Es war nicht das erste Mal, dass ein Mitglied der Familie King – sei es nun Edward oder David – derart überraschend in Stevies Leben auftauchte. Und auch jetzt schienen plötzlich Metallfesseln aus dem Boden zu schießen und sich um ihre Füße zu legen, sodass sie sich nicht mehr vom Fleck rühren konnte.
»Wer bist du denn?«, fragte David. »Dich hab ich schon mal gesehen, oder? Bist du mein Nachfolger?«
Die Fragen waren an Hunter gerichtet, der seinerseits ungläubig den Typen anstarrte, dem er zuletzt dabei zugesehen hatte, wie er sich in Burlington mitten auf der Straße die Fresse polieren ließ. Davids linkes Auge war noch immer von Blutergüssen gerahmt, manche blauschwarz, andere schon grünlich verfärbt. Die Platzwunde, die von der Schläfe aus über seine Wange verlief, wirkte, als hätte sie besser genäht werden sollen, was jedoch nicht passiert war, und so klaffte das verheilende Gewebe ein Stück auseinander. Dafür war sein Lächeln so breit wie eh und je und das Veilchen betonte das dunkle Braun seiner Augen.
»Äh, ich hab gerade gar keine Ahnung, was hier abgeht«, sagte Hunter.
»Wo kommst du denn auf einmal her?«, fragte Janelle. »Ich dachte, du wärst abgehauen.«
»Durchs Badezimmerfenster«, entgegnete er, als wäre das ja wohl offensichtlich.
»Oh Mann, das Letzte, was wir hier jetzt gebrauchen können, ist so ein Vollidiot wie du.«
»Normalerweise wäre ich da ganz deiner Meinung, nur heute hab ich euch was Wichtiges mitzuteilen, und zwar schnell. Allerdings besser nicht hier. Oben.«
»Die Schule hat gerade dichtgemacht«, protestierte Janelle.
»Ich weiß. Darum bin ich ja hier. Im Ernst, können wir vielleicht einfach hochgehen? Meinetwegen könnt ihr mich da anschreien oder was auch immer, aber ich muss euch echt was richtig, richtig Wichtiges sagen.«
»Wir müssen –«
»Ich weiß nicht, ob Stevie euch das erzählt hat, aber mein Vater ist Edward King.«
Das war zumindest für Vi ein Schock und natürlich auch für Hunter, dessen Einstand in Minerva vermutlich kaum bizarrer hätte verlaufen könnten.
»Willst du uns verarschen?«, stieß Vi hervor.
»Nein, ehrlich. Guck mich doch mal an.« David strich sich mit dem Finger über die unverletzte Gesichtshälfte. »Siehst du’s? Die Ähnlichkeit?«
»Oh Gott«, stöhnte Vi.
»Ja. So hab ich auch reagiert. Okay, also willst du verhindern, dass ein böser Mann Präsident wird? Wenn ja, komm mit nach oben. Wenn nicht, pack dein Duschzeug zusammen und geh nach Hause.«
Schweigen.
»Alle überzeugt?«, vergewisserte sich David. »Gut. Dann rauf jetzt.«
Er stand auf, hievte sich seinen Riesenrucksack auf die Schultern, aus dem ein lautes Klappern drang, und marschierte den Flur hinunter.
»Was redet der da?«, wandte Janelle sich an Stevie.
»Keinen Schimmer«, antwortete diese. »Aber besser, wir finden’s raus.«
Möglicherweise lag es am Entsetzen über die Schulschließung, aber momentan bewegten sie sich alle am liebsten im Schwarm, als hielte eine magnetische Kraft ihr Grüppchen zusammen. Und so machten sie sich gemeinsam auf den Weg die knarzende Wendeltreppe hoch, Janelle hauptsächlich Vi zuliebe, Stevie, weil ihr Körper noch immer von dem unverhofften Wiedersehen mit David nachbebte, und Nate, weil … nun ja, die Strömung ihn mit sich riss. Oben im schummrigen Flur schloss David seine Zimmertür auf und alle folgten ihm hinein. Stevie war nicht zum ersten Mal hier. Der Raum war nüchtern, voller teurer, aber unpersönlicher Dinge. Graue Bettwäsche. Eine High-End-Musikanlage, die David nie benutzte. Mehrere Spielkonsolen. Stevie hatte schon auf diesem Bett gelegen, war gegen diese Wand gedrückt worden. Sie und David hatten …
Nein, darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken.
»Es weiß niemand, dass ich hier bin«, sagte David und setzte sich auf den Boden.
»Bist du sicher?«, wiederholte Janelle. »Und was ist mit den tausend Kameras, die dein Dad hier installiert hat?«
»Ach, die.« David lächelte. »Die hab ich mal für ein Weilchen abgeschaltet. Ich erklär’s euch gleich, aber –«
»Abgeschaltet? Einfach so?«
»Eins muss ich euch über meinen Dad sagen«, fuhr David fort. »Er kommt vielleicht rüber wie ein Superschurke, der alles von langer Hand plant und genau weiß, was er tut, aber meistens sind seine Lösungen nur billige Schnellschüsse. Dieses Überwachungssystem ist der letzte Ramsch und noch dazu stümperhaft installiert.«
Stevie spürte, wie sein Blick einen Moment lang auf ihr verharrte, und starrte auf ihre Schuhe.
»Quatsch, das ist ein gutes System«, widersprach sie. »Dein Dad war bei mir zu Hause und hat es meinen Eltern vorgestellt.«
»Wie, vorgestellt?«, fragte David und legte den Kopf leicht schief.
»Ich hab die … technischen Daten gesehen«, antwortete Stevie, weil es irgendwie professionell klang, aber gleich darauf bereute sie es. Sie hatte nichts dergleichen gesehen. Warum behauptete sie dann so was? Halt dich an die Wahrheit, Stevie.
»Oder zumindest hatte er solche … Broschüren dabei«, fügte sie hinzu. »Alles auf Hochglanzpapier.«
»Uiiiii, Hochglanzpapier.«
Stevie lief rot an.
»Sie mussten das System ja unbedingt innerhalb einer Woche zum Laufen kriegen, darum haben sie es einfach nur eingestöpselt und fertig«, erläuterte er. »Plug and Play. Nichts Festverdrahtetes. An dem Tag, als die Lieferung ankam, hab ich mir heimlich eine von den Basisstationen gekrallt und aufgebaut.«
»Wo das denn?«, wollte Janelle wissen.
»Das soll euch nicht weiter kümmern. Ist jedenfalls gut versteckt. Alles, was ich machen musste, war, mich als Systemadministrator einzurichten. Mein Dad hat den ganzen Kram ja gekauft, darum hat er erst mal schön Benutzerprofile für sich und alle seine Angestellten anlegen lassen. Und ich hab ihm ein zusätzliches Teammitglied verpasst. Gestatten? Jim Malloy, einer von den Bostoner Malloys. Sehr beeindruckender Lebenslauf, hab in Harvard BWL studiert und so. Musste mich bloß einloggen und das Netzwerk auf die andere Basisstation legen, die absolut tot ist. Das System schaltet sich ab, fertig. Und ich kann kommen und gehen, wie und wann ich will. Eigentlich bin ich nur nach Hause gegangen, weil ich die da brauchte.«
Er zog eine Tüte mit USB-Sticks aus dem Rucksack.
»Sehet und staunet«, verkündete er. »Die Schlüssel zum Königreich.«
»Wieso, was ist denn dadrauf?«, erkundigte sich Janelle.
»Ganz sicher bin ich mir selbst nicht. Aber sie lagen in dem Safe im Boden unter unserem Esstisch. Der, von dem er glaubt, keiner wüsste davon.«
»Du hast in seinem Safe herumgeschnüffelt?«, fragte Stevie.
»Hier drauf befinden sich irgendwelche Informationen über den Wahlkampf meines Vaters. Wenn ich das alles lesen will, brauche ich Hilfe. Darum bin ich zu euch gekommen«, wandte er sich an Janelle.
»Erstens«, entgegnete sie, die als Einzige gewillt und in der Lage schien, dieses Gespräch irgendwie zu steuern. »Egal, was auf den Dingern drauf ist – allein die Tatsache, dass du sie hast, ist illegal.«
»Illegal? Wieso? Kann überhaupt irgendwas als gestohlen gelten, was ich in meinem eigenen Zuhause finde?«
»Ja«, antwortete Janelle bestimmt. »Das da sind Wahlkampfdaten. Für so was kann man in den Knast kommen. Hier geht’s nicht um eine Tafel Schokolade oder einen Fernseher.«
»Bist du neuerdings Anwältin?«, konterte er. »Und woher weißt du das mit der Schokolade?«
Janelle richtete sich so kerzengerade auf, dass sie beinahe ein Stück über dem Boden zu schweben schien.
»Sche-herz. Glaubst du etwa, mein Dad isst Schokolade? Denk doch nur an den vielen Zucker! Der Mann lebt von hart gekochten Eiern und dem Leid seiner Mitmenschen. Okay, aber lassen wir den ganzen rechtlichen Kram mal beiseite … Das Risiko liegt komplett bei mir. Ich bitte euch nur um Hilfe beim Durchgucken. Gucken ist kein Verbrechen.«
»Doch, in dem Fall schon«, schimpfte Janelle. »Also, ich hab genug –«
»Nell«, hielt Vi sie zurück. »Warte mal.«
»Nein, Vi. Das geht gar nicht.«
»Ich will es mir nur zu Ende anhören«, beharrte Vi. »Je mehr wir jetzt erfahren, desto besser, falls wir damit wirklich irgendwann zur Polizei müssen.«
»Wo sie recht hat, hat sie recht.« David vollführte eine huldvolle Geste. »Wenn ihr mich schon verpfeift, solltet ihr wenigstens im Besitz aller Fakten sein. Also jetzt mal schön die Lauscher aufsperren.«
»Du verlangst im Ernst, dass wir unsere Computer mit diesen radioaktiven Dingern verseuchen?«
»Also bitte.« David legte sich die Hand aufs Herz. »Ich bin doch kein Ungeheuer. Darum hab ich da mal was vorbereitet …«
Er öffnete den Reißverschluss seines Riesenrucksacks, aus dem ein zusammengeknülltes Bündel Schmutzwäsche zum Vorschein kam, darunter karierte Boxershorts, bei deren Anblick Stevie sich hastig abwandte. (Wieso war es eigentlich so schwer, nicht total auffällig hinzustarren, wenn irgendwo unerwartet jemandes Unterwäsche auf der Bildfläche erschien? Ganz besonders diese. Warum denn nur, Hirn, warum?) Darauf folgte ein Stapel ziemlich lädierter Tablets sowie etwas, das wie ein Router oder eine Basisstation aussah.
»Alles zusammengeschnorrt oder höchstens ’nen Fuffi dafür hingelegt. Die Netzwerkverbindungen hab ich gekappt, also kommt man mit den Schrottteilen ums Verrecken nicht mehr online. Auf denen würde ich die Sticks jetzt öffnen und sie rein zufällig so hinstellen, dass ihr aufs Display gucken könntet, falls ihr denn wolltet. Wenn’s sein muss, scrolle ich sogar für euch. Das Einzige, was ihr selbst machen müsstet, ist lesen, und zwar möglichst schnell, aber das schafft ihr schon. Nachdem wir durch sind, wische ich die Fingerabdrücke ab und schmeiße die Dinger in den Lake Champlain. Oder ich zerlege sie in ihre Einzelteile. Auf jeden Fall wird es sein, als hätten sie nie existiert.«
»Dann gibt’s nur noch ein Problem«, schaltete sich Nate ein. »Wir müssen in ungefähr einer Stunde hier weg.«
»Dann bin ich ja gerade noch rechtzeitig aufgetaucht, um euch meinen radikalen Plan zu unterbreiten: Bleibt. Hier. Wenn sie euch holen kommen, seid nicht da. Schaltet eure Handys aus. Und dann wartet. Spätestens wenn der Sturm losgeht, werden sie die Busse ohne euch fahren lassen.«
Die Idee war so einfach, dass Stevie fast gelacht hätte. Bleibt hier. Punkt.
»Stellt euch das doch nur mal vor«, redete David weiter. »Wir lassen uns alle zusammen ganz gemütlich hier oben einschneien. Das wird der Hammer. Es gibt jede Menge zu futtern, Decken … und Ahornsirup. Wenn euch alles andere nicht kümmert, wollt ihr den Laden hier nicht wenigstens mit ’nem ordentlichen Knall verlassen? Was sollen die denn schon machen? Euch rausschmeißen, weil ihr nicht nach Hause gegangen seid, als die Schule dichtgemacht hat? Ihr wart halt gerade woanders, um euch zu verabschieden, und habt dabei die Zeit vergessen. Nicht eure Schuld. Die können euch gar nichts.«
»Die vielleicht nicht«, hielt Nate dagegen. »Aber meine Eltern würden mich umbringen.«
»Meine mich auch«, schloss sich Janelle an, aber irgendwie hatte ihre Stimme plötzlich einen anderen Unterton.
»Noch mal«, sagte David. »Wir haben hier und jetzt die Chance, einen richtig üblen Typen davon abzuhalten, Präsident zu werden. Überlegt mal, was ihr damit verhindern könntet – einen Rassisten an der Macht. Der verheerende Umweltschäden anrichten könnte. Der keine Skrupel hätte, einen Krieg anzufangen, um von irgendwelchen innenpolitischen Problemen abzulenken. Vi, du weißt, wozu er in der Lage ist.«
Vi senkte ganz leicht den Kopf.
»Stevie.« Zum ersten Mal sah er ihr direkt in die Augen. »Deine Eltern helfen bei diesem Wahlkampf mit. Du könntest alles wiedergutmachen, was sie angerichtet haben, und noch mehr. Ich würde mich ja liebend gern für diese Sache auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen, nur wird das nicht passieren, weil ich nun mal sein Sohn und ein reicher weißer Drecksack bin. Mir werden sie höchstens auf die Finger klopfen und mich ins nächste Internat am Arsch der Welt verfrachten und das ist es mir absolut wert. Weil es, ob ihr’s glaubt oder nicht, das Richtige ist. Leicht nicht. Aber richtig.«
»Woher willst du denn überhaupt wissen, dass er irgendwas Illegales am Laufen hat?«, wandte Janelle ein. »Und zwar schlimm genug, dass wir ihm damit das Handwerk legen könnten? Ist ja nicht so, als hätte noch nie jemand versucht, was gegen ihn zu unternehmen.«
»Weil er mein Dad ist«, antwortete David schlicht. »Ich weiß, was für ein Mensch er ist. Und wie gesagt: Er liebt einfache Lösungen.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Also, mich hat er überzeugt«, sagte Hunter schließlich.
»Können wir dem da eigentlich trauen?«, fragte David die anderen.
»Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen«, entgegnete Hunter. »Jedenfalls kann ich den Kerl nicht leiden und sowieso nirgends hin.«
»Ich bleibe auch«, sagte Vi.
»Vi …« Janelle trat neben sie.
»David hat recht. Wenn wir wirklich was gegen King finden, dann ist es das auf jeden Fall wert. Hier geht es um was richtig Großes, ums Gemeinwohl. Aber auch um mich. So bin ich nun mal. Ich will hierbleiben und helfen, weil es das Richtige ist. Und ich hätte dich dabei gern an meiner Seite.«
Draußen heulte der Wind und rüttelte an den Fenstern.
Janelle atmete langsam aus und sah Stevie an.
»Stevie?«, fragte sie beinahe flehend.
Stevies ganzer Körper fühlte sich taub an, so viel Druck schien auf ihr zu lasten. Sie schaute zu David, ließ den Blick über seine gewölbten Brauen, seinen teuren Mantel, seine dunklen Locken wandern. Larrys Worte hallten ihr durch den Kopf: Der ist zu allem Möglichen fähig, er war in Burlington, nimm dich in Acht.
»Ich … ja. Ich bleibe.«
Davids Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Nate?«, fragte er.
Nate winkte ab. »Ach, was soll’s, ich hab ja sonst nichts vor. Ist doch bestimmt bloß ein kleines bisschen illegal. Was sind schon ein paar Jahre im Gefängnis?«
Alle Blicke richteten sich auf Janelle. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, ließ die Schultern kreisen. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie mit sich zu kämpfen hatte.
»Oh Gott, was mache ich hier bloß?«, stieß sie hervor. »Na schön. Okay. Ich bin dabei. Irgendwer muss schließlich ein Auge auf euch haben.«
»Gut.« David rieb sich die Hände und grinste. »Dann mal ab in den Untergrund.«