Mal, dass sie ihre Chipkarte vor das Lesegerät hielt. Das letzte Mal, dass sie die große blaue Tür aufdrückte. Das letzte Mal, dass sie die seltsamen Schneeschuhhaken und den Elchkopf an der Wand sah und David auf dem durchgesessenen dunkelroten Sofa …
David.
Saß dort. In seinem Zweitausend-Dollar-Sherlock-Holmes-Mantel, vor sich einen monströs großen Rucksack, die Hände im Schoß gefaltet und ein wissendes Lächeln im Gesicht.
»Tag, zusammen«, begrüßte er sie. »Na, habt ihr mich vermisst? Macht die Tür zu. Wir haben nicht viel Zeit.«