»Wacht auf, wacht auf!«
Stevie öffnete die Augen, aber es blieb genauso dunkel wie zuvor. Eine Hand rüttelte an ihrer Schulter. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass Hand und Stimme David gehörten. Stevie war im Sitzen eingeschlafen, gegen die Wand gelehnt, Und dann gabs keines mehr noch aufgeschlagen in der Hand. Sie schüttelte den Kopf und bemühte sich, einen wachen, zurechnungsfähigen Eindruck zu machen, obwohl sie vermutlich vor Kurzem noch gesabbert und geschnarcht hatte. Ihr ganzer Körper fühlte sich steif und irgendwie zerknirscht an, die unvermeidbare Folge, wenn man seit Tagen in denselben Klamotten herumlief, weil man Wichtigeres im Kopf hatte, und dann einen Wintertag inmitten von Chemikalien in einer Schwimmbadabstellkammer verbringen musste.
»Dann mal los«, verkündete David. »Ab nach Hause.«
»Nach Hause?«
»Jetzt brauchen wir uns ja nicht mehr zu verstecken«, erklärte er. »Dann suchen sie nur nach uns und es gibt Ärger.«
Stevie trat in die Schwimmhalle. Das Glasdach war komplett zugeschneit und Nate blickte besorgt hoch.
»Das sollte für solches Wetter gebaut sein, ich weiß«, sagte er. »Trotzdem ’ne ganze Menge Schnee da oben. Nicht, dass ich mich anstellen will, aber ich kann mir Schöneres ausmalen, als von herunterregnenden Glasscherben zerstückelt zu werden.«
Die Tür ging nicht mehr auf; sie war bereits jetzt von mindestens dreißig Zentimetern Schnee blockiert. Also kletterten sie durch dasselbe Fenster, durch das sie reingekommen waren. Es schneite noch immer, so heftig, dass Stevie die anderen Gebäude bloß als Silhouetten in einer Welt aus Weiß und abendlichem Rosa erahnen konnte. Der Anblick, wie die Villa vor dem Himmel aufragte, eingehüllt in eine weiße Decke, hatte etwas Magisches an sich. Ein paar Lampen kämpften gegen die unerbittliche Witterung an. Der Rest der Ellingham lag im Dunkeln. Nichts regte sich in der Bibliothek, den Klassenräumen, den Wohnhäusern. Neptun versank stetig tiefer in seinem Brunnen, begraben von Wasser in einer Form, die sich seiner Macht entzog. Der Schnee wirkte wie ein Schalldämpfer und das war vielleicht das Seltsamste. Obwohl es hier oben immer recht ruhig war, wurde Stevie jetzt bewusst, dass normalerweise alles von einem stetigen Strom von Geräuschen untermalt war – Bäume, die im Wind rauschten, knarzendes Holz, Tierlaute. Heute jedoch war nichts zu hören als das opernhafte Heulen des Windes. Auch ihre Stimmen wurden durch die dicke Polsterung ringsum gedämpft, die jedes Wort einzeln hervorzuheben schien.
Nicht, dass sie viel geredet hätten. Allein das Laufen war ein Kraftakt. Für jeden Schritt musste Stevie ihr Bein aus dem knietiefen Schnee ziehen und dann wieder hineinstoßen. Aerobic der anstrengendsten Sorte. Schon nach ein paar Metern geriet sie ins Schwitzen und der Schweiß legte sich wie eine Aura um ihren Körper. Ihre Füße fingen an zu brennen und wurden taub. Als sie schließlich die Abzweigung Richtung Minerva erreichten, hätte Stevie es mit allem und jedem aufgenommen, nur um nach drinnen zu gelangen.
Endlich stolperten sie in das herrlich warme Haus. Im Kamin brannte ein fröhliches Feuerchen, dem Hunter gerade mit dem Schürhaken zu Leibe rückte, damit es nicht zu übermütig wurde. Er trug die Fleecejacke und die Pantoffeln, die Stevie für ihn ausgesucht hatte. Neben ihm auf dem durchgesessenen Sofa hockte Pix, eingewickelt in ihren übergroßen braunen Flauschbademantel. Sie sah aus wie ein Teddybär, doch ihre Miene war die einer wesentlich beängstigenderen Kreatur, als sie sich erhob.
»Ich will nicht, dass mir einer erfriert, darum geht ihr euch jetzt erst mal umziehen«, kommandierte sie. »Aber dann kommt ihr sofort wieder her, damit ich euch anschreien kann. Ich bin nämlich stinksauer, das könnt ihr mir glauben.«
Stevie stolperte in ihr Zimmer, in dem es dunkler war als normalerweise zu dieser Tageszeit, weil sich draußen auf der Fensterbank der Schnee türmte. Mit einer brennenden, halb erfrorenen Hand schlug sie auf den Lichtschalter und fing an, sich aus ihren klitschnassen Kleidern zu schälen. Je mehr ihr Körper wieder auftaute, desto schlimmer wurden die Schmerzen. Kurz entschlossen schnappte sie sich ihren Bademantel und taumelte durch den Flur zur Dusche. Doch selbst das heißeste Wasser fühlte sich kalt auf ihrer Haut an. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und wartete ab, bis endlich so etwas wie Wärme in ihre Glieder zurückkehrte. Als Letztes kamen ihre Füße wieder auf Betriebstemperatur. Benommen tappte sie zurück in ihr Zimmer und raffte alles an Klamotten zusammen, was am nächsten, am weichsten, am wärmsten war. Und dann zog sie noch ein paar Schichten mehr darüber – Wollsocken, ein zweites Sweatshirt, eine Decke um die Schultern.
Als sie schließlich so dick eingemummelt war, dass sie nur noch schlurfen konnte, machte sie sich auf den Weg zurück in den Gemeinschaftsraum. Die anderen waren schon da. Janelle steckte in ihrem Katzenpyjama und hatte Vi einen mit Regenbögen geliehen. Auch David hatte offenbar was zum Wechseln in seinem Monsterrucksack dabeigehabt – unter anderem die ausgeleierte Yale-Jogginghose, die er von seinem Dad geerbt hatte. Die hatte er an dem Abend getragen, als Stevie und er sich zum ersten Mal geküsst hatten.
»Okay«, sagte Pix, als alle saßen. »Eins mal direkt vorweg: Ihr habt alle Hausarrest. Niemand verlässt dieses Haus, bis es zu schneien aufgehört hat. Die Schule hat vielleicht geschlossen, aber das heißt nicht, dass ich hier nichts mehr zu sagen habe. Wollt ihr eine Empfehlung für eure Schulen zu Hause? Oder eine Chance zurückzukommen, falls die Ellingham irgendwann wieder aufmacht? Wollt ihr auf einem College angenommen werden? Wenn ja, dann kann ich euch nur raten hierzubleiben, bis ich euch etwas anderes erlaube. Das gilt natürlich nicht für dich, Hunter. Du kannst machen, was du willst.«
»Wo soll ich denn schon hin, bei dem Schnee?«, wandte er ein.
»Hast recht. Aber ich wollte trotzdem betonen, dass das Verbot dich nicht betrifft.«
»Kein Ding.« David lehnte sich zurück und hielt die Füße vors Feuer. »Ich hab eh nichts anderes vor.«
»Davon, wo du dich herumgetrieben hast, fangen wir besser gar nicht erst an«, schimpfte Pix. »Aber nur, weil es wahrscheinlich sowieso keine Rolle mehr spielt.«
»Ich war auf einer Quest«, entgegnete er.
Nate warf ihm einen Blick zu, der zu besagen schien: Wag es nicht, irgendwelche blöden Witze über Quests zu machen, du Arsch.
»Und überhaupt«, fuhr Pix fort, »hat irgendwer von euch schon zu Hause angerufen?«
»Hab keinen Empfang«, erwiderte Vi.
»Ich auch nicht«, schloss sich Nate an.
Stevie zog ihr Handy aus der Tasche. Nichts.
»Ich hab oben Festnetz«, sagte Pix. »Also, alle der Reihe nach. Wer will als Erstes?«
Niemand riss sich darum, also fiel das Los irgendwann auf Stevie. In ihrer gesamten Zeit an der Ellingham war sie noch nie in Pix’ Privatwohnung gewesen, die ganz am Ende des oberen Flurs mit den Jungenzimmern lag. Die Wände waren ockerfarben gestrichen und überall standen wunderschöne Objekte aus Nahost und Afrika – Messingteekannen mit langer Tülle, niedrige, sechseckige Tischchen mit azurblau-weißen Kacheln, filigran geschnitzte Holztiere, Laternen aus Zinn und Messing mit Buntglaseinsätzen. Hieroglyphen-Nachdrucke auf Pergament hingen Seite an Seite mit Postern, die von Pix’ anderer Leidenschaft zeugten: Neunzigerjahre-Musik. Sie hatte gut und gerne ein Dutzend Original-Konzertplakate von Bands wie Nirvana (die einzige, die Stevie erkannte).
Und natürlich der Angelkasten mit Pix’ geliebter Zahnsammlung. Der Kaminsims war mit Knochen dekoriert, die vermutlich unecht waren, ein Oberschenkelbein, ein Schädel, ein auf einen kleinen Sockel montiertes Kniegelenk. Der Rest der Wohnung war voller Bücher – Bücher in den Regalen und zu Stapeln entlang der Wände aufgetürmt. Bücher neben dem kleinen Sofa, Bücher im Flur, Bücher auf dem Esstisch.
Als Pix ihr das Telefon reichte, stützte Stevie sich auf das in der Ecke stehende Laufband und wählte. Ihre Mom meldete sich.
»Hey«, sagte Stevie. »Tut mir leid, ich hab den Bus verpasst, irgendwie ging alles so schnell und …«
»Oh, Stevie, da bist du ja! Geht es dir gut? Hast du es auch warm genug?«
Zu Stevies grenzenlosem Erstaunen klang ihre Mom kein bisschen wütend. Also konnte die Schule ihre Eltern noch nicht darüber informiert haben, dass sie abgehauen war und sich bis zum Abend in einem Schwimmbad versteckt hatte. Vermutlich hatte Nennt-mich-ruhig-Charles sich irgendeine zahme Story ausgedacht – der musste schließlich inzwischen ziemlich geübt darin sein, alles Scharfkantige ein bisschen glatt zu schmirgeln und die Ellingham nicht wie eine Todesfalle aussehen zu lassen. Er hatte gute Arbeit geleistet, das musste man ihm lassen. Anscheinend hatten seine übertrieben positive Einstellung und die Plattitüden einen beruhigenden Effekt.
»Bleib einfach, wo du bist«, sagte ihre Mom. »Kuschel dich warm ein und pass auf dich auf. Und sobald der Schnee nachlässt, kommst du nach Hause.«
»Okay«, erwiderte Stevie leicht überrumpelt. Wenn ihre Eltern ausnahmsweise mal verständnisvoll waren, fühlte sie sich immer gleich wie eine miese kleine Kröte, die ihnen die ganze Zeit unrecht tat.
»Wir haben dich lieb«, fügte ihre Mom hinzu.
Was war denn jetzt los? Ihre Eltern und sie redeten nie über Gefühle. Klar hatten sie einander lieb, aber das sagte man doch nicht laut.
»Ich, äh … okay. Also, uns geht’s gut hier. Wir haben jede Menge Essen … Popcorn und so. Und Decken und Feuerholz.«
Was erzählte sie da eigentlich? Vermutlich versuchte sie, ein Bild von einem gemütlichen Wochenende in einer Skihütte heraufzubeschwören. Was gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt wäre. Sie hatten schließlich Essen, Popcorn, Decken und Feuerholz. Und es würde gemütlich werden.
Nachdem sie sich verabschiedet hatte, gab sie Pix das Telefon zurück.
»Du wirkst so irritiert«, merkte Pix an.
»Ich dachte, die reißen mir den Kopf ab«, erwiderte Stevie.
»Tja, Überraschung. Anscheinend wollten deine Eltern bloß, dass es dir gut geht.«
Pix stellte das Telefon zurück auf die Ladebasis und lehnte sich an die Wand.
»Ihr seid mir wirklich ein Haufen Volltrottel«, seufzte sie kopfschüttelnd. »Warum musste ich eigentlich von allen Häusern das mit den schwachsinnigsten Bewohnern abbekommen? Tja, wäre trotzdem gelogen zu behaupten, ich wäre nicht froh, dass ihr alle noch hier seid. Na komm. Sobald wir mit den Anrufen durch sind, gibt’s was zu essen. Ich hab den Speisesaal geplündert.«
Als alle telefoniert hatten und immer mehr Essen seinen Weg auf den Tisch fand, hellte sich die Stimmung merklich auf. Pix hatte nicht zu viel versprochen – es gab riesige Portionen Käsemakkaroni, Salat und Obst, Lasagne, Hühnchen, Ofenkartoffeln, gegrillten Tofu … vor der Evakuierung war bereits alles fürs Mittagessen vorbereitet gewesen. Dazu hatte sie Milch, Saft und jede Menge andere Getränke besorgt. Das Fassungsvermögen des Kühlschranks war längst erschöpft, darum hatte Pix einen Teil der Lebensmittel draußen unter dem Küchenfenster gelagert und die Natur hatte alles schön frisch gehalten. Außerdem gab es natürlich die Sachen, die sie sowieso im Haus hatten, wie Cornflakes, Pulver für heiße Schokolade und besagtes Popcorn. Tatsächlich fehlte es an nichts für ein gemütliches Wochenende, mit dem sie gemeinsam den Abschied von der Ellingham feiern konnten. Alle griffen herzhaft zu.
»Wer ist eigentlich sonst noch hier?«, erkundigte sich Janelle. »Doch nicht nur Sie, oder?«
»Abgesehen von euch Verrückten?«, entgegnete Pix. »Mark, der Grundstücksverwalter, Dr. Scott und Dr. Quinn. Ach, Vi, dir mache ich gleich oben noch ein Bett fertig.« Damit konnte sie nur das in Hayes’ ehemaligem Zimmer meinen, aber niemand sprach es aus. »Euch zwei« – sie deutete auf Janelle und Vi – »lasse ich nämlich auf keinen Fall in einem Zimmer schlafen, falls ihr das gehofft hattet.«
Vi und Janelle wechselten einen Blick, der selbst Pix nicht entging.
»Schön, wieder hier zu sein«, sagte David. »Ich geh dann mal nach oben, ein bisschen lesen und die Aussicht auf den Schnee genießen. Bis morgen früh.«
»Ich auch«, schloss Vi sich ihm an. »Bin ziemlich erschlagen.«
»Komisches Gefühl, mal nicht der Erste zu sein, der sich zum Lesen ins Bett verkrümelt«, murmelte Nate, nachdem die beiden gegangen waren. »Hat vielleicht jemand Lust auf ein Brettspiel oder so?«
»Ich bin gerade nicht so in Spiellaune«, lehnte Janelle ab. »Nacht zusammen.«
Pix ließ den Blick fragend über das stark geschrumpfte Grüppchen am Tisch wandern.
»Okay …«, antwortete Nate. »Tja, für das Spiel, das ich im Kopf hatte, braucht man eigentlich ein paar Leute mehr, darum verabschiede ich mich wohl auch für heute. Vielleicht arbeite ich noch ’ne Weile an meinem Buch.«
Die Stimmung war im Keller. Jetzt waren nur noch Stevie, Hunter und Pix übrig. Stevie wusste, dass sie sich um Hunter kümmern, mal ein bisschen mit ihm reden sollte. Aber sie konnte einfach nicht anders, als auf die Schritte über ihr zu lauschen – David war zurück in Minerva. Und nach diesem Schneesturm würden sie in alle Himmelsrichtungen verstreut werden. Da würde sie sich sowieso auf kein Gespräch konzentrieren können. Am besten machte sie es wie die anderen und ging schlafen.
Nachdem sie sich unbeholfen losgeeist hatte, schlurfte sie in ihr Zimmer, legte sich bei eingeschaltetem Licht ins Bett und starrte an die Wand. Es war zwar höchst unwahrscheinlich, dass eine neue Botschaft daran erscheinen würde, aber sie hatte das beklemmende Gefühl, dass jemand sie beobachtete, irgendjemand von außerhalb des Hauses. Was natürlich gar nicht möglich war. Es schneite noch immer wie verrückt und das Schulgelände war so gut wie verlassen. Trotzdem stand sie auf und trat ans Fenster. Erst nach ein paar Versuchen bekam sie es auf; es war halb zugefroren. Als sie es geschafft hatte, wehte der eisige Wind ihr eine Ladung Schnee ins Gesicht. Sie griff nach ihrer Stabtaschenlampe und leuchtete nach draußen.
Sie waren allein hier oben. Ganz und gar und auf fast schon unnatürliche Weise allein. Die Lage war überaus ernst.
Stevie kämpfte gegen eine Sturmbö an, um das Fenster wieder zu schließen, und klopfte sich bibbernd den Schnee ab. Danach krabbelte sie zurück ins Bett.
Und so sah sie nicht die Gestalt, die draußen hinter einem Baum hervortrat.