Stevie versuchte nachzuvollziehen, wie genau sie es eigentlich geschafft hatte, ihr Leben dermaßen gründlich vor die Wand zu fahren.
Es war ihr gelungen, einen sicheren Triumph in eine Niederlage zu verwandeln. Und mit welcher Leichtigkeit! Sie war mit Anlauf in den Abgrund gesprungen. Da hatte sie ihren Fall aufgeklärt und das Unmögliche möglich gemacht und jetzt stand sie fröstelnd und zurückgewiesen hier im dunklen Flur und konnte nur zusehen, wie ihr gesamtes Leben in sich zusammenbrach. Ihr Körper war taub vor Traurigkeit.
Alles Übel der Welt schwirrte ihr durch den Kopf. Indem sie hiergeblieben war, hatte sie definitiv ihre letzte Chance verspielt, jemals an die Ellingham zurückzukehren. Ihre Eltern würden sie nie wieder herkommen lassen – wahrscheinlich würden sie Stevie einfach nirgendwo mehr hinlassen, fertig. Vielleicht war sogar das Geld fürs College gestrichen, wenn dafür überhaupt je welches vorgesehen gewesen war. Und ihre Noten nicht sowieso schon zu schlecht für ein Studium waren. Sie würde zurück nach Pittsburgh gehen müssen und für immer und ewig dort festsitzen.
Wofür das alles? Um mit einem Typen, der sie hasste, ein paar Nächte in einem Schneesturm zu verbringen.
Und der Ellingham-Fall? Was wenn sie sich da nur etwas vormachte? Gut, sie hatte die Teedose und damit einen handfesten Beweis dafür, dass der Brief des Wahrhaftigen Lügners nichts mit der Entführung zu tun hatte. Das war zumindest etwas. Aber der Rest war pure Spekulation. Und spielte das überhaupt noch eine Rolle? Klar war es toll, allen zeigen zu können, dass der berühmte Entführerbrief von zwei Schülern geschrieben worden war. Doch war es das wert, dafür ihr Leben wegzuwerfen?
Irgendwie musste sie weitermachen. Sie überlegte, ob sie bei Nate klopfen sollte, aber ihre Probleme wogen einfach zu schwer. Dieses Gefühl, dass der Boden unter ihr weggerissen worden war, konnte sie niemandem erklären.
Einen bleiernen Fuß vor den anderen setzend schlurfte sie zur Treppe und hoffte fast, sie würde im Dunkeln hinunterstürzen, sich die unbrauchbaren Beine brechen und ohnmächtig liegen bleiben. Aber so wirklich wünschte sie sich das wohl doch nicht, so krampfhaft, wie sie sich am Geländer festhielt.
Vielleicht würde ja jeden Moment David aus seinem Zimmer kommen und mit sanftem, zerknirschtem Gesicht zu ihr herunterblicken. Sein Haar würde ein bisschen zu Berge stehen, weil er es sich vor lauter Reue über die harten Worte, die er ihr an den Kopf geworfen hatte, gerauft hatte. Er würde etwas sagen wie: »Hey, komm doch bitte wieder rauf.« Und sie würde zögern, als müsste sie darüber erst nachdenken, und dann würde sie antworten …
Oder vielleicht würde sich ja der Boden endlich auftun und sie verschlingen.
Jetzt stand sie im unteren Flur, der irgendwie noch trostloser wirkte als der obere. Sie war viel zu sehr durch den Wind, um zu weinen, zu unglücklich, um zu schlafen, zu verloren, um sich zu bewegen. Aber im Gemeinschaftsraum brannte Licht. Irgendjemand war noch wach. Stevie wollte eigentlich niemanden sehen, doch allein sein wollte sie auch nicht. Sie wusste nicht, wohin.
Allerdings konnte man nun mal nicht ewig im Flur stehen bleiben. Dafür waren Flure nicht gedacht. Also tastete sie sich weiter vor und spähte um die Ecke, um zu sehen, wer im Gemeinschaftsraum saß. Es war Hunter, der es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte und sich über ein Tablet beugte. Es roch nach kaltem Rauch; das Feuer war ausgegangen.
Noch hatte Hunter sie nicht entdeckt und Stevie spielte mit dem Gedanken, sich lautlos wieder wegzuschleichen, aber sie konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie tun sollte. Jedenfalls musste sie versehentlich irgendein Geräusch von sich gegeben haben, denn Hunter hob den Kopf und zuckte zusammen.
»Mein Gott!«, stieß er hervor und ließ fast das Tablet fallen.
Kein Wunder, so wie ihr Kopf hier geisterhaft in der Tür schweben musste.
»Oje, ’tschuldige! Sorry, sorry, sorry, ich …«
»Schon gut«, sagte er, sobald er sich wieder gefasst hatte. »Ich muss mich nur erst noch hier eingewöhnen … Alles okay?«
Stevie hätte sich lieber in das brodelnde Innere eines Vulkans gestürzt, als irgendjemandem gegenüber zuzugeben, dass bei ihr nicht alles okay war. Also nickte sie nachdrücklich.
»Kann bloß nicht schlafen«, behauptete sie.
So zielstrebig, als hätte sie die ganze Zeit nichts anderes vorgehabt, marschierte sie durch den Raum und füllte in der Küche den Wasserkocher, um sich eine heiße Schokolade zu machen. Sie leerte zwei Päckchen Pulver in eine Tasse und spähte hinunter auf das Häufchen Schokostaub. Sollte dieser Staub etwa irgendwas ändern? Sollte er flicken, was auch immer in ihr zerrissen war?
Ganz schön viel verlangt von so einem bisschen Schokolade.
»Willst du was?«, fragte sie Hunter und steckte den Kopf aus der Küche. »Zu trinken, meine ich. Ich …«
Sie deutete ruckartig in Richtung des lauter werdenden Rauschens, das universelle Zeichen für: »Ich bringe Wasser zum Siedepunkt als Grundlage für Heißgetränke jeglicher Art.«
»Gern«, antwortete er. »Tee oder so was?«
Stevie hängte einen Teebeutel in eine zweite Tasse und nahm beide mit nach nebenan. Hunter hatte sich ausgerechnet die kälteste Stelle des Raums zum Sitzen ausgesucht, umweht von eisiger Zugluft, die sowohl durch den Schornstein hereinpfiff als auch unter der Haustür hindurch.
»Und, schon was gefunden?«, erkundigte sie sich, als sie seine Tasse auf dem geziegelten Kaminsims abstellte.
»Ich bin mir nicht so sicher, was ich hiermit anfangen soll«, erwiderte er. »Wir haben uns einfach jeder einen Stick genommen. Ich hab an die tausend E-Mails über Wahlkampfstrategien gelesen und Dutzende Tabellen mit irgendwelchen Finanztransaktionen. Bislang beweisen die Mails nur, dass jeder, der mit diesem Wahlkampf zu tun hat, ein Arschloch ist – gut, das ist wohl auch keine große Überraschung. Aber was die Tabellen genau bedeuten, weiß ich nicht. Irgendwer legt für irgendwas einen Haufen Kohle hin, doch ich hab keine Ahnung, wofür. Echt ’ne seltsame Art, seinen Abend zu verbringen, das sag ich dir.«
Er schob das Tablet zwischen die Sofakissen und griff nach seiner Tasse.
»Danke«, sagte er. »Oh Mann, ich hab nicht damit gerechnet, dass das Haus meiner Tante abbrennen würde. Und noch weniger hab ich damit gerechnet, dass ich in einem Schneesturm hier oben auf dem Berg sitzen und Insidermails aus dem Edward-King-Wahlkampf lesen würde.«
Was eine wirkungsvolle Erinnerung daran war, dass andere Leute größere Probleme hatten als Stevie.
»Darf ich dich was fragen?«, fuhr er fort. »David. Ist er …?«
Stevie wartete, denn Fragen über David konnten in sämtliche Richtungen gehen. Aber alles in ihr machte sich schon zur Verteidigung bereit wie eine wütende Schlange.
»Na ja … als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, hat er sich gerade verprügeln lassen. Er ist Edward Kings Sohn. Und dass er jetzt diesen ganzen Kram hat … also, so was zu klauen – das ist schon echt heftig. Aber gut. Glaube ich. Ich hab einfach keine Ahnung, was ich davon halten soll.«
»Ich auch nicht«, gestand Stevie.
»Und ihr zwei …« Hunter hielt wieder inne. »Da ist irgendwas zwischen euch. Das ist offensichtlich.«
»Nein«, entgegnete sie und starrte in den Schokoschlamm in ihrer Tasse, auf dessen Oberfläche graue schäumende Klumpen unaufgelösten Kakaopulvers schwammen.
»Oh«, sagte er. »Tut mir leid.«
Hunter war einfühlsam genug, um zu erkennen, dass dies die richtige Reaktion war. Stevie spürte, wie ihre Schultern sich ein wenig entspannten, starrte jedoch weiter in ihr trübes Gebräu. Eine Weile herrschte betretenes Schweigen. Stevie musterte Hunter. Nicht, dass er so überwältigend gut ausgesehen hätte – er war eher augenfreundlich. Und genauso freundlich war seine Art. Anders als David schien er einen nicht permanent abzuschätzen. Seine Sommersprossen erinnerten an einen Sternenhimmel. Er war kräftig gebaut, wirkte solide und verlässlich. Vertrauenswürdig.
»Ist es okay, wenn ich dich was über deine Tante frage?«, tastete Stevie sich vor.
Hunter nickte.
»Neulich, an dem Abend, als … da hab ich sie angerufen«, erzählte Stevie. »Sie schien ziemlich beschäftigt und meinte, es wäre gerade schlecht. Mir kam’s vor, als wäre sie nicht allein gewesen. Hast du irgendwas davon mitgekriegt?«
»Nein«, antwortete er. »Ich hatte Kopfhörer auf. Du weißt ja, wie laut sie oft Musik gehört hat, und unten hat es immer so gestunken, dass ich meistens oben geblieben bin. An dem Abend hab ich an einer Hausarbeit geschrieben und war total in die verschiedenen Arten von Plastik vertieft, die man so im Meer findet.«
»Also hast du erst was gemerkt, als …«
»Als es nach Rauch roch«, ergänzte er. Ein schwer zu deutender Ausdruck huschte über sein Gesicht und sein Blick schweifte ab, nach oben, und schien sich dann nach innen zu richten, was laut den Büchern, die Stevie über Profiling gelesen hatte, bedeutete, dass er sich an etwas erinnerte. »Der Gestank ist mir richtig heftig in die Nase gestiegen. Ich meine, ich kenne ja den Geruch von Rauch, und das war irgendwie krasser – viel beißender. Nicht wie von einem Holzfeuer oder so. Sondern eher, als würde irgendwas brennen, was nicht brennen dürfte. Wenn es so riecht, weiß man direkt, dass etwas nicht stimmt. Ich hab meine Kopfhörer abgesetzt und dann war da dieses Geräusch, so eine Art Klirren. Wie wenn ein Tablett mit Gläsern runterfällt, aber in Endlosschleife. Ich bin zur Treppe gerannt, doch da war schon alles voller Rauch. Ich konnte kaum noch was sehen beim Runtergehen, meine Augen haben gebrannt …«
Er schüttelte den Kopf, als könnte er das Erlebte immer noch nicht fassen.
»Die Küche, wo meine Tante war, muss sofort weggewesen sein. Schätze, das Gas war schon eine ganze Weile aufgedreht. Und als ich runterkam, hatte sich das Feuer schon bis ins Wohnzimmer ausgebreitet. Es lag ja auch so viel Brennbares herum – Bücher, Papier, Müll. Und dann noch die ganzen alten Möbel und Teppiche. Überall war Feuer, aber es ging definitiv von der Küche aus. Ich hab nach meiner Tante gerufen. Und ich glaube, ich hab noch versucht, zu ihrem Arbeitszimmer zu gelangen, für den Fall, dass sie dadrin war, und danach wollte ich in die Küche. Aber dann hab ich wohl das Bewusstsein verloren.«
Stevie wusste nicht, was sie sagen sollte. Für den Moment war jeder Gedanke an David aus ihrem Kopf verschwunden. Hunter gab sich noch ein paar Sekunden seinen Erinnerungen hin, dann stieß er die Luft aus und rieb sich übers Gesicht.
»Vielleicht hat mich das alles doch mehr mitgenommen, als ich zuerst dachte. Mir geht’s ja ganz gut, aber … das war schon eine Menge Feuer.«
Stevie suchte abermals Rat in ihrer Tasse.
»Und was hast du jetzt vor?«, fragte sie.
»Eine Therapie machen«, sagte er. »Immerhin bin ich gerade aus einem brennenden Haus gerettet worden, in dem meine Tante ums Leben gekommen ist. Ich hab so das Gefühl, dass mich das alles irgendwann noch mal einholen wird.«
»Das klingt ziemlich weise«, befand Stevie.
»Ist es auch. In mir steckt ein weiser alter Mann.«
Er schwieg und Stevie spürte, wie ein Angstbläschen in ihr an die Oberfläche stieg und zerplatzte.
»Ist deine Frage damit beantwortet?«, fragte er. »Oder wolltest du noch was anderes wissen?«
Seinem Tonfall nach zu schließen war er mehr als bereit, zu einem anderen Thema überzugehen.
»Sie hat am Telefon so was Komisches gesagt«, versuchte Stevie es trotzdem. »›Die Kleine ist …‹ Und dann war Schluss. Weißt du vielleicht, was sie damit gemeint haben könnte?«
»›Die Kleine ist …‹?«, wiederholte er und schüttelte den Kopf. »Nee, keine Ahnung. Du glaubst doch nicht etwa … Alice?«
»Ich weiß nicht.« Stevie zögerte. »Was hätte sie denn über Alice zu erzählen haben können?«
»Vielleicht hat sie ja gar nicht ›Kleine‹ gesagt? Sondern …« Er überlegte kurz, was so ähnlich hätte klingen können, und schüttelte dann wieder den Kopf. »Hör mal, meine Tante war an dem Abend betrunken. Extrem betrunken. So betrunken, dass sie das Haus abgefackelt hat.«
»Es war auf jeden Fall ›Kleine‹«, beharrte Stevie.
Hunter hob hilflos die Hände.
»Dann weiß ich wirklich nicht, was sie gemeint haben könnte. Aber in den Tagen davor war sie ganz besessen von diesem Testamentsnachtrag. Sie hat ununterbrochen davon geredet. Meinte, Mackenzie hätte ihr versichert, dass es das Dokument noch gäbe, und er hätte es bloß versteckt, damit sie nicht von falschen Alice überrannt würden. Und die Schule wüsste darüber Bescheid und würde fest auf das Geld zählen, weil es nämlich nach Ablauf der Frist an sie gehen würde.«
»Sie hat gesagt, die Schule wüsste Bescheid?« Stevie beugte sich aufgeregt vor.
»Ja. Pass auf, mir ist klar, wie meine Tante auf andere gewirkt hat. Ich weiß, sie konnte … Sie hatte so ihre Probleme. Mir ist auch total klar, was für Sachen ich über sie gesagt habe. Aber mit dem Thema Ellingham kannte sie sich echt aus. Und als sie das mit dem Testament erfahren hat, da war es, als hätte sich bei ihr ein Schalter umgelegt. Ab dem Punkt schien sie sich gar nicht mehr so sehr für den Fall an sich zu interessieren, sondern eher für die Vorstellung, dass es da draußen so eine Art Schatz gab. Einen richtig, richtig großen.«
»Ich hab mich danach erkundigt«, sagte Stevie. »Bei Nennt-mich-ruhig-Charles.«
»Nennt mich …?«
»So nennen wir Dr. Scott.«
Hunter nickte. Der Spitzname leuchtete ihm ein.
Eine Weile schien keiner von ihnen zu wissen, was er als Nächstes sagen sollte. Stevie ging im Kopf ein paar Möglichkeiten durch – wie etwa Hunter von ihrer Lösung für den Ellingham-Fall zu erzählen oder ihn zu fragen, ob er wirklich glaubte, dass der Hausbrand ein Unfall gewesen war. Sie verwarf sie beide.
»Nate hat doch vorhin irgendwas von Spielen erzählt«, sagte Hunter. »Hättest du vielleicht Lust darauf?«
Stevie blinzelte verwirrt. Mit so etwas Normalem hatte sie jetzt wirklich nicht gerechnet.
»Äh, ja, wir haben welche«, erwiderte sie. »Irgendwo hier …«
»Es gibt nichts Ernsteres im Leben als ein Spiel« war eine von Albert Ellinghams vielen Parolen gewesen und so hatten Spiele von Anfang an einen wichtigen Stellenwert an der Schule eingenommen. Zuerst hauptsächlich Monopoly, aber mittlerweile verfügte jedes Haus über eine kleine Auswahl. Stevie hatte sich nie sonderlich dafür interessiert, aber hin und wieder hatte Nate eines hervorgekramt und sie zu einer Partie überredet.
Immerhin keine schlechte Ablenkung an diesem seltsamen Abend.
Sie fand die Spiele – vier, um genau zu sein – im Schrank mit den Putzsachen und dem Kaminzubehör. Wie eine Opfergabe breitete sie die Auswahl auf dem Tisch aus, wo Hunter sie mit Kennermiene begutachtete.
»Das hier funktioniert besser mit mehr Leuten«, sagte er und schob das erste beiseite. »Das kenne ich nicht, sieht irgendwie ziemlich kompliziert aus. Aber dieses hier …«
Er hob eine kleine Schachtel hoch, die ein mit Zombie-Picknick betiteltes Kartenspiel enthielt.
»Das hier hab ich schon einmal mit Nate gespielt«, sagte Stevie. »Ist echt ganz nett. Da stören einen andauernd Zombies beim Picknicken.«
»Ja, ich kenn’s auch. Na komm, einfach nur hier herumzusitzen ist doch öde. Legen wir los.«
Noch eine halbe Stunde zuvor hätte Stevie es nicht für möglich gehalten, dass sie jetzt ein Kartenspiel spielen würde anstatt, na ja, weinend in ihrem Zimmer zu hocken oder Pläne zu schmieden, wie sie ihren eigenen Tod vortäuschen konnte. Aber das Leben ging nun mal weiter und sei es in Form von kleinen Karten mit Sandwiches, Kartoffelsalat oder Zombies, die Leuten am Kopf herumnagten. Sie war immer noch hier. David war immer noch oben. Noch bestand die Chance, dass sich alles wieder einrenkte.
Für die nächsten ein, zwei Stunden gab es keine Morde. Keinen Fall. Als sie einen Blick auf ihre Uhr warf, war es schon nach Mitternacht. Dann plötzlich zwei Uhr morgens. Sie wurde immer aufgekratzter vor Schlafmangel und Adrenalin und welches Gefühl auch immer auf Traurigkeit folgte. Mit Hunter war es nett und das Spiel war zum Totlachen. Vielleicht hatte Albert Ellingham ja gar nicht so falschgelegen.
Nachdem es erst drei, dann vier Uhr geworden war, beschlossen sie, dass sie jetzt auch weitermachen konnten, bis es hell wurde, und irgendwann verfärbte sich der Himmel von Schwarz und Nachtrosa zu Tagesrosa und Weiß, dann Reinweiß. Die Nacht hatte Hunter und sie zusammengeschweißt und sie fühlte sich ihm durch etwas verbunden, was sie nicht erklären konnte. Für eine Weile war alles in Ordnung. Hin und wieder standen sie auf, lachten über alles und nichts. Machten Popcorn. Hielten die Köpfe aus dem Fenster und ließen sich den Schnee ins Gesicht wehen, um wieder wacher zu werden.
So ging es weiter, bis schließlich Schritte auf der Treppe ertönten und David im Zimmer stand.
»Ach, wie gemütlich«, sagte er.
»Ja, wir …« Hunter sortierte die Karten in seiner Hand. »Wir brauchten mal ein Päuschen.«
David ließ bloß ein lang gezogenes »Hmmmm« vernehmen, verschwand kurz in der Küche und tauchte mit einem ungetoasteten Pop-Tart zwischen den Zähnen wieder auf. Dann setzte er sich in den Hängesessel und drehte sich so lange darin ein, bis das Seil laut knarzte.
»Ich war die halbe Nacht wach und hab deinen Kram gelesen«, sagte Hunter. »Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wonach wir da suchen?«
»Nö«, antwortete David und bremste den sich immer noch drehenden Sessel mit den Füßen. »Nur dass es wichtig ist.«
»Wenn ich also Tabellen mit irgendwelchen Finanztransaktionen vor mir habe …«
David steckte sich den letzten Bissen in den Mund und zuckte mit den Schultern.
»Sehr hilfreich.« Hunter verdrehte die Augen. »Und woher weißt du dann, dass es wichtig ist?«
»Weil mein Dad versucht, was zu vertuschen«, erklärte David schließlich. »Wegen seines ganzen Verhaltens. Wegen tausend Sachen, die er gesagt und nicht gesagt hat. Ich merk’s halt einfach, wenn mein Dad irgendwelchen dubiosen Scheiß am Laufen hat.«
»Aber hat er das nicht immer?«, hakte Hunter nach.
»Irgendwelchen Scheiß auf jeden Fall«, erwiderte David. »Der ist nur nicht zwangsläufig dubios. Doch das hier schon. Was immer auf diesen Sticks ist, wollte er nämlich nicht auf seinem Server haben.«
»Könnte auch alles ganz harmlos sein«, merkte Hunter an.
»Manches davon ist es bestimmt auch. Ein paar von den Sticks sind wahrscheinlich stinknormale Back-ups, darum müssen wir das Interessante eben erst noch finden. Macht doch Spaß.«
»Spaß«, wiederholte Hunter.
»Genau, wie der, den ihr gerade hattet. Ach, Stevie, guten Morgen.«
Stevie bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. David tat nichts ohne Hintergedanken.
Hunter sammelte die Karten ein und klopfte den Stapel auf dem Tisch zurecht, bevor er ihn zurück in die Schachtel schob. »Diese falsche Identität, mit der du dich ins Wahlkampfteam deines Vaters eingeschleust hast …«, begann er dann.
»Du meinst Jim?«
»Genau. Könnte der was für uns machen?«
»Was denn zum Beispiel?«
»Zum Beispiel der Schule mailen und nach dem Testamentsnachtrag fragen?«
David musterte Hunter und brachte es dabei irgendwie fertig, Stevie komplett aus seiner Wahrnehmung auszuschließen. Aber Stevie musste sich sowieso erst mal von dem Schleudertrauma erholen, das ihr diese unerwartete Gesprächswendung verpasst hatte.
»Was für ’n Testamentsnachtrag?«, fragte David.
»Der, laut dem die Person, die Alice Ellingham findet, ein Vermögen erbt«, erläuterte Hunter. »Der, den die Schule niemandem zeigt.«
David legte interessiert den Kopf schief.
»Und warum sollte Jim so was machen? Jim ist ein viel beschäftigter Mann.«
»Ich helfe dir bei deinem Kram«, argumentierte Hunter. »Da könntest du mir ja wohl im Gegenzug auch einen Gefallen tun.«
»Dir?«
»Genau«, antwortete Hunter, ohne auf das, was David wirklich meinte, einzugehen. »Eine Hand wäscht die andere.«
»Und dieser Gefallen soll für dich sein?« David ließ nicht locker.
»Meine Tante war fest davon überzeugt, dass es diesen Nachtrag gibt«, erklärte Hunter. »Ich hätte einfach gern Gewissheit. Ich helfe dir, du hilfst mir.«
Eine Weile reagierte David gar nicht, bevor er wieder anfing, sich in dem Sessel einzudrehen. Stevie war auf einen Schlag hellwach und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
»Blöderweise funktioniert das WLAN nicht«, wandte David ein. »Also, selbst wenn Jim so eine Mail schreiben würde, weiß ich nicht, wann die tatsächlich rausginge. Und warum sollte die Schule so was überhaupt Jim verraten, wenn sie es sonst keinem sagen?«
»Ich glaube, es ist nicht so, dass sie es keinem sagen«, antwortete Hunter. »Nur vielleicht nicht jedem.«
Stevies Gehirn war so vernebelt, dass es einen Moment dauerte, bis sie begriff, worauf er hinauswollte.
»Die Mitglieder des Vorstands«, sagte sie. »Es muss schon allein von Rechts wegen Leute geben, die davon wissen.«
»Genau«, antwortete Hunter. »Vielleicht fällt uns ja zusammen ein Grund ein, warum sich Senator King dafür interessieren könnte …«
Hunter schien einen Plan zu haben. Stevies Hirn raffte sich ein letztes Mal für diese Nacht zu irgendeiner Denkaktivität auf.
»Das müsste ihn doch einfach wegen der ganzen Berichterstattung interessieren«, fand sie. »Schließlich geht sein Sohn auf diese Schule und hier sind Leute gestorben. Vielleicht braucht man gar keine so ausführliche Erklärung.«
»Meine Eltern sind beide Anwälte«, sagte Hunter. »In so einer Mail muss man im Prinzip nur ganz kurz angebunden sein und es klingen lassen, als hätten alle gefälligst zu tun, was man von ihnen verlangt. Nur das Nötigste schreiben, dann sollte das funktionieren.«
David kratzte sich am Ellbogen und rieb sich über sein stoppeliges Kinn. Ein Dreitagebart. Stevie musste sich zusammenreißen, um nicht allzu auffällig daraufzustarren oder auf seine Beine, die er jetzt ausstreckte. Die menschliche Sexualität war schon etwas Erstaunliches – Verwirrendes, Schreckliches –, so wie sie mühelos all ihre Gedanken wieder durcheinanderwürfelte, die sie gerade so schön geordnet hatte. Konzentrier dich.
»Wie sieht’s aus, schreibst du die Mail?«, fragte sie David. Sie blickte ihm direkt in die Augen. Forderte ihn heraus.
»Noch mal: Ich brauche einen Grund.«
»Du hättest auch was gut bei mir.«
Er lachte lauthals auf.
»Und außerdem würden wir deinem Dad damit noch ein bisschen mehr das Leben schwer machen«, fügte Hunter hinzu. »Wenn du schon diesen Jim erfindest, warum ihn dann nicht auch nutzen?«
Stevie konnte es regelrecht hinter Davids Stirn rattern hören.
»Na schön«, erklärte er sich schließlich einverstanden. »Ihr sagt mir, was ich schreiben soll, und ich mach’s. Aber dann musst du auch weiterlesen«, wandte er sich an Hunter. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Jims Mail stand:
Ich schreibe Ihnen heute im Auftrag von Senator King. Nachdem uns Hinweise darauf erreicht haben, dass ein Rechtsdokument existiert, in dem derjenigen Person, die Alice Ellingham ausfindig macht, eine beträchtliche Aufwandsentschädigung garantiert wird, bittet der Senator, ihm Einblick in das betreffende Schriftstück zu gewähren. Zudem möchte der Senator über alle die Schule betreffenden Ereignisse auf dem Laufenden gehalten werden und verweist nachdrücklich darauf, dass eine derartige Testamentsklausel auf keinen Fall an die Öffentlichkeit dringen darf.
Ich bedanke mich für Ihre Kooperation und verbleibe mit freundlichen Grüßen
J. Malloy
»Schön kurz«, sagte Hunter. »Bloß nicht zu weit ausführen. Dann klingt man wichtig, so als hätte man es einfach nicht nötig, sich groß zu erklären.«
»Sympathischer Typ, dieser Jim«, befand David, als er fertig getippt hatte. »Okay. Ich schick’s ab, sobald ich wieder Netz habe. Und, machst du jetzt mit dem Stick weiter?«
Hunter erhob sich wortlos und setzte sich zurück aufs Sofa, wo noch immer das Tablet lag.
Mit einem Mal übermannte Stevie die Erschöpfung. Ihre gemütliche Seifenblase zerplatzte und es war, als würde sämtliche Luft aus dem Raum gesaugt. David drehte sich wieder in seinem Sessel und draußen heulte der Wind. Sie wurde hier nicht mehr gebraucht.
»Ich geh ins Bett«, verkündete sie.
David folgte ihr in den Flur.
»Willst du irgendwas?«, blaffte sie ihn an.
»Ich gehe bloß rauf, mein Ladekabel holen«, erwiderte er. »Ich hab nämlich die ganze Nacht USB-Sticks gelesen. Aber schön, dass ihr euch amüsiert habt.«
Stevie umklammerte ihren Türknauf so fest, dass sie fürchtete, ihn abzureißen.
»Es geht eben nicht immer nur um dich«, entgegnete sie.
Dann verschwand sie in ihrem Zimmer und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.