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September 1936

Es war seltsam, einem See beim Verschwinden zuzusehen. Stunde um Stunde verschwand er weiter aus dem Blickfeld. Zur Frühstückszeit war Flora Robinson noch einmal hinausgegangen, um sich von ihm zu verabschieden. Nach dem Mittagessen sah er schon gar nicht mehr wie ein See aus mit dem plötzlich freigelegten, moosig-glitschigen Steinufer. Ab vier Uhr nachmittags begleitete ein vernehmliches Rauschen den sinkenden Pegel. Blätter klebten auf der stetig weiter zusammenschrumpfenden Oberfläche. Bei Sonnenuntergang war er fort.

Das Schicksal des Sees war in dem Moment besiegelt gewesen, als eine berühmte Hellseherin bei der New York Times angerufen und einem Reporter dort erzählt hatte, Alice Ellingham habe das Anwesen niemals verlassen, sondern läge am Grund des Sees. Zwar glaubte Albert Ellingham eigentlich nicht an derlei Unsinn, aber nach vier schlaflosen Nächten wies er Mackenzie schließlich doch an, das Wasser abpumpen zu lassen. Was schnell getan war. Der See wurde durch eine Anzahl von Rohren gespeist, die Wasser von höher oben auf dem Berg nach unten leiteten; ein anderes Rohr führte bergab bis in den Fluss. Also war nichts weiter nötig, als den Zulauf zu schließen und den Ablauf zu öffnen und … weg war der See.

Passend zum traurigen Ende des Sees fühlte sich auch Floras Leben an wie ausgetrocknet, als wäre alles Schöne und Interessante herausgeflossen. Wohin sie auch ging, sie war nur noch »diese Frau, die an dem Abend auch dabei war« oder »eine Bardame aus dem Umkreis der Familie«. Niemals mehr das, was sie wirklich war – eine Freundin. Iris’ allerbeste Freundin auf der ganzen Welt. Jemand, der sie von ganzem Herzen vermisste. Die Öffentlichkeit aber hatte lediglich Bilder von Iris’ New Yorker Bekannten zu sehen bekommen, die bei der Beerdigung ihre Trauer zur Schau stellten und die Kathedrale Saint John the Divine mit Gewächshausladungen von Rosen, Iris und Flieder (ihr Lieblingsduft) füllten. Filmstars reisten mit dem Flugzeug aus Kalifornien an, um der geliebten Frau ihres Arbeitgebers zu gedenken. Mitglieder der New Yorker Philharmoniker spielten an ihrem Sarg und die Mezzosopranistin Clara Ludwig rührte mit ihrem Ave Maria alle zu Tränen.

Vielfach fotografiert wurde auch der Trauerzug aus schwarz verhängten Rolls-Royce Phantoms, die in andächtigem Tempo durch den Central Park Richtung Plaza Hotel rollten, wo anschließend der Leichenschmaus stattfand und sich die Laune bei unzähligen Gläsern Champagner und Türmen von Fingersandwiches rasch wieder hob. Es war Hochsommer und eine laue Brise wehte zu den Fenstern herein. Die Gäste verglichen ihre Garderobe, Aktienportfolios und Reisepläne. Viele von ihnen waren eigens für die Beerdigung aus ihren Sommerresidenzen zurückgekehrt. Wie grauenhaft, sich bei dieser Hitze in der Stadt aufhalten zu müssen!

Flora schlich umher wie ein Gespenst. Sie aß kein Sandwich und trank keinen Champagner. Sie schwitzte in ihrem schwarzen Kleid und ging zweimal auf die Toilette, um sich zu übergeben. Als der größte Zirkus vorbei war, liefen Leo und sie wie betäubt durch den Central Park. Der Tag zog sich endlos hin, als wollte er sich weigern, Platz für den Abend zu machen. Der Himmel über ihnen wirkte erdrückend und zu allem Überfluss wurden sie auch noch von einem Grüppchen Reporter verfolgt, bis sie schließlich den Park verließen und sich in ein Taxi flüchteten. Sie fuhren in Leos Atelier, wo er Flora etwas gab, wovon sie besser würde schlafen können.

Jetzt, Monate später, war sie noch immer ein Gespenst und musste zusehen, wie Iris’ See bis hin zum letzten Tropfen in einem Rohr verschwand und nichts als eine leere Felsschüssel zurückblieb. Erschaudernd schloss sie die Vorhänge und wandte sich George Marsh zu, der mit seiner Zeitung an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers saß. Er klappte den oberen Teil um und spähte darüber hinweg zu ihr hoch.

»Leer?«, fragte er.

»Leer.«

»Ich war schon zweimal da draußen. Wir werden ihn uns noch mal Zentimeter für Zentimeter vornehmen, aber ich glaube nicht, dass wir irgendwas finden.«

Flora ging in die Eingangshalle, wo Leonard Holmes Nair auf einem Diwan vor dem mächtigen Kamin saß. Er hielt ein Buch zwischen den Fingerspitzen, schien jedoch nicht darin zu lesen. Sein Blick war auf die Empore im ersten Stock gerichtet.

»Irgendwas geht da vor.« Er deutete mit dem Kinn nach oben. »In den letzten Stunden wurden Unmengen Kisten und Kartons geliefert. Albert hat sie alle kontrolliert und in Alice’ Zimmer bringen lassen. Ein paar davon waren riesengroß. Ich wollte nachsehen, was drin ist, aber er hat mich weggescheucht. So aufgeregt habe ich ihn seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Er hat sogar gelächelt

Flora setzte sich neben ihren Freund und sah ebenfalls zur Empore hoch. Was für eine seltsame, nicht zwangsläufig positive Entwicklung! Irgendwann erschien Albert und beugte sich über das Geländer.

»Flora, Leo, kommt, das müsst ihr euch ansehen. Und bringt George mit. Es ist fertig.« Albert wirkte regelrecht aufgekratzt. »In Alice’ Zimmer.«

Flora war seit der Entführung nicht mehr in diesem Zimmer gewesen. Es war makellos erhalten. Jeden Morgen wurden die Spitzengardinen auf- und jeden Abend wieder zugezogen. Die Bettwäsche wurde regelmäßig gewechselt. Die Plüschtiere warteten in Reih und Glied auf ihre Besitzerin und die Puppen saßen stets frisch abgestaubt auf ihren Stühlchen. Jede Saison wurden etwas größere Kleider geliefert, bereit für Alice’ Rückkehr. Das alles hatte Flora gewusst. Aber jetzt nahm etwas Neues die Mitte des Raums ein, schien ihn regelrecht auszufüllen. Es war eine perfekte Nachbildung des Hauses, in dem sie sich befanden – die Ellingham-Villa in Miniaturform.

»Es wurde in Paris gefertigt«, erklärte Albert, während er um das Puppenhaus herumwanderte und durch die kleinen Fenster lugte. »Ich hatte es schon vor zwei Jahren in Auftrag gegeben und jetzt ist es endlich da. Ist es nicht fantastisch?«

Leo bemühte sich, sein Entsetzen hinter einer ausdruckslosen Miene zu verbergen, aber es gelang ihm nicht ganz. Albert jedoch schien davon nichts zu bemerken. Er trat an eine Ecke des Modells, drückte auf einen versteckten Knopf und klappte es auf. Nun präsentierte sich ihnen das Innere der Villa wie die Eingeweide eines Patienten auf dem Operationstisch.

»Seht euch das an«, forderte Albert sie auf. »All die Details!«

Da war die geschrumpfte Eingangshalle mit ihren Stühlen und dem Marmorkamin. An den handtellergroßen Türen glitzerten winzige Kristallknäufe. Der Morgensalon mit seiner Seidentapete und der französischen Einrichtung, der Ballsaal mit seinen Wandgemälden. Die zwei kleinen Schreibtische in Alberts Arbeitszimmer waren mit briefmarkenkleinen Papieren und Telefonen bestückt, die Flora auf dem Daumennagel hätte balancieren können. Oben dasselbe – Iris’ Ankleidezimmer in Perlgrau. Raum um Raum, der, in dem sie gerade standen, mit eingeschlossen. Das Einzige, was in dem Puppenhaus fehlte, war die Miniaturausgabe seiner selbst.

»Ich habe es anhand von Fotografien anfertigen lassen – und meine Güte, die Künstler haben wirklich ganze Arbeit geleistet! Ich hab’s dir ja gesagt, Leo. Schon bei Alice’ Geburt hab ich gesagt, dass ich ihr eines Tages das schönste Puppenhaus der Welt kaufen würde.«

»Das hast du«, bestätigte Leo heiser.

»Flora, was meinst du?«, fragte Albert.

»Es ist ein Wunderwerk«, antwortete sie und kämpfte die bittere Galle hinunter, die in ihrer Kehle aufstieg.

»Ja.« Albert stemmte die Hände in die Hüften und bestaunte das Haus in seiner ganzen Pracht. »Ja. Das ist es wirklich.«

Seine Hochstimmung schien zu verheißen, dass sich bald etwas Grundlegendes verändern würde. Alice war noch immer verschwunden, aber das Puppenhaus war endlich gekommen – und wenn das Puppenhaus gekommen war, dann musste Alice bald folgen. Eine hirnrissige Logik, verzerrt wie im Spiegelkabinett.

»Wisst ihr«, erzählte er, »ich war eigentlich dabei, auch etwas ganz Wunderbares für Iris zu bauen, als Geburtstagsüberraschung. Wir haben so was mal in Deutschland gesehen und sie war ganz hingerissen, darum dachte ich … Nun ja. Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist nur, dass Alice’ Geschenk endlich eingetroffen ist.«

»Weißt du was, Albert?«, entgegnete Leo und suchte mit einem Blick Floras und Georges Zustimmung. »Ich finde, das ist ein Grund zu feiern. Wie wär’s, wenn wir alle nach unten gehen und einen Happen essen? Was meinst du?«

»Ja«, antwortete Albert. »Ein kleiner Imbiss würde wohl wirklich nicht schaden. Montgomery kann uns sicher ein paar Schinkensandwiches zusammenstellen lassen.«

Er schickte Leo mit einem Klaps auf den Rücken voraus. Flora wollte hinterher, aber sie konnte sich noch immer nicht ganz von dem Puppenhaus losreißen. George war davor in die Hocke gegangen und betrachtete die geschrumpfte Arbeitszimmereinrichtung.

»Komme gleich«, sagte sie. »Ich will es mir nur noch ein bisschen genauer anschauen.«

»Aber selbstverständlich, bitte!«, forderte Albert sie auf. »Bleib hier, solange du willst!«

Als Albert und Leo verschwunden waren, richtete George sich auf und wandte sich Flora zu.

»Sieh dir mal das hier an.« Er deutete auf ein Schlafzimmer im oberen Stock.

Auf dem Bett saßen drei Porzellanfigürchen aufgereiht – Albert, Iris und in der Mitte Alice.

»Ach, du lieber Gott«, seufzte sie.

»Du sagst es. Am liebsten würde ich das Ding in Brand stecken.«

Er wirkte genauso befremdet wie sie angesichts dieser neuen Entwicklung, dieser absoluten Verhöhnung der Realität. Vielleicht war es das – dieses mulmige Gefühl, das sie beide vereinte –, was Flora plötzlich damit herausplatzen ließ.

»Alice«, stieß sie hervor. »Weißt du Bescheid? Haben sie es dir je gesagt?«

»Mir was gesagt?«, erwiderte George.

Flora rieb sich die Stirn.

»Es ist ein Geheimnis, aber ich dachte, du wüsstest es längst. Also hat dir nie jemand etwas erzählt?«

»Worüber?«

»Albert und Iris sind ihre Eltern, aber …« Flora wedelte mit der Hand. »Iris hat sie nicht zur Welt gebracht.«

»Wer denn dann?«

»Ich«, sagte sie.

Sie wartete einen Augenblick, während die Bedeutung ihrer Worte zu ihm durchsickerte. George legte den Kopf schief.

»Überleg mal, wann sie geboren wurde, George«, fuhr Flora fort. »Denk nach. Vor vier Jahren.«

George blinzelte, ein einziges Mal und ganz langsam. Dann wandte er sich wieder dem Puppenhaus zu.

»Bist du sicher?«, fragte er.

»Ohne jeden Zweifel«, bestätigte Flora. »Eines Morgens bin ich aufgewacht und musste mich in den Papierkorb übergeben. Dabei war ich am Abend zuvor gar nicht aus gewesen. Also bin ich zum Arzt gegangen und der hat meinen Verdacht bestätigt. Ich habe Iris davon erzählt. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht, konnte aber selbst keine bekommen. Es war die perfekte Lösung für uns alle. Ich wusste, dass es diesem Kind nie an etwas mangeln würde. Also sind wir zusammen in die Schweiz gereist. Dort gibt es Kliniken – privat geführt –, deren Personal noch den Mund halten kann. Nicht, dass es eine Schande für Alice gewesen wäre, dass sie adoptiert war. Iris und Albert wollten einfach ihre Privatsphäre wahren und verhindern, dass die ganze Welt sie deswegen behelligte. Alles war perfekt.«

Die winzigen Kronleuchter funkelten, als ein verirrter Strahl der untergehenden Sonne auf die Kristalltropfen traf. George vergrub die Hände in den Taschen und starrte auf das Puppenhaus. Eine Weile stand er einfach bloß schweigend da.

»Ich hätte dich geheiratet, weißt du?«, erklärte er schließlich. »Das wäre nur anständig gewesen.«

Flora stieß ein Lachen aus – ein seltsamer, bellender Laut.

»Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass ich dich vielleicht nicht hätte heiraten wollen?«, fragte sie. »Wir hatten unseren Spaß, George, aber richtig ernst hast du es doch nie gemeint. Und ich genauso wenig.«

»Ich habe eine Tochter«, sagte er.

»Nein«, entgegnete sie. »Ich habe eine Tochter. Und ich habe dafür gesorgt, dass sie ein gutes Leben hat. Oder zumindest habe ich es versucht.«

Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und rieb sich die Seiten. Ihr war kalt und sie war verwirrt. Dieses Gespräch hatte sie niemals führen wollen. Und jetzt, nachdem sie die Wahrheit herausposaunt hatte, wusste sie nicht, was sie noch sagen sollte. Also drehte sie sich um und ging. Ihre Absätze klackten auf den Holzdielen.

George blieb allein zurück und starrte weiter auf das Puppenhaus. Er griff hinein, wie ein Riese, und nahm die kleine Porzellan-Alice in die Hand. Selbst an dieser winzigen Figur konnte er die Ähnlichkeit erkennen. Sie hatte seine Augen geerbt.

Er hatte sein eigenes Kind entführen lassen.

Und jetzt war Alice irgendwo dort draußen, bei den Männern, die er angeheuert hatte. Die ihre Mutter getötet hatten.

George Marsh hatte Alice von Anfang an finden wollen, aber jetzt wurde die Suche nach ihr zu seinem einzigen Lebensziel.