George Marsh drückte die Tür zum Manelli in der Mott Street auf. Das Manelli war wie viele Restaurants in der Gegend: Spaghetti mit Muscheln, Kalbfleisch, anständiger Rotwein und das alles unterlegt mit einem stetigen Fluss italienischen Hochgeschwindigkeitsgeplapper. Selbst an einem verschneiten Abend um zehn brummte der Laden, wenn auch etwas gedämpfter als sonst. Zigarrenrauch hing in Wolken über den Tischen und immer wieder unterbrach Gelächter das Besteckgeklapper. George setzte sich auf einen Barhocker und bestellte Whiskey und einen Teller Salami mit Brot.
»Ich bin auf der Suche nach zwei Männern«, eröffnete er das Gespräch, während er den kleinen Laib durchbrach.
Der Barkeeper wischte ein paar Glasabdrücke von der Theke.
»Hier sind jede Menge Männer. Suchen Sie sich zwei aus.«
George legte einen Hundertdollarschein neben sein Gedeck. Der Barkeeper blinzelte, bevor er das Geld unauffällig in seiner Schürzentasche verschwinden ließ. Er blieb bei George stehen und polierte weiter in sorgfältigen Kreisen die verzinkte Thekenoberfläche. Selbst an einem Ort wie diesem – wo die verschiedensten Gaunereien organisiert und Bilanzen frisiert wurden, wo kleine Vermögen in Papiertüten und Zigarrenkisten hin und her gereicht wurden – sorgten hundert Dollar noch für ein aufmerksames Ohr.
»Haben diese Männer auch Namen?«
»Andy Delvicco und Jerry Castelli.«
Der Barkeeper nickte so beiläufig, als unterhielten George und er sich über das Wetter.
»Kann schon sein, dass ich die kenne«, sagte er. Er warf den Putzlappen in eine Spüle hinter der Bar, ließ Wasser darüberlaufen und wrang ihn aus. »Könnte aber ein, zwei Tage dauern, bis ich was hab.«
»Hier ist meine Nummer.« George zog einen Bleistiftstummel hervor und schrieb ein paar Zahlen auf eine Serviette. »Falls Ihnen noch was einfällt. Sollte was Nützliches dabei sein – wo das gerade herkam, gibt’s noch viel mehr davon.«
Er kippte den Whiskey hinunter, aß den letzten Happen Salami und rutschte von seinem Barhocker. Zurück auf der Straße klappte er den Kragen gegen den Schnee hoch, der im Licht der Neonschilder rosa und blau leuchtete, und setzte sich in Bewegung, ganz gemächlich, damit eventuelle Verfolger sich nicht überanstrengen mussten.
Auf diese Weise hatte George Marsh schon die letzten zehn Abende verbracht. Er ging in ein bekanntes Stammlokal der Mafia, hielt ein kurzes Pläuschchen mit dem Barkeeper und steckte ihm einen Hunderter zu. Meistens versprach der Mann daraufhin, sich umzuhören, und George hinterließ ihm seine Nummer. Bislang hatte niemand angerufen. Ein, zwei Mal war ihm danach eine Weile jemand gefolgt, aber das schien reine Formsache zu sein. Mafiosi behielten eben gern den Überblick darüber, wer sich in ihrem Revier herumtrieb, und jeder hier wusste, wer George Marsh war. Aber so ohne Weiteres würde niemand Albert Ellinghams Bluthund ein Haar krümmen. Das war den Ärger nicht wert. Sie wollten ihn bloß im Auge behalten und das war George nur recht. Alle sollten es wissen: Andy Delvicco und Jerry Castelli wurden gesucht und demjenigen, der sie ihm auslieferte, winkte ein ordentliches Sümmchen. Ellingham-Geld. Viel und leicht verdient.
Leicht verdientes Geld. Die Wurzel so vieler Probleme auf der Welt. Nicht zuletzt seiner eigenen …
George hatte schon immer eine Schwäche fürs Kartenspielen gehabt. Nichts Ernstes – hier und da mal eine Partie auf der Polizeiwache oder samstagabends bei einem Kollegen zu Hause. Auch Würfelspielen oder gelegentlichen Ausflügen zur Rennbahn war er nicht abgeneigt. Als er jedoch anfing, in Albert Ellinghams Kreisen zu verkehren, nahm die Sache ein wenig mehr Fahrt auf. Mit einem Mal verbrachte er Abende im Central Park Casino, ganze Wochenenden in Atlantic City, reiste nach Miami, Las Vegas und Los Angeles … Orte, an denen in größerem Stil gespielt wurde, mit mehr Glamour, mehr Professionalität, mehr Geld.
Ehe er sich’s versah, war er bis zum Hals verschuldet. Als guter Freund Albert Ellinghams konnte er sich überall etwas leihen und war sich lange Zeit sicher gewesen, dass er ohnehin alles zurückgewinnen würde. Was waren schon fünftausend Dollar im Rückstand? Oder zehn oder zwanzig …
Natürlich hätte er Albert bitten können, ihm auszuhelfen. Darüber nachgedacht hatte er tatsächlich. Aber das verbat ihm sein Stolz. Und was, wenn Albert Nein gesagt hätte? Dann hätte er keine Arbeit mehr gehabt, kein Geld, keine Kreditwürdigkeit, keine Freunde – das ganze Leben, das er sich aufgebaut hatte, läge in Trümmern. Er musste irgendwie dieses Geld auftreiben. Zwanzigtausend Dollar.
Das war in etwa die Summe, die Albert Ellingham in seinem Safe aufbewahrte, um die Arbeiter an der Schule zu bezahlen.
Der Plan war so einfach gewesen.
Andy und Jerry, diese beiden Schwachköpfe, kannte er noch aus seiner Zeit bei der Polizei – zwei Möchtegerngangster, die es nie sonderlich weit gebracht hatten, aber perfekt geeignet waren für einen unkomplizierten Job wie diesen. An jenem Tag hatten sie an der Straße darauf warten sollen, dass Iris Ellingham in ihrem Mercedes vorbeifuhr. Sie hatten sie packen und ein paar Stunden in einer Scheune festhalten sollen, während George die restliche Arbeit erledigte. Danach hätten sie ihren Lohn einstreichen, nach Hause gehen und sich ein saftiges Steak gönnen sollen. Leicht verdientes Geld. Niemand wäre verletzt worden, Iris hätte im Nachhinein wahrscheinlich sogar darüber gelacht und fortan mit der Geschichte auf Dinnerpartys glänzen können. Iris hatte Abenteuer geliebt und das hier wäre genau nach ihrem Geschmack gewesen.
Das erste Problem war Alice gewesen. Normalerweise nahm ihre Mutter sie nicht mit auf ihre Ausfahrten. Vermutlich hatte sie ihre Tochter beschützen wollen und sich deshalb gewehrt. Und irgendwie hatte die Sache damit geendet, dass Iris tot im Lake Champlain trieb.
Und dann war da noch dieses Mädchen gewesen, die kleine Dottie Epstein. Die hätte an dem Tag nicht im Observatorium sein dürfen. Niemand hätte das. Sie war ganz von allein durch die Luke gesprungen, aus Angst, und hatte sich dabei den Kopf aufgeschlagen. Ein grauenhafter Anblick. George war gar keine andere Wahl geblieben, als sie von ihrem Leid zu erlösen.
Zudem hatten Andy und Jerry offenbar doch ein kleines bisschen mehr Grips, als er ihnen zugetraut hatte. Als er an jenem Abend auftauchte, um Iris und Alice zurückzuholen, hatten die beiden Männer ihn angegriffen. Sie hatten die Geiseln in ein anderes Versteck gebracht und forderten mehr Geld. Das Ganze war vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Zwei Tote und von Alice noch immer keine Spur.
Alice. Seine Tochter. Nicht Albert Ellinghams. Seine.
Seit fast einem Jahr waren Andy und Jerry nun schon untergetaucht. Niemand schien ihnen begegnet zu sein. Dann hatte vor einer Woche plötzlich einer von Georges Kontakten angerufen, der meinte, Jerry in der Nähe der Five Points in Manhattan gesehen zu haben. George war sofort nach New York gereist und hatte dort die Straßen durchkämmt. Wenn man nur genügend Scheine in Little Italy verteilte, dann wusste ziemlich sicher irgendwann irgendwer irgendwas.
Er nahm ein Taxi Richtung Norden in die 24th Street zu einer der vielen Wohnungen, die Albert Ellingham in Manhattan besaß. Der Mann kaufte Immobilien wie andere Leute Obst. Es hieß, dieses Apartment wäre einst einer der Schlupfwinkel des Architekten Stanford White gewesen, bevor er während der Premiere der Musikrevue Mam’zelle Champagne auf dem Dach des Madison Square Garden erschossen worden war. Das war 1906 gewesen, vor über dreißig Jahren. White war ein Widerling gewesen, der es nicht besser verdient hatte. Und sein Mörder genauso. Diese Stadt wimmelte nur so von abstoßenden Gestalten.
Die Wohnung war nicht groß, aber hervorragend ausgestattet. Es gab ein elegantes Schlafzimmer, einen Safe, eine moderne Küche, die nie benutzt wurde, und ein erstklassiges Radiogerät, das George gleich beim Reinkommen einschaltete. Die Klänge einer Sinfonie erfüllten den Raum. Nicht, dass es ihn wirklich interessiert hätte, was lief – er konnte bloß die Stille nicht ertragen. Noch mit Mantel und Hut setzte er sich ins dunkle Wohnzimmer, sah dem Schnee beim Fallen zu und ging in Gedanken alles zum tausendsten Mal durch.
Dass Alice bislang nicht aufgetaucht war, musste einen Grund haben. Natürlich hätte sie zusammen mit ihrer Mutter gestorben sein können, aber das schien ihm nicht ins Bild zu passen. Ein Kind konnte man leicht versteckt halten, ganz besonders so ein kleines, braves wie Alice. Ein liebenswerteres Mädchen konnte man sich gar nicht vorstellen. George hatte häufig mit ihr gespielt. Sie führte jedem gern ihre Puppen und Spielsachen vor und verteilte großzügig Umarmungen und Küsse. Manchmal hatte sie seine Hand genommen und war mit ihm auf dem Grundstück spazieren gegangen. Um sie verschwinden zu lassen, brauchte man noch nicht einmal besonders gründlich vorzugehen. Man musste ihr lediglich andere Kleider anziehen und das Haar schneiden und schon würde sie aussehen wie jedes x-beliebige Kind.
Die kleine Alice. Jetzt im Nachhinein hatte jede Erinnerung an sie eine völlig neue Bedeutung angenommen. Seine Tochter. Und er hatte sie in Gefahr gebracht. Da war es doch nur logisch, wenn nun er, ihr Vater, sie rettete.
Irgendwann, während er weiter nach draußen ins Schneetreiben starrte, nickte George ein. Als er wieder aufwachte, war es hell. Im Radio lief eine Sendung über Präsident Lincoln. Wie es aussah, hatte es die ganze Nacht über weitergeschneit; auf dem Badezimmerfenstersims lagen sicher zehn Zentimeter.
George sah nicht viel Sinn darin, zu duschen und sich umzuziehen. Er hatte ohnehin noch seinen Mantel an und beschloss, einfach so, wie er war, zum Frühstück ins Diner unten an der Ecke zu gehen.
Als er jedoch an die Wohnungstür trat, fiel ihm auf, dass jemand etwas darunter durchgeschoben hatte. Es war eine Postkarte mit einer Zeichnung von Rock Point in Burlington, der Stelle, von der er gemeinsam mit Albert Ellingham einen riesigen Geldbetrag in unsichtbar markierten Banknoten zu einem Boot hinuntergelassen hatte. Einem Boot, das anschließend spurlos damit verschwunden war. Er drehte die Karte um und las, was in Großbuchstaben daraufgekritzelt war:
WENN DU SIE WIEDERSEHEN WILLST,
HALT DEN MUND.
George lächelte grimmig. Die Fische hatten angebissen.