Fünf Abende in Folge hatte George Marsh nun vor dem Manelli Wache gehalten.
Irgendwie hatten Andy und Jerry Wind davon bekommen, dass George in der Stadt und auf der Suche nach ihnen war. Was sie offenbar so aufgescheucht hatte, dass sie ihm eine Warnung gesendet hatten. Und wenn man so etwas tat, dann für gewöhnlich, weil man sich in die Ecke gedrängt fühlte und nicht fliehen konnte. Die Postkarte war der Beweis dafür, dass mindestens einer der beiden in New York war und dass er Angst hatte. Gut. George würde warten, so lange es auch dauerte.
Einfach so auf offener Straße zu stehen war jedoch zu riskant. Schräg gegenüber dem Restaurant gab es ein Lebensmittelgeschäft, in dem er für zweihundert Dollar pro Abend sitzen und aus dem Fenster schauen durfte. Ein weiterer Obolus ging an ein paar Burschen, die den Abend im Manelli an der Bar verbrachten und die Ohren offen hielten, um alles, was von Interesse sein könnte, an ihn weiterzutragen. Geld hatte keinerlei Bedeutung mehr für George und er verteilte es mit vollen Händen – ein kleines Vermögen nach dem anderen in dieser von der Wirtschaftskrise gebeutelten Stadt. Falls nötig, würde er jedem Passanten auf der Carmine Street einen Schein in die Hand drücken.
An einem frostigen Abend um kurz nach neun, als der Lebensmittelhändler gerade seinen Laden fegte und George im Begriff war, eine neue Schachtel Zigaretten zu öffnen, hastete eine Gestalt mit gesenktem Kopf auf das Manelli zu. Wer immer es war, hatte sich den Schal bis über die Nase gezogen, ein stümperhafter Versuch, unerkannt zu bleiben. Am Eingang angekommen, warf die Person einen letzten gehetzten Blick nach rechts und links und betrat das Restaurant.
»Sal«, bat George, ohne das Fenster aus den Augen zu lassen, »ruf doch mal für mich beim Manelli an, ja?«
Der Ladeninhaber stellte den Besen ab, wählte die Nummer und reichte George den Hörer. Nach ein paarmal Klingeln meldete sich der Barkeeper.
»Gerade hat ein Mann das Restaurant betreten«, sagte George anstatt einer Begrüßung. »Wenn das Andy oder Jerry ist, antworten Sie jetzt: ›Da müssen Sie schon zu uns in die Stadt kommen. Wir liefern nicht aus.‹ Und wenn nicht: ›Falsch verbunden.‹«
Nach einer kurzen Pause erwiderte der Barkeeper: »Nein, wir liefern nicht. Kommen Sie her, wenn Sie was haben wollen.«
George gab den Hörer wieder ab.
Etwa eine halbe Stunde später ging die Restauranttür abermals auf und dieselbe Gestalt kam herausgeeilt, den Hut tief in die Stirn geschoben, das Gesicht halb unter dem Schal verborgen. George drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher auf der Ladentheke aus. Als der Mann die Straßenecke erreicht hatte, nahm George die Verfolgung auf. Der Schnee kam ihm dabei äußerst gelegen – er war ganz frisch gefallen, sodass sich leicht erkennen ließ, in welche Richtung die Spur führte: nach links. Er erhaschte einen Blick auf den Mann, der sich zwischen ein paar Autos hindurchschlängelte und auf eine schmale Gasse zuhielt. George legte einen Schritt zu, achtete jedoch darauf, weiter außer Sichtweite zu bleiben. Er war schließlich nicht ohne guten Grund befördert worden und beim FBI gelandet. Diese Straßen hier gehörten ihm und er hatte sie fest im Griff.
Der Mann blieb an einem Auto stehen und wollte gerade die Tür öffnen, als George auf ihn zutrat.
»Hallo, Jerry.«
»Mein Gott, George«, keuchte Jerry, dem die Furcht schon jetzt den Atem raubte. »Hast du mich vielleicht erschreckt.«
George versetzte ihm einen Fausthieb ins Gesicht, der ihn zwischen die Mülltonnen am Straßenrand segeln ließ. Als Jerry am Boden lag, drehte er ihn auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. George tastete ihn ab, zog eine Pistole aus seinem Hosenbund und ein Springmesser aus seinem Strumpf. Dann riss er ihn auf die Füße.
»George …«, stammelte Jerry. »Ich –«
George schlüpfte aus seinem Mantel und hängte ihn Jerry über die Schultern, um die Handschellen zumindest etwas zu verdecken.
»Gehen wir«, knurrte er. »Renn oder schrei und ich schieße. Ein schiefer Blick und ich schieße.«
»Verdammt, George …«
»Und halt gefälligst den Mund.«
Am Morgen seiner Ankunft in New York City hatte George einem verlässlichen Dieb unten in Five Points ein Auto abgekauft. Zu seinen Zeiten bei der Polizei hatte er den Mann etliche Male festgenommen, aber der schien es ihm nicht übel genommen zu haben und freute sich über zahlende Kundschaft. Auf diesen Wagen, ein solides Modell, schob er Jerry jetzt zu. Nachdem er ihn auf die Beifahrerseite verfrachtet hatte, schlang er ein Seil um seine Knöchel und band ihn am Sitz fest. Dann ging er zufrieden ums Auto herum und nahm hinter dem Steuer Platz.
»Das Mädchen«, sagte er. »Alice.«
»George, ich …«
»Das Mädchen. Lebt sie noch?«
»Mensch, George, ich bringe doch keine kleinen Kinder um. Selbst das mit der Frau war ja nicht so geplant. Und ich wollte dich auch nicht niederschlagen. Das war alles Andys Idee …«
»Wo ist sie?«
»Sie ist am Leben«, beteuerte Jerry eifrig. »Putzmunter. Wir haben sie gut untergebracht.«
»Bei wem?«
»’ner Familie. Oben in den Bergen, auf der anderen Seite vom See. Dem New Yorker Ufer. Die haben da ’ne Hütte. Sind anständige Leute. Wir haben ihnen erzählt, sie wäre die Kleine von Andys Schwester und wir wollten sie aus schlechten Verhältnissen rausholen. Richtig nette Leute, George. Die sollten nur auf sie aufpassen, bis wir uns was Besseres überlegt haben.«
»Wo?«
»Ganz da oben im Wald. ’ne kleine Hütte. Wo genau, weiß ich nicht mehr.«
George boxte Jerry von der Seite gegen den Kopf.
»Mein Gott, George …« Jerry brach trotz der Kälte der Schweiß aus.
»Du kidnappst ein kleines Mädchen und dann vergisst du einfach, wo du sie zurückgelassen hast? Wenn das stimmt, mache ich Folgendes: Dann binde ich dich an einen Anker und werfe dich in den East River.«
»George!«
»Du wirst dich schon noch erinnern, wo diese Hütte steht.« George blieb ganz gelassen. »Denk mal in Ruhe drüber nach.«
»Vielleicht wenn ich ’ne Karte hätte oder so was.«
Darauf war George vorbereitet. Er hatte eine großzügige Auswahl an Karten dabei, die das ganze Land abdeckten. Falls nötig, wäre er bis nach Kalifornien gefahren. Er griff nach dem Stapel.
»New York«, sagte er und faltete die entsprechende Karte auseinander. »Im Moment bin ich ziemlich fest entschlossen, dich zu töten, und das heißt, du kannst deine Lage nur noch verbessern. Na los, guck dir die Karte an und zeig mir, wohin die Reise geht.«